Russland

Soft Power ade: Der Westen hat sein wichtigstes Instrument der Einflussnahme auf Russland verloren

Für eine sehr lange Zeit fragten sich die Menschen in Russland, wie das Leben im Westen so ist. Eine Art Neid und der Wunsch auf ein besseres Leben beherrschten den Diskurs im Land. Dies ist nun Geschichte, da der Westen sich selbst zugrunde richtet.
Soft Power ade: Der Westen hat sein wichtigstes Instrument der Einflussnahme auf Russland verloren© Getty Images / Grant Faint

Von Maxim Sokolow

Der in letzter Zeit populäre Begriff "Soft Power" (zu Deutsch: weiche Macht) impliziert, dass (im Gegensatz zu gewöhnlicher, roher Gewalt) bei dieser Einflussnahme wahrscheinlich niemand in der Lage sein sollte, sich Sanktionen zu widersetzen, geschweige denn Flugzeugträgern. Soft Power ist etwas, dem man bereitwillig und mit Freude gehorcht. Ein Zugeständnis, das durch diese Art von Einfluss erreicht wurde, sieht man nicht als Beugung vor einem überlegenen Druck, sondern als eine rationale Lösung im eigenen Interesse an.

Das Vorhandensein des Mechanismus dieser weichen Macht beschrieb der russische Schriftsteller Iwan Turgenjew in der Schulbucherzählung "Chor und Kalinytsch" noch im 19. Jahrhundert (1852). Darin erfährt Chor, ein Pachtbauer des Gutsbesitzers Polutykin, im Gespräch mit dem Erzähler, dass dieser "im Ausland war", und "seine Neugierde flammte auf". Chor interessierten Fragen im Bereich der Verwaltung und des Staates, daher fragte er seinen Gesprächspartner, ob das Leben im Ausland "so wie bei uns oder anders" sei. Der Bauer kommentierte die erhaltenen Details über das Leben im Westen teilweise mit "das würde bei uns nicht funktionieren" oder mit "das ist gut – das ist in Ordnung".

Fast achtzig Jahre später, im Jahr 1927, als alles im russischen Leben nach der Revolution bis zur Unkenntlichkeit auf den Kopf gestellt zu sein schien, nahm der Dichter Wladimir Majakowski die Rolle des Chor ein. In einem Gedicht mit dem Titel "An unsere Jugend" schrieb er:

"Betrachte das Leben

ohne Brillen und Scheuklappen,

mit gierigen Augen ...

all das,

was in deinem Land gut ist

und was im Westen gut ist."

Natürlich schrieb er dies alles unter Vorbehalt. Der Dichter und Agitator hielt sich mit dem Lob der westlichen Demokratie zurück. Nicht nur aus Angst vor der Zensur, sondern auch, weil die Demokratie im Westen selbst in den 1920er Jahren nicht besonders verehrt wurde. Doch Lob für die westliche Technik – man erinnere sich an Majakowskis schwärmerische Ode an die Brooklyn Bridge – war in Ordnung.

Und lange Zeit funktionierte der Mechanismus dieser prowestlichen "Soft Power" wie ein Uhrwerk. Die Menschen in Russland wussten, dass in unserem Land nicht alles in Ordnung ist – allein unsere Mangelwirtschaft war schon aussagekräftig. Außerdem schienen viele Maßnahmen der westlichen Politik viel vernünftiger und sinnvoller zu sein.

Um es mit Turgenjews Worten zu sagen: Nicht nur Kalinytsch, ein Idealist, Romantiker, enthusiastischer und verträumter Mensch, sondern auch Chor, ein positiver, praktischer, administrativer Kopf und Rationalist, seien sich einig, dass die Menschen in Russland Veränderungen nach westlichem Vorbild wollten. In Russland müssten bloß Generalstände einberufen werden, und die Menschen würden frei, reich und großzügig leben.

Boris Jelzin und Michail Gorbatschow sowie Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais hätten das Blatt der russischen Geschichte nicht wenden können, wenn es nicht eine lange Tradition der prowestlichen "weichen Macht" in der russischen Gesellschaft gegeben hätte. Einer Macht, die zunächst verborgen war, dann aber freigesetzt wurde und sich in ihrer ganzen erdrückenden Majestät zeigte.

Mit dem Einsatz von ein wenig mehr kritischem Urteilsvermögen hätte diese "Soft Power" natürlich auch zurückgewiesen werden können. Die Idee, einheimische Espen mit fremden westlichen Stecklingen zu veredeln und sich an den daraus resultierenden Früchten zu erfreuen, hat die Schwäche, dass nicht alle Veredelungen Wurzeln schlagen und Früchte tragen. Der Preis dafür ist allerdings nicht zu unterschätzen. Im Grunde sind den Wundern der Agrobiologie aber keine Grenzen gesetzt. Selbst auf dem Mars könnten Äpfel und auf Tschukotka Ananas zum Blühen gebracht werden. Alles ist möglich, aber was werden die Kosten dafür sein und wie viel werden solche Früchte kosten? Wir haben in der jüngsten Vergangenheit die Erfolge der westlichen "Soft Power" gesehen, die sich als sehr kostspielig erwiesen haben.

Die Wirksamkeit der kritischen Vernunft hängt jedoch auch davon ab, wie schlecht die Lage in unserem Land in Wirklichkeit ist. Wenn die Felder übel bestellt und Veränderungen notwendig sind, im Westen aber alles perfekt zu sein scheint, so ruft das natürlich einen gesunden Neid und den Wunsch hervor, die westlichen Erfahrungen sofort umzusetzen. Doch das Verhältnis zwischen dem russischen Leid und dem westlichen Segen ist nicht auf Dauer gegeben. Alles ist dynamisch, alles ist im Wandel.

Einst wurde die prowestliche "Soft Power" jahrzehntelang davon genährt, dass der Alltag in Russland ein konsumistischer Albtraum war. Es ist jedoch ziemlich offensichtlich, dass dies heute nicht mehr der Fall ist. Es gibt auch keine stillschweigende Übereinkunft mehr darüber, dass unser Leben schlecht ist und verändert werden muss, bei aller Kritik an unseren Defiziten.

Seit mehr als einem Jahr ist die westliche Agenda weder aufregend noch anregend noch ansteckend. Der grüne Umbruch im Westen weckt bei den Menschen in unserem Land kaum Neid. Ganz zu schweigen von dem Wunsch, etwa das deutsche Programm der allgemeinen Ökologisierung und Dekarbonisierung in Russland sofort umzusetzen. Auch der Transgenderismus weckt bei den Menschen eher den Wunsch, mit dem Zeigefinger an der Schläfe zu drehen, als in ihren Küchengesprächen die "freie Welt" zu bewundern, wie es vor Jahrzehnten noch üblich war. Schließlich kann das Gerede darüber, dass in der westlichen Politik nicht Kumpane oder Blender konkurrieren, sondern die Talentierten und Fähigsten, die die westliche Welt würdig vertreten, heute nur als extremer Sarkasmus verstanden werden, wenn man sich Biden, Ursula, Annalena und Borrell ansieht.

Dies passiert nicht aus dem Wunsch heraus, den Westen für seine übelsten Seiten zu kritisieren. Die Meinung der Westler selbst über ihr wohlhabendes, friedliches und würdevolles Leben verschlechtert sich nämlich immer weiter, sodass die Russen nichts mehr zu beneiden haben.

Wenn im Westen das Leben mit allen Mitteln gezielt ruiniert wird, haben wir kein Recht, uns dagegen auszusprechen. Jeder ist seines Glückes Schmied. Aber der Mechanismus der prowestlichen "Soft Power", der den Wunsch propagiert, das Leben im Land nach westlichen Vorgaben zu gestalten, funktioniert nicht mehr. Alle Hebel und Rädchen haben sich ohne unser Zutun in Staub verwandelt. Wen auch immer Gott zugrunde richten will, den beraubt er der "weichen Macht", und wir haben damit ohnehin nichts zu tun.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen auf RIA Nowosti.

Maxim Sokolow ist ein russischer Journalist, Moderator und Kolumnist.

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