
"Sie verschonen niemanden" - Wie Menschen in Russlands meistbeschossener Stadt leben

Von Marija Marikjan
"Sie gab ihr Leben dem Rettungsdienst"
"Ihr ganzes Leben widmete Olga Nikolajewna der Medizin, der Rettung von Menschen, wofür sie mit dem Brustabzeichen 'Verdienter Mitarbeiter des Gesundheitswesens' ausgezeichnet wurde. Und mit dem Tapferkeitsorden – posthum."
Am Eingang der Rettungswache hängt eine Gedenktafel für Olga Gorbowskaja, Rettungssanitäterin eines Notfallteams in Gorlowka. Im Januar 2024 war sie zu einem Einsatz unterwegs – Artilleriebeschuss, Energiearbeiter. Mit ihr fuhren außer dem Fahrer zwei Sanitäter. Ihre Kollegin Swetlana berichtet:
"In der Siedlung Golmowski wurde das Team von einer Drohne angegriffen. Zuerst konnten sie entkommen – sie hielten an, warteten in einem Versteck und setzten den Weg fort. Aber die Drohne holte sie doch noch ein. Die Sanitäter und der Fahrer wurden von Splittern getroffen, Olga starb noch vor Ort. Für uns ist das ein riesiger Verlust. Olga gab ihr ganzes Leben dem Rettungsdienst und war für alle ein Vorbild."
Der Fahrer und ein Sanitäter, die wie durch ein Wunder überlebten, kündigten nach dem Vorfall. Die Leitung zeigte Verständnis. Der zweite Sanitäter blieb.

Notrufe kommen aus verschiedenen Stadtteilen, aber nicht überall kann man hinfahren. In Golmowski zum Beispiel versucht man, nicht mit einem Rettungswagen zu erscheinen. Der Fahrer Roman erklärt:
"Sobald etwas passiert, schalten sich Militärangehörige ein. Sie bringen den Patienten an einen bestimmten Punkt, wo wir ihn abholen. So ist es für alle sicherer."
An gefährliche Orte fahren die Sanitäter in voller Kampfausrüstung – Helme, Schutzwesten, der Wageninnenraum ist mit Splitterschutzmatten ausgekleidet. Ein Drohnendetektor ist Pflicht. Und seit über einem Jahr sind an den Fahrzeugen Systeme zur elektronischen Kampfführung (Eloka-Anlagen) installiert. Roman gesteht:
"Bessarabka, Kurganka, Komsomolez, Stroitel, Domowaja Kuchnja – wenn ein Notruf von dort kommt, rüsten wir uns aus. Jeder Einsatz ist unvorhersehbar, man weiß nicht, was einen erwartet. Sobald der Detektor fünf 'Striche' anzeigt, bremse ich, verstecke das Fahrzeug – und ab in die Deckung. So war es vor Kurzem, als wir einen jungen Mann mit Wirbelsäulenbruch abholten: Wir schlüpften in eine Gasse mit dichtem Laub und warteten, bis die Drohne wegflog. Ein schrecklicher Ort – Artillerie und Gewehrfeuer von allen Seiten …"
"Das war ein Schock für uns"

Das gesamte Personal der Rettungswache sind Einwohner von Gorlowka. Sie hätten sich evakuieren lassen können, zogen es aber vor, zu bleiben.
In den Pausen zwischen den Einsätzen tauschen die Sanitäter Erinnerungen aus. Die Rettungssanitäterin Anna Krassilowa erlebte den ersten Beschuss Gorlowkas am 27. Juli 2014 während ihres Dienstes. An jenem Tag bombardierte das ukrainische Militär das Stadtzentrum aus Grad-Raketenwerfern. Die Menschen wussten noch nicht, wie sie sich auf der Straße zu verhalten hatten, viele reagierten zu spät. Es gab Dutzende Verletzte und 13 Tote, darunter die 23-jährige Kristina Schuk mit ihrer zehn Monate alten Tochter – die "Madonna von Gorlowka". Anna erinnert sich:
"Zuerst gingen wir zu einer Frau, der ein Arm abgerissen wurde. Aber auf dem Platz wurden wir aufgehalten – wir eilten zu einem Mann ohne Bein, der aus der Oberschenkelarterie blutete. Nach wenigen Minuten trafen andere Teams ein und begannen, allen anderen zu helfen."
Schon unzählige Male hat sie derartiges erlebt.

Mehrmals war das Team dem Tod nur um Haaresbreite entronnen. Einmal fuhren sie zu einem fünfstöckigen Haus, das beschossen worden war. Unterwegs explodierte eine Granate in der Nähe, der gesamte Wagen wurde von Splittern durchsiebt, einige durchschlugen den Innenraum, ohne die Insassen zu treffen. Sie erreichten den Ort und zogen ein verletztes Ehepaar heraus.
Einmal hinderte eine Drohne sie aktiv daran, sich dem Einsatzort zu nähern. Die Sanitäter mussten unterwegs mehrmals anhalten:
"Schließlich flog dieser Quadrokopter in einen vorbeifahrenden Pkw. Von den vier Insassen dort überlebte nur einer."
Allmählich stumpft das Gefühl der Gefahr ab, gesteht die Sanitäterin:
"Du steigst ins Auto zu einem Einsatz für einen Verwandten oder einen nahestehenden Menschen – und tust alles, um sie zu retten. Sicher hat man Angst, aber man gewöhnt sich daran."
"Sie lassen den Nächsten nicht im Stich"
Kein Tag vergeht, an dem Gorlowka nicht in den Lageberichten auftaucht. Meist sind es Drohnen, aber es treffen auch schwerere Geschosse ein. So auch kürzlich, als Anna mit Kollegen in den Stadtteil Bessarabka fuhr, der mit Streumunition beschossen worden war. Sie waren als Erste vor Ort. Die Sanitäterin berichtet:
"Im Hof lag eine bewusstlose Frau mit zahlreichen Splitterverletzungen. Gleichzeitig wurde geschrien – es gab noch zwei weitere Personen mit Beinverletzungen. Wir leisteten Erste Hilfe, begannen zu verladen. Feuerwehrleute kamen an und halfen uns beim Verladen des Dritten. Glücklicherweise kamen alle lebend an. Man muss sagen, dass Augenzeugen und Nachbarn in solchen Fällen trotz des Risikos neuer Einschläge zu Hilfe eilen. Sie lassen den Nächsten nicht im Stich."
An zweiter Stelle für Ursachen der Einsätze stehen wegen Beschuss: Herzinfarkte und Schlaganfälle. Solch schwerwiegende Reaktionen treten sogar bei Jugendlichen auf. Anna erklärt:

"Das hängt damit zusammen, dass Menschen ständig unter Stress leben. Wir sprechen mit den Eltern kranker Kinder – Probleme haben meist diejenigen, die Bombardements erlebt haben. Zerstörung, Granaten, die in der Nähe einschlugen: Die Stresssituationen haben ihre Gesundheit erschüttert. Und alle fahren ausnahmslos nirgendwohin. Nicht weil sie nirgendwo hinzugehen haben. Sie wollen ihre Häuser nicht zurücklassen."
Pro Tag hat ein Team acht bis 15 Einsätze. Gleichzeitig sind mehrere Fahrzeuge unterwegs. "Wiederholter Schlaganfall, kardiogener Schock, hypertensive Krise zweiten Grades", zählt Anna Patienten auf, die sie am Vormittag besuchten.
Besonders gefährlich wird es gegen Abend, wenn die Drohnen den Himmel beherrschen. Die Sanitäter arbeiten auch nachts. Sie haben eine Regel: Sie wünschen einander nie eine "gute Schicht". Das, so sind sie überzeugt, bringe unweigerlich Ärger.
Und sie träumen nur von einem: dass die Kampfhandlungen enden und das friedliche Leben zurückkehrt. Bis dahin aber reißen sie sich zusammen und arbeiten im gewohnten Rhythmus weiter.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 28. Juli bei RIA Nowosti.
Mehr zum Thema – "In den Schützengräben hat man weniger Angst": Alltag in Gorlowka
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