Scott Ritter: Syrskis "taktischer Rückzug" aus Raum Awdejewka Vorbote strategischen Rückzugs
Oberst a.D. Scott Ritter, ehemals Aufklärungsoffizier der US-Marineinfanterie, ordnet die Ankündigung des ukrainischen Oberkommandierenden Alexander Syrski, einen taktischen Rückzug der Truppen im Raum Awdejewka durchführen zu müssen, in den militärlogistischen Kontext ein.
Diese Äußerung bedeute, dass dem ukrainischen Militär die Kraft fehle, seine Stellungen an der Frontlinie zu halten, sagte Ritter in einem auf dem YouTube-Kanal von Danny Haiphong veröffentlichten Interview.
"Die Ukrainer zum Rückzug zu zwingen, erfordert schon einiges. Und allein die Tatsache, dass wir über einen Rückzug sprechen, bedeutet eine schreckliche Verschlechterung der Lage der Ukraine."
Positionskrieg nämlich, so deutet Ritter an, ist als Begriff zwar immer noch teils auf den Charakter der aktuellen Kampfhandlungen im Ukraine-Krieg anwendbar – passt aber eben doch nicht mehr nahtlos dazu:
"Alle sprechen immer vom Stellungskrieg (…) Denn die Dichte der Artillerie, der Landminen, der Panzerabwehrwaffen macht die traditionellen, groß angelegten Angriffe nicht praktikabel. Darum ist dieser Krieg zu einer Abfolge von Streifzügen der Seiten gegeneinander ausgeartet, die mit kleineren Infanterietrupps durchgeführt und auf kleinere Aufgebote von Panzerfahrzeugen gestützt sind, mit sehr begrenzten Zielen – zum Beispiel den nächsten Forststreifen einzunehmen oder ein paar Gebäude in einem Dorf. Einzunehmen und zu sichern – sprich, sich zu befestigen, sich einzugraben. Und dann sehen sie, was die Ukrainer daraufhin tun. Und die Ukrainer beginnen dann einen Gegenangriff – woraufhin die Angreifer sich auch einmal zurückziehen können, anstatt die neue Linie bis zum Tod zu halten."
Soweit die Ähnlichkeiten. Die Unterschiede zeichnen sich in diesem neuen Tenor in den Äußerungen des hohen ukrainischen Kommandos ab, und das hat Gründe:
"Dass Syrski jetzt neuerdings von einem Rückzug spricht – das ist etwas Neues, es bedeutet, dass die Ukrainer das Halten einer Frontlinie, wie sie jetzt gegeben ist, nicht mehr gewährleisten können. Ihnen fehlen die Kräfte.
Sprich, wenn die Russen jetzt vorrücken und diesen einen Forststreifen einnehmen, können die Ukrainer keine Gegenangriffe mehr auf die Beine stellen."
Dies erklärt der Ex-US-Offizier mit akutem Personalmangel bei den ukrainischen Streitkräften – so akut in der Tat, dass hier bereits Domino-Effekte greifen:
"Übler noch: Die Ukrainer haben nicht einmal mehr genug Militärpersonal, um auf die nächst hintere Stellungslinie zurückzufallen. Dann nehmen die Russen eben den nächsten Forststreifen ein und den nächsten – und dann haben sie plötzlich die zweite Verteidigungslinie durchbrochen. Dann sind sie meinetwegen in einem Dorf, das auf einem Wasserscheidekamm steht.
Klar ist das Ganze eher langsam, denn so schlecht es um die Ukrainer steht: Sie haben immer noch Artillerie, FPV-Kamikaze-Drohnen – nicht in überwältigenden Mengen, aber gib ihnen ein Ziel und sie werden es treffen, darum konzentrieren die Russen ihre Kräfte auch nicht. Sie gehen bei ihren Offensivaktionen immer noch abschnittsweise vor, sehr langsam.
Doch die Ukrainer sehen trotzdem, wie sich das Ganze entwickelt, sie sind nicht blöd, stellen die passenden militärischen Berechnungen an. Und dann heißt es plötzlich: 'Die Russen sind uns hier in die Flanke eingefallen, uns fehlt die Artilleriefeuerkraft oder das Personal, um dies zu unterbinden. Wir haben also gar keine Wahl, wir können kein Personal verheizen – und wenn wir die Truppen, die schon dort sind, nicht verlieren wollen, müssen wir sie zurückziehen, um die Linien neu zu formieren.'
Zum Beispiel muss man weniger Kräfte entlang einer geraden Frontlinie dislozieren als entlang einer wellenförmigen – und die Ukrainer sehen, wie die Russen ihr Ding mit einer chaotisch verlaufenden, windungsreichen Frontlinie durchziehen, weil sie genug Personal haben, um sie zu besetzen – im Gegensatz zu den Ukrainern."
Deswegen, erklärt Ritter, sind von General Syrski nun zunehmend Worte über taktische Rückfälle auf leichter zu verteidigende Stellungen zu hören. Allerdings sei nach Andeutung des Obersts a.D. der Personal- wie der Materialmangel beim ukrainischen Militär mittlerweile so weit fortgeschritten, dass Kiew auch dies letztlich nicht weiterhelfen werde:
"Das Problem dabei: Es mag ja wie ein taktischer Rückzug anmuten, doch auch sobald sie an ihren neuen Verteidigungsstellungen angekommen sind, sind sie immer noch außerstande, die Front dort einzufrieren und die Russen zurückzuhalten. Dann werden sie sich erneut zurückfallen lassen müssen. Nach einer Reihe taktischer Rückzüge aber sieht das Ganze urplötzlich wie ein strategischer Rückzug aus.
Und ich denke, wir erleben jetzt die Anfangsphase einer ganzen Reihe taktischer Rückzüge – und damit also eines strategischen Rückzugs."
Weiter deutet der Aufklärungsoffizier mit Verweis auf Quellen im russischen Militär an, dass Russland hierauf baue, um nicht nur den gesamten Donbass zu befreien, sondern auch zum Beispiel die ukrainisch besetzten Territorien im Gebiet Saporoschje oder das Gebiet Charkow. Ritter prognostiziert:
"Sobald dies vollendete Tatsachen sind und danach die Russen ihrerseits die Front begradigt haben, sind der Rest des Gebiets Cherson dran, die Gebiete Nikolajew und Odessa."
Bereits diesen Sommer würde die Welt Zeuge der so umrissenen Ereignisse werden, prognostiziert Oberst Ritter. Dies mag etwas optimistisch anmuten – doch seinerzeit leitete Ritter im ersten Irak-Krieg als Stabsoffizier bei General Norman Schwarzkopf die Aufklärungsoperation Cabbage Patch mit, bei der irakische Scud-Raketenwerfer mit – so befürchtete man damals – chemischen Gefechtsköpfen ausgekundschaftet wurden, und war später immerhin als UN-Waffeninspekteur ebenfalls im Irak unterwegs. Der Aufklärungsoffizier muss sich beim abschließenden Satz sichtlich das Lachen verkneifen:
"Wenn Syrski so etwas einen taktischen Rückzug nennen will – na ja, sei's drum."
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