Russland

Was Oreschnik zu einer grundlegend neuen Waffenart macht

"Ein historisches Ereignis auf dem Gebiet der Raketen- und Raumfahrt." Mit diesen Worten charakterisierte Präsident Wladimir Putin das Erscheinen der neuesten russischen Rakete Oreschnik. Aber was genau sind die Merkmale, die die einzigartigen Fähigkeiten dieses Waffentyps ausmachen?
Was Oreschnik zu einer grundlegend neuen Waffenart machtQuelle: Sputnik © Michail Mokruschin

Von Alexei Anpilogow

Das Raketensystem Oreschnik ähnelt nur auf den ersten Blick den ballistischen Mittelstreckenraketen (MRBM) aus der Sowjetära. Tatsächlich hat die russische Rüstungsindustrie einen bedeutenden Schritt nach vorn gemacht und eine Waffe geschaffen, die Russland grundlegend neue Kampffähigkeiten verleiht. "Oreschnik ist nicht das Ereignis des Jahres, sondern ein historisches Ereignis im Bereich der Raketen- und Raumfahrt. So etwas hat es bei dieser Art von Waffen noch nie gegeben", hob der russische Präsident Wladimir Putin Ende letzter Woche die Bedeutung der neuen Waffe hervor.

Um die technische Perfektion der ballistischen Mittelstreckenrakete Oreschnik zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die Videoaufnahmen des Einschlags dieser Rakete von mehreren Standorten aus in das Werk von Juschmasch am 21. November 2024 zu werfen. Das Video vermittelt zunächst eine Vorstellung vom Aufbau des Gefechtskopfes dieser Rakete. Wir sehen den Einschlag von sechs Paketen mit jeweils sechs Sprengköpfen, was insgesamt eine Nutzlast von 36 Sprengköpfen ergibt. Dies ist an sich schon ein Novum – noch nie in der Geschichte der Raketen- und Raumfahrtindustrie wurden Raketen mit Dutzenden von trennbaren Sprengköpfen gebaut, die sogar selbstgesteuert sind.

Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums waren die Oreschnik-Gefechtsköpfe inert, das heißt, sie enthielten keinen Sprengstoff, und waren Attrappen von Kampfgeschossen. Dennoch waren die Oreschnik-Sprengköpfe auch in dieser Konfiguration mit allen üblichen Hitzeschutz- und Manövriersystemen ausgestattet.

Der Hitzeschutz ist ein zentrales Thema. Die Geschwindigkeit von Oreschnik-Geschossen, die sie bei der Annäherung an das Ziel haben, ist bekannt – sie beträgt Mach 10 (die zehnfache Schallgeschwindigkeit, etwa 3,4 Kilometer pro Sekunde). Die ukrainische Seite schätzt, dass die Geschwindigkeit sogar Mach 11 (mehr als 3,7 Kilometer pro Sekunde) beträgt. Die meisten Interkontinentalraketen und ballistische Mittelstreckenraketen zeichnen sich durch eine geringere Wiedereintrittsgeschwindigkeit des Sprengkopfes in die Atmosphäre aus, die zwischen Mach 3 und Mach 5 liegt. Bei solchen Geschwindigkeiten ist die Erwärmung der Hülle des ballistischen Flugkörpers gering. Mit der Geschwindigkeit steigt jedoch die Temperatur des Gefechtskopfes.

Für Oreschnik haben russische Konstrukteure also Materialien entwickelt, die diesen Temperaturen standhalten können, und das ist wirklich eine herausragende Leistung. Bisher war die Menschheit nicht in der Lage, so etwas zu schaffen; bei solchen Geschwindigkeiten würden die üblichen Kampfeinheiten ihre Steuerbarkeit verlieren oder sich einfach selbst zerstören.

Dank dieser Materialien war es möglich, die Geschwindigkeit der Sprengköpfe zu erhöhen und die kinetische Energie zum Hauptschlagfaktor von Oreschnik zu machen. Daher kann die Rakete jeden geschützten Bunker oder jede unterirdische Fabrik treffen, wobei die Sprengladung bis in eine beträchtliche Tiefe vordringt und dank des Systems der individuellen Steuerung der Geschosse punktgenau ist.

Die zweite Errungenschaft von historischem Ausmaß ist die Unverwundbarkeit der Oreschnik in der Konfrontation mit Luftabwehrsystemen. Am 19. Dezember bot Präsident Putin dem Westen ein "Hightech-Duell des 21. Jahrhunderts" an: Man solle ein Ziel in Kiew wählen, alle Luft- und Raketenabwehrsysteme westlicher Hersteller im Voraus dort konzentrieren und dann versuchen, den Angriff unserer Rakete abzufangen. Drei solcher Systeme wurden in der Rede des Präsidenten erwähnt: das MIM-104 Patriot PAC-3 SAM-System, das THAAD SAM-System und das Aegis Ashore-Raketenabwehrsystem, eine landgestützte Version des schiffsgestützten Aegis-Systems, das in zwei Stellungsgebieten in Rumänien und Polen stationiert ist.

Diese Systeme haben keine Chance, Oreschnik zu erwischen, wenn sie sich in der Startphase ihrer Flugbahn befindet und am verwundbarsten ist. Die Startreichweite von Oreschnik beträgt mehr als 5.000 Kilometer und entspricht einer ballistischen Rakete mittlerer Reichweite, während die maximale Reichweite des westlichen Raketenabwehrsystems mit der größten Reichweite, Aegis Ashore, nicht mehr als 1.200 Kilometer beträgt.

Am Scheitelpunkt der ballistischen Flugbahn könnte die Oreschnik-Rakete theoretisch in ihrer Transport-Stufe von einer SM-3-Rakete des Aegis-Ashore-Systems abgefangen werden. In der Praxis geht die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses jedoch gegen null. Wie der Präsident es ausdrückte, brauche man Zeit, um eine solche Strecke zurückzulegen und die Rakete zu treffen, diese Stufe dauere bei der russischen Rakete jedoch nur "ein paar Sekunden", bis die Sprengköpfe voneinander getrennt werden – "und dann ist der Zug abgefahren", so Putin.

Die Hyperschall-Sprengköpfe der Oreschnik-Rakete "tauchen" nämlich nach dem Überschreiten des Apogäums sofort in die Atmosphäre ein, woraufhin THAAD und Aegis Ashore sofort aus dem Spiel ausscheiden. Ihre Raketen sind nur dafür ausgelegt, Ziele außerhalb der Atmosphäre abzufangen, in der dichten Atmosphäre sind sie zu keinen komplexen Manövern in der Lage.

Die Patriot PAC-3 kann die Oreschnik-Sprengköpfe auch aus einem anderen Grund nicht treffen – ihre Raketen sind in der Atmosphäre zu langsam. Die Patriot in der Modifikation MIM-104F (PAC-3) ist nur in der Lage, Ziele mit einer Geschwindigkeit von nicht mehr als 1.600 Meter pro Sekunde und in einer Höhe von bis zu 40 Kilometern abzufangen. Während Oreschnik diese 40 Kilometer Höhe in einer Zeit von etwa zehn Sekunden mit einer Geschwindigkeit von mehr als 3.700 Meter pro Sekunde fliegt.

Schließlich ist noch eine weitere, bereits geostrategische Bedeutung der Oreschnik-Rakete zu erwähnen. Mit einer potenziellen Reichweite von mehr als 5.000 Kilometern ist Oreschnik in der Lage, von russischem Territorium aus Ziele in ganz Europa, einschließlich Portugal, Großbritannien und Skandinavien, sowie im Nahen Osten und Nordafrika zu treffen.

Im pazifischen Raum liegen nicht nur ganz Japan und Südkorea, sondern auch die US-amerikanischen Stützpunkte auf Guam und Okinawa in ihrer Reichweite. Und wenn sie von Tschukotka aus abgefeuert wird, kann die Rakete die gesamte Pazifikküste der USA bis nach Los Angeles erreichen.

Die einzige Möglichkeit, den Start der Oreschnik-Rakete zu verhindern, ist ein Präventivschlag auf die selbstfahrende Abschussrampe. Dazu müsste der Feind sie aber erst einmal in den russischen Weiten finden.

Gleichzeitig werden die Kosten für eine solche Mittelstreckenrakete viel niedriger sein als die einer Interkontinentalrakete, insbesondere in Bezug auf die gelieferte Tonne Gesamtgewicht. Und die Massenproduktion wird die Kosten für den Einsatz von Oreschnik-Raketen näher an die Kosten für operativ-taktische Raketen wie Kinschal und Iskander heranbringen.

Den Angaben zufolge verfügt Russland bereits über einen Vorrat an einsatzbereiten Systemen für Oreschnik. Wenn sie in Gruppen eingesetzt werden, wird der Schaden für den Feind mit dem einer Atomwaffe vergleichbar sein. Dies ist ein weiteres einzigartiges militärtechnisches Merkmal dieser Rakete, das bisher unvorstellbar war.

Mit der Oreschnik-Rakete erlangte Russland die Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung mit nichtnuklearen Mitteln, was zuvor ebenfalls unvorstellbar war.

Vor Oreschnik gab es eine beeindruckende Kluft zwischen konventionellen und nuklearen Waffen, wo konventionelle Waffen nicht mehr helfen konnten und nukleare Waffen zu mächtig waren. Nun bedeutet der mögliche künftige Einsatz von Oreschnik-Raketen gegen die westlichen Verbündeten der NATO keinen sofortigen Übergang der bewaffneten Konfrontation zu einem globalen thermonuklearen Konflikt. Und das ist der Sinn jeglicher Abschreckung – den Feind durch die Androhung inakzeptabler Verluste auf der bestehenden Sprosse davon abzuhalten, auf der Eskalationsleiter noch weiter "nach oben zu steigen".

Und ja, die Welt ist in diesem Szenario bereits de facto multipolar geworden, weil China, die Demokratische Volksrepublik Korea und Iran allem Anschein nach schneller als die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten Analoga der Oreschnik-Rakete entwickeln werden. Genauso wie sie ihre manövrierfähigen Hyperschallwaffen vor den US-Amerikanern entwickelt haben. Die historische Bedeutung von Hyperschallwaffen, deren nächster Schritt der Perfektionierung Oreschnik war, werden wir erst viel später und postfaktisch in vollem Umfang begreifen. Die Hauptsache ist, dass Russland den ersten Schritt in diese Richtung getan hat.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 23. Dezember 2024 auf der Webseite der Zeitung "Wsgljad" erschienen.

Alexei Anpilogow ist ein russischer Autor.

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