Russland

Am Jahrestag des Nazi-Überfalls: Leiter des russischen Ermittlungskomitees kritisiert Deutschland

Der Leiter der russischen Ermittlungsbehörde kritisierte die Weigerung Deutschlands, die Belagerung Leningrads als Völkermord anzuerkennen. Im Gespräch mit RIA Nowosti schilderte er außerdem die neuesten ermittelten Fälle deutscher Massenverbrechen auf russischem Territorium. Diese Tatsachen seien unbegreiflich, so der russische Jurist nach 80 Jahren.
Am Jahrestag des Nazi-Überfalls: Leiter des russischen Ermittlungskomitees kritisiert DeutschlandQuelle: Sputnik © Konstantin Michaltschewski

Die von der Russischen Föderation erlangten Informationen über die Verbrechen der Nazi-Invasoren während des Großen Vaterländischen Krieges könnten die Grundlage für Zahlungen an die Angehörigen der Nazi-Opfer werden, sagte der Vorsitzende des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation Alexander Bastrykin in einem Interview mit RIA Nowosti. Er bezeichnete die Weigerung Deutschlands, Reparationszahlungen an die Überlebenden der Belagerung Leningrads zu leisten, als eine "Politik der Doppelmoral".

Ihm zufolge erkennt die Bundesrepublik Deutschland die historische Verantwortung für die von der deutschen Wehrmacht in Leningrad begangenen Verbrechen an. Die Forderung der Überlebenden der Leningrader Blockade, die humanitären und Entschädigungszahlungen für jüdische "Blokadniki" (so werden Überlebende der Blockade bezeichnet - Anm. der Red.) auf alle anderen noch lebenden Blokadniki auszuweiten, wurden jedoch abgelehnt.

"Gleichzeitig hatte Deutschland zuvor zugestimmt, hohe Summen an Namibia für den Völkermord an mehreren Stämmen zu zahlen. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen", sagte Bastrykin.

Die Bundesregierung verweigert die Entschädigung der nicht jüdischen Überlebenden mit der Begründung, es habe sich bei der Blockade um eine "allgemeine Kriegshandlung" gehandelt. 

Im Oktober 2022 hatte das St. Petersburger Stadtgericht über den Antrag der Staatsanwaltschaft entschieden, die Belagerung Leningrads als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord an der sowjetischen Bevölkerung anzuerkennen. Während des Prozesses war beschlossen worden, die Zahl der durch die Blockade Verstorbenen, einschließlich der Spätfolgen (Hunger, Krankheiten), auf 1.093.000 Menschen festzulegen. Landgerichte von 20 russischen Regionen haben inzwischen die Verbrechen der Wehrmacht in ihrer Regionen ebenfalls als Völkermord anerkannt. 

Allgemeinen Schätzungen zufolge waren insgesamt rund 80 Millionen Sowjetbürger von der Tragödie der deutschen Besatzung betroffen gewesen. Knapp 13,7 Millionen von ihnen waren ums Leben gekommen, in die Sklaverei entführt worden oder hatten des Hungertodes sterben müssen. Auf die Frage der Agentur, ob Russland die Frage nach neuen Reparationen wegen des deutschen Genozids an slawischen Völkern stellen würde, antwortete Bastrykin, das Ermittlungskomitee habe viele unbekannte Fakten über die Verbrechen der Nazi-Invasoren ermittelt, die bei der Festlegung der Zahlungen nicht berücksichtigt worden waren. Er könne daher nicht ausschließen, dass diese Informationen sowohl zur Rechtfertigung zusätzlicher Zahlungen an Angehörige von Opfern des Nationalsozialismus in verschiedenen Regionen Russlands als auch zur Entschädigung für den entstandenen Schaden verwendet werden könnten.

Im Interview schilderte der russische Behördenchef mehrere Fälle ermittelter deutscher Verbrechen am Sowjetvolk auf dem heutigen Territorium Russlands. So hatten die Invasoren im Jahr 1941 im Dorf Mikulino im Gebiet Moskau einen Massenmord an mehr als 500 Patientinnen des regionalen psychiatrischen Krankenhauses Lotoschinski verübt. Die Frauen waren durch Verhungern, Erfrieren, Vergiftung mit Giften und Gas sowie durch Erschießen gestorben. Im Jahr 2022 wurde auf dem Gelände des Moskauer regionalen psychiatrischen Krankenhauses Nr. 12 ein Massengrab mit Knochenresten an der Stelle entdeckt, an der die Patientinnen erschossen worden waren.

In der Region Brjansk hatten die Besatzer die Einwohner des Dorfes Chatsun massakriert. Allein im Oktober 1941 hatten die Deutschen auf Befehl des NS-Kommandos 318 Zivilisten getötet, darunter 60 Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren. Es hatte auch ein Verlegungslager für Kriegsgefangene und Zivilisten namens Dulag-142 gegeben, in dem mindestens 80.000 Menschen festgehalten worden war, von denen die Hälfte gefoltert und verscharrt worden war. Bei Befragungen erinnerten sich die Menschen daran, dass sie auf dem Betonboden hatten schlafen müssen und dass täglich zwischen 100 und 500 Leichen aus dem Lager gebracht worden waren. Insgesamt hatten die Nazis und ihre Helfershelfer während der Besatzung der Region Brjansk rund 278.000 sowjetische Zivilisten und Kriegsgefangene ermordet, wie aus den verfügbaren Daten hervorgeht.

"Die Tatsachen, von denen wir nun erfahren werden, können nur als ungeheuerlich bezeichnet werden", betonte Bastrykin. Es sei unbegreiflich, wie jemand auf unbewaffnete Menschen, insbesondere auf Kinder, schießen kann, es sei einfach entsetzlich.

Die Position Deutschlands in der Frage des Genozids am Sowjetvolk führte in den letzten Monaten zu diplomatischen Verwerfungen. Insbesondere die Aufteilung der Opfer der Blockade nach ihrer ethnischen Herkunft rief harsche Kritik Moskaus hervor. Laut dem russischen Außenminister Sergei Lawrow riecht Berlins Haltung "nach Überheblichkeit", die eine Nation dazu bringen könne, Vorstellungen von Außergewöhnlichkeit zu hegen.

Der russische Chefermittler Bastrykin brachte die Position der Bundesregierung mit der westlichen Politik der Umschreibung der Geschichte in Verbindung. Im Westen werde beispielsweise nicht an Hitlers Plan zur Massenvernichtung der sowjetischen Zivilbevölkerung erinnert, wobei Millionen sowjetische Tote vergessen werden. "Die Weigerung Deutschlands, die Belagerung Leningrads als Völkermord anzuerkennen, spricht Bände", sagte er.

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