Wie ein terroristischer Anschlag zu einem Meilenstein im post-sowjetischen Russland wurde
Von Jewgeni Norin
Im Jahr 2002 führte Russland in Tschetschenien eine leidvolle militärische Operation zur Terrorismusbekämpfung durch. Trotz aller von der Sowjetarmee geerbten Probleme waren die damaligen Streitkräfte des Landes in offenen militärischen Schlachten effizient. Allerdings wurden sie dann in langwierige und scheinbar endlose Operationen gegen eine Untergrundarmee verwickelt, in einer von Bergen und Wäldern durchzogenen Republik.
Hinterhalte, Bombenanschläge und Überfälle auf Konvois folgten in einer endlosen Spirale aufeinander. Im Süden Russlands waren ständig irgendwo Explosionen von selbstgebauten Bomben zu hören, die an dicht bevölkerten öffentlichen Orten gezündet wurden und jeweils Dutzende von Menschenleben forderten. Erschwerend kam hinzu, dass die Islamisten nun zu Selbstmordattentaten übergegangen waren.
Höhepunkt dieser Methode war eine Geiselnahme vor 20 Jahren im Moskauer Dubrowka-Theater. Nachdem mehr als hundert Menschen ums Leben kamen, wurde jede Verhandlungsoption mit den Terroristen ausgeschlossen und die Öffentlichkeit stellte sich auf eine kompromisslose Konfrontation ein.
Selbstmordkommando
Der kaukasische terroristische Untergrund übernahm sehr bald die im Nahen Osten angewandten Taktiken der Selbstmordattentate. In Tschetschenien wurden vor allem Mädchen in den Tod geschickt. Diese Selbstmordattentäterinnen wurden in einer Weise umgarnt und beeinflusst, wie es in totalitären religiösen Sekten üblich ist: Das Mädchen wurde erst mit der Idee indoktriniert, dass sie eine "Auserwählte" sei, die bald ins Paradies aufsteigen werde, um Glückseligkeit zu finden, in der Gesellschaft von Männern, die ebenfalls im Namen des Glaubens gestorben sind.
Die Terroristen rekrutierten meist Mädchen mit schlechter Bildung aus Bergdörfern, die in einer streng patriarchalischen Gesellschaft aufgewachsen waren. Viele von ihnen litten unter ernsthaften psychischen Problemen und im Allgemeinen wurden sie auch mit Beruhigungsmitteln ruhig gehalten. Die Vorbereitung zu einem Selbstmordattentat beinhaltete oft auch sexuelle Gewalt. Nach den starren Vorstellungen, die hier im Spiel waren, hatte eine Frau keine Zukunft in diesem Leben und sie konnte ihr Glück nur im Jenseits finden. Nach dem Eintritt in dieses kranke System waren Fälle, in denen eine rekrutierte Selbstmordattentäterin überlebte, äußerst selten. Eigentlich konnte man sie an den Fingern abzählen.
Tschetscheniens maßgeblichster und abscheulichster militanter Führer, Schamil Bassajew, gründete eine spezielle Gruppe namens Rijadus-Salichin (Gärten der Tugendhaften), um Terroranschläge und insbesondere Selbstmordattentate zu organisieren. Die Gruppe bestand aus einem kleinen, aber beständigen Kern von Rekrutierern, während gewöhnliche Mitglieder jedoch in rascher Folge verheizt wurden und in den Flammen der Selbstmordexplosionen verdampften.
Trotz all dieser gewalttätigen "Kreativität" war die Situation für die Terroristen schwierig. Sie verloren im Guerillakrieg allmählich an Boden, ihre Reihen wurden zusehends dezimiert, und kleinere Untergruppen fielen dadurch vollständig auseinander. Alles, was ihnen blieb, war Terroranschläge zu verüben, um die Öffentlichkeit psychologisch zu brechen und Moskau dazu zu bringen, mit ihnen zu verhandeln.
In dieser neuen Phase des Terrors spielten zwei Personen eine Schlüsselrolle. Zum einen war da Schamil Bassajew, ein anerkannter Terroristenführer, der 1995 die größte erfolgreiche Massengeiselnahme durch tschetschenische Militanten in Budjonnowsk organisiert hatte. Damals erfüllte Russland die Forderungen der Terroristen, was es den Militanten ermöglichte, ihre Bewegung vor dem Zusammenbruch zu retten. Und jetzt war das böse Genie von Bassajew gefragt, um einen noch grandioseren Angriff zu planen.
Zum anderen war da eine weitere wichtige Persönlichkeit, Aslan Maschadow, der als "moderater" Kommandant galt. Er wurde gebraucht, damit Russland einen Gesprächspartner hatte, der akzeptabel war, um einen Waffenstillstand auszuhandeln. Ohne Maschadow war Bassajew nur ein unbedeutender Schulhofschläger. Umgekehrt jedoch war Maschadow ohne Bassajew ein machtloser König ohne Königreich, der Moskau keine Verhandlungen aufzwingen konnte.
Bassajew organisierte eine große Gruppierung für das Ausüben von Terroranschlägen. Die Gruppe umfasste 44 Personen, darunter 22 Selbstmordattentäterinnen, und wurde von Mowsar Barajew geleitet, dem Neffen von Arbi Barajew, einem hochrangigen Feldkommandanten und pathologischen Sadisten, der zusammen mit Bassajew eine Ausbildung für Selbstmordattentäter in Tschetschenien organisiert und sogar seinen eigenen Verwandten als "Märtyrer" auf eine Selbstmordmission geschickt hatte. Arbi war bereits während einer von Russland durchgeführten Spezialoperation getötet worden, und nun plante sein Neffe, den Onkel zu übertreffen. Obwohl Mowsar Barajew Ehrgeiz hatte, fehlte es ihm an Charisma und Intelligenz. Er wollte als autoritärer Kommandant hervorstechen, aber Bassajew setzte ihn gerade deshalb an die Spitze seines Trupps, weil er ihn für einen entbehrlichen jungen Mann hielt.
Der Rest des Trupps bestand aus der gleichen Art von Leuten. Die Hälfte waren Selbstmordattentäterinnen, während die meisten Männer im Alter von 20 bis 23 Jahren waren. Es gab unter ihnen nur wenige echte Fanatiker, die wussten, dass sie sterben werden, und auch bereit waren, für die Sache zu sterben. Einer von ihnen war Ruslan Elmursajew, der sich um Mowsar Barajew kümmern sollte. Die Standardbewaffnung des Trupps bestand hauptsächlich aus Sturmgewehren vom Typ Kalaschnikow sowie Granaten, während die Waffen der Selbstmordattentäterinnen die an ihren Körpern befestigten Sprenggürtel und Pistolen waren.
Vorbereitung einer Tragödie
Am Abend des 23. Oktobers 2002 besuchte die Moskauer Journalistin Alexandra Koroljewa im Moskauer Theater auf der Dubrowka das Musical namens "Nord-Ost", eine Aufführung, die auf einem sowjetischen Abenteuerroman basiert. Zu ihrem Glück, wie sich später herausstellen sollte, fühlte sie sich plötzlich unwohl und verließ nach dem ersten Akt die Vorstellung. Die Lobby war voller Menschen und die Atmosphäre war festlich und entspannt, aber draußen fiel vom nächtlichen Himmel über Moskau ein fieser herbstlicher Regen herab. Alexandra kam entsprechend durchgefroren nach Hause, goss sich eine Tasse Tee auf, schaltete das Radio ein und erfuhr dadurch, dass sie ihrem möglichen Tod um etwa zehn Minuten entkommen war – das Theater war von schwer bewaffneten Terroristen gekapert worden.
Ein solch großes Theater bot sich für die Terroristen als lohnendes Ziel an. Ein geschlossener Raum ohne Fenster, in dem Hunderte von Menschen versammelt waren, war aus Sicht der Angreifer ein idealer Ort, um zuzuschlagen. Die Informanten von Barajew in Moskau hatten mehrere Gebäude ausgekundschaftet. Ursprünglich war geplant, das berühmte Bolschoi-Theater zu kapern, was jedoch fallen gelassen wurde, weil es zu gut bewacht war. Aber das Theater auf der Dubrowka erschien ihnen ideal, da das Musical Nord-Ost in Moskau zu einem Publikumsmagneten geworden war und somit bei den Aufführungen immer sehr viele Besucher anwesend waren.
Die Terroristen kamen in kleinen Gruppen in die Hauptstadt und ließen sich in konspirativen Wohnungen nieder, während die Waffen und die Sprengstoffe auf separaten Wegen geliefert wurden. Die Kommandeure der Gruppe besuchten mehrere Male Aufführungen des Musicals, um das Gebäude zu studieren und die Sicherheitsvorkehrungen – die praktisch nicht vorhanden waren – zu beurteilen.
Am Abend des 23. Oktobers 2002 fuhren die Terroristen in Kleinbussen vor das Theater, gerade als der zweite Akt begann.
Zuerst nahmen die Zuschauer die Leute, die in Flecktarnmuster die Bühne stürmten, für einen Teil der Darstellung wahr. Aber dann wurden die Schauspieler von der Bühne gestoßen und mehrere Schüsse wurden in Richtung Decke abgefeuert, begleitet von Rufen "Das ist ein Überfall!". Ahnungslose und konsternierte Zuschauer wurden mit Maschinengewehrkolben niedergeschlagen, während die wenigen Sicherheitsleute, die nur mit Gaspistolen bewaffnet waren, schnell neutralisiert werden konnten.
Die Terroristen führten ihren Plan reibungslos und effizient durch. Zweiundzwanzig weibliche Terroristen verteilten sich in der Halle, jede mit einem Sprengstoffgürtel am Körper, der mit Plastiksprengstoff, Nägeln, Schrauben und Metallkugeln bepackt war. Im Theatersaal wurden zudem auch zwei mächtige Bomben platziert – eine in der Mitte des Saals und die zweite auf dem Balkon, während mehrere kleinere Sprengsätze im Saal herum verteilt wurden. Die Explosionszonen der verschiedenen Sprengsätze überlappten sich, sodass eine einzige Explosion jeden im Saal treffen und gleichzeitig die hohe Decke des Theaters zum Einsturz bringen würde. 916 Menschen befanden sich nun in den Händen von Terroristen.
Die Geiseln
In der Konfusion der ersten Minuten konnten viele zu Hause anrufen und ihre Familien kontaktieren. Einem Mann, der zufällig ein Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB war, gelang es, sein Mobiltelefon zu verbergen und eine ganze Weile lang Textnachrichten mit seinen Kollegen außerhalb des Theaters auszutauschen. Er wurde später tot aufgefunden. Eine Frau aus dem Publikum erinnerte sich, dass sie ihren Mann angerufen und versucht hatte, zu erklären, was passiert ist – es fühlte sich einfach surreal an, zu absurd, um wahr zu sein. Während diese Erfahrung für alle im Saal traumatisch war, war sie für eine einzelne tschetschenische Frau im Publikum besonders entsetzlich: Sie hatte Angst, als Tschetschenin identifiziert und hingerichtet zu werden, weil sie den "Verrat" begangen hat, dasselbe Theater wie die Russen besucht zu haben.
Das Dubrowka-Theater ist ein großes Gebäude mit kompliziertem, weitläufigem Innenausbau, wodurch man vielen Terroristen, die durch die langen Korridore streiften, leicht ausweichen und sich verstecken konnte. Mehreren Theaterangestellten gelang es, eines der Fenster zu erreichen. Sie knoteten Kleidungsstücke zu einem improvisierten Seil zusammen und kletterten hinunter. Einer von ihnen stürzte, überlebte aber mit einem gebrochenen Bein. Sieben Theatertechniker schlossen sich im Theatershop ein. Mitarbeiter eines Teams der Katastrophenbehörde EMERCOM, das am Tatort eintraf, riskierten ihr Leben, um schnell und möglichst geräuschlos Fenstergitter durchzusägen und weitere Menschen herauszuholen. Ein paar weitere Geiseln wurden aus dem zweiten Stock mithilfe einer Leiter gerettet, die zur Rückseite des Gebäudes gebracht wurde. Eine Mitarbeiterin fand einen kleinen Raum der Putzmannschaft, schloss sich dort ein, schaltete das Licht aus und blieb die nächsten drei Tage mäuschenstill da drinnen sitzen – man kann sich kaum vorstellen, was sie durchgemacht hat.
In den ersten chaotischen Stunden, bevor die Terroristen das gesamte Gebäude unter ihre Kontrolle bringen konnten und bevor draußen eine Polizeiabsperrung errichtet wurde, gelang es vielen, aus dem Theater zu fliehen, aber das war auch der Zeitpunkt, an dem sich einige der ersten Tragödien ereigneten. Oberst Konstantin Wassiljew betrat das Gebäude ohne Begleitung. Er hoffte, zumindest einige Menschen retten zu können, indem er sich als wertvolle Geisel im Austausch für Frauen und Kinder anbot. Er wurde von den Terroristen auf der Stelle erschossen.
Eine junge Frau namens Olga Romanowa folgte ebenso einem edlen Impuls, erlitt aber das gleiche Schicksal. Nachdem sie von der Situation erfahren hatte, ging sie ins Theater und begann auf Barajew und seine Männer einzureden. Solch ein Vorgehen hätte in einem Roman vielleicht funktioniert, aber nicht in der Realität. Die Terroristen haben sie einfach ermordet.
Es gab eine Geisel in der Haupthalle, deren Anwesenheit ironischerweise für viele ein Glücksfall war. Georgi Wassiljew war einer der Autoren des Musicals. Er hatte die Chance, zu fliehen, aber da er sich persönlich für die Besucher seines Musicals verantwortlich fühlte, entschied er sich dagegen. Dies erwies sich als richtige Entscheidung. Wassiljew erinnerte sich später:
"Umgehend kamen da ernsthafte Probleme auf. Zum Beispiel bemerkten die Terroristen plötzlich, dass dicker Rauch aus den großen, schweren Behältern kam, mit denen sie die Bühnentüren verbarrikadiert hatten, und sie wussten nicht, was das war. Das waren Nebelmaschinen. Den Terroristen blieb nichts anderes übrig, als sich an die Geiseln zu wenden und zu fragen, ob jemand wüsste, was sie damit anfangen sollten. Zum Glück war ich da und wusste, was zu tun ist. Tatsächlich denke ich, dass meine Anwesenheit dazu beigetragen hat, viele gefährliche Situationen zu vermeiden. Was als Nächstes geschah, bewies, dass es möglich war, einige Zugeständnisse von den Terroristen zu bekommen. Die optischen Filter begannen zu rauchen und Feuer zu fangen. Der Computer, mit dem die Lichter gesteuert wurden, reagierte nicht und die Filter waren nicht für eine so lange Bestrahlung mit starkem Bühnenlicht ausgelegt. Es roch nach verbrannter Plastik, die Menschen hatten Angst. Die Terroristen versuchten zunächst, cool zu wirken, aber ich erklärte ihnen, in was für einer schrecklichen Falle wir alle stecken würden, wenn im Theater ein Feuer ausbrechen sollte. Ich sagte ihnen, dass sie nicht einmal Zeit haben würden, ihre politischen Forderungen zu stellen, in wenigen Minuten tot sein würden, zusammen mit allen anderen. Eingeschüchtert von diesem Szenario stimmten sie zu, mir ein Funkgerät zu geben, damit ich mit meinen Leuten im Theater in Kontakt treten konnte, und eine Zeit lang gelang es mir sogar, mit denen außerhalb in Kontakt zu bleiben. Ich hatte zum Beispiel Kontakt mit unserem technischen Direktor Andrei Jalowitsch aufgenommen, der außerhalb des Gebäudes war. Er hat viel getan, um die Geiseln zu befreien. Ich könnte sehr lange über diese Episoden sprechen – diese drei Tage waren voll von solchen Situationen."
Erste Verhandlungen
In der Zwischenzeit begann Barajew seinen blutigen Auftritt in Zusammenarbeit mit Komplizen außerhalb des Theaters. Der Terrorideologe Mowladi Udugow wurde umgehend von der BBC interviewt. Er sprach über die guten Absichten der Terroristen, die den Krieg in Tschetschenien beenden wollten. Die Terroristen verstanden durchaus die Bedeutung der Medien. Telefongespräche für die Geiseln wurden organisiert, damit sie mit Journalisten sprechen und zu Demonstrationen zur Unterstützung für deren Forderungen aufrufen konnten.
Der populäre Volkssänger Iosif Kobson sprach als Erster mit den Terroristen. Ins Theater wurde der Musiker, der später in die Politik ging, vom Korrespondenten der Sunday Times, Mark Franchetti, begleitet. Schamil Bassajew drohte, das Gebäude mit den Geiseln in die Luft zu sprengen, wenn seine Forderungen nicht innerhalb einer Woche erfüllt werden. Kobson sprach mit den Anführern der Gruppe und handelte das erste Abkommen aus – er nahm eine Frau mit zwei Kindern und einem weiteren Baby mit, das sie als ihr eigenes ausgab.
Während eines Interviews platzte Barajew heraus, dass der Angriff eine gemeinsame Operation von Schamil Bassajew und Aslan Maschadow sei. Später sprach er noch ausführlicher darüber, ohne Raum für Zweideutigkeiten zu lassen. Das war nicht gerade angenehm für Maschadow, der im Westen das Image eines "moderaten" Führers hatte. Der Ausrutscher ging jedoch schnell in der Flut der sich entwickelnden Ereignisse vergessen.
Die russische Regierung versuchte, so viele prominente Persönlichkeiten wie möglich in die Verhandlungen einzubeziehen. Nach Kobson, dem Kinderarzt Leonid Roschal und dem jordanischen Arzt Anwar Al-Said betraten noch einige weitere Persönlichkeiten, darunter auch Oppositionelle, das Theater.
Der Kinderarzt Roschal kam in Lebensgefahr, während er mit den Terroristen verhandelte. Zwei Mädchen baten um Erlaubnis, auf die Toilette gehen zu dürfen, und flohen durch ein Fenster. Es kam in der Folge zu einer kurzen Schießerei, bei der ein Major der Sondereinheit ALFA seine Deckung aufgeben musste, um das gegnerische Feuer auf sich zu ziehen. Er wurde zwar verwundet, schaffte es aber, selbst einen Terroristen zu verwunden und die Flucht der Mädchen zu decken. Barajew wurde in der Folge sehr wütend und drohte, den Arzt zu erschießen, beruhigte sich aber wieder, nachdem Roschal den verwundeten Terroristen ärztlich zu versorgen begann, und ließ den Arzt anschließend auch weitere Geiseln behandeln. Und das keinen Moment zu früh – viele unter ihnen waren bereits in einem kritischen Zustand.
Gleichzeitig planten die Sicherheitsbehörden eine Stürmung des Theaters. Die Gelegenheit für Verhandlungen waren ausgeschöpft und jede Fortsetzung der Belagerung bedeutete wahrscheinlich den Tod für viele Geiseln. Der FSB war auch besorgt, dass die Terroristen die Nerven verlieren könnten, da die Belagerung des Theaters auch für sie anstrengend war. Die Spezialeinheiten zur Terrorismusbekämpfung ALFA und WYMPEL, die zu Sowjetzeiten gegründet wurden, mussten die Stürmung einleiten.
Die Spezialkommandos begaben sich in ein ähnlich gestaltetes Theater, das sie vor der Stürmung als Übungsort nutzen konnten. Die Positionen der einzelnen Terroristen innerhalb des Gebäudes wurden ziemlich gut ausgekundschaftet, während das Kanalisationssystem und mögliche vorhandene Tunnel unter dem Theater analysiert wurden.
Höllischer Surrealismus
Für die Geiseln war die Situation von Anfang an sehr prekär. Die Terroristen gaben ihnen keine Nahrung und nur sehr wenig Wasser. Die meisten waren dehydriert. Und lange Zeit auf einem Stuhl zu sitzen, ohne aufstehen zu können, ist eine intensive körperliche Belastung.
Ein besonders makabres Element der Belagerung war die Idee, den Orchestergraben als Toilette zu nutzen. Dies war extrem erniedrigend, besonders für Frauen, die sie benutzen mussten, während sie von Terroristen beobachtet wurden, die durchweg alle Männer waren. Aber mit fast tausend Menschen in der Halle verwandelte sich die Grube schnell in eine stinkende Kloake und verpestete die Luft in dem geschlossenen Raum. Irgendwann wäre es fast sogar zu einem Brand gekommen, nachdem Wassiljew vorgeschlagen hatte, einige Lampen an Notenständern anzubringen, um den Orchestergraben zu beleuchten, damit die Leute zumindest vermeiden könnten, in Fäkalien zu treten. Eines der Verlängerungskabel verursachte jedoch einen Kurzschluss und die Notenblätter und weitere Stromkabel fingen Feuer. Der Leiter der Abteilung für Elektrizität des Theaters, Alexander Fedjakin, der sich ebenfalls unter den Geiseln befand, rettete den Tag, indem er das Feuer umgehend mit einem Feuerlöscher löschte, den er sich von einer Wand griff.
Die Terroristen heizten diese Atmosphäre des höllischen Surrealismus zusätzlich an, indem sie auf der Bühne beteten, religiöse Lieder sangen und mit ihren Gewehren in die Decke schossen. Die Geiseln standen kurz vor dem Zusammenbruch. An drei Tagen hatten sie jeweils etwa vier Deziliter an Wasser und der Gestank aus dem Orchestergraben verursachte selbst bei denen, die ein Dutzend Reihen entfernt saßen, schwere körperliche Leiden.
Die Stürmung
In den frühen Morgenstunden des 26. Oktobers verlor eine der Geiseln vollständig die Fassung. Er rannte durch die Halle. Die Terroristen eröffneten das Feuer auf ihn und in der Folge wurde zusätzlich eine weitere Geisel getötet. In diesem Moment waren die Beamten der Sondereinheiten ALFA und WYMPEL bereits auf dem Weg zum Auditorium. Insgesamt 180 Beamte nahmen an der Operation teil.
Aufgrund der beträchtlichen Größe konnten die Terroristen nicht den gesamten Umfang des Gebäudes kontrollieren. Außerdem waren die weiblichen Selbstmordattentäter in der Theaterhalle versammelt, wo sie sich die ganze Zeit aufhielten, und die restlichen 22 Männer waren eine kleine Truppe. Dadurch konnten die Spezialeinheiten unbemerkt vorrücken.
Der erste Trupp von ALFA betrat das Gebäude durch eine Schwulenbar, die sich neben dem Theater befand. Sobald alle drinnen waren, sammelte sich der Trupp in Vorbereitung auf den Zugriff. Eine weitere Einheit betrat das Gebäude aus dem Keller, angeführt von lokalen Kennern des urbanen Untergrunds Moskaus. Und zu diesem Zeitpunkt wurde auch eine Entscheidung getroffen, die bis heute als der umstrittenste Teil des Plans für den Zugriff gilt.
Die Art und Weise, wie Bomben und Sprengkörper im gesamten Auditorium platziert worden waren, machte die Option einer erfolgreichen klassischen Sturmoperation scheinbar unmöglich. Daher wurde entschieden, ein auf Fentanyl basierendes Schlafmittel einzusetzen. Mit diesem Plan hoffte man, dass die Terroristen keine Zeit haben würden, das Gebäude in die Luft zu sprengen. Für einige der dort festgehaltenen Geiseln bedeutete dies jedoch auch den sicheren Tod. Die Wirkung von Schlafgas kann auf Menschen sehr unterschiedlich sein, ganz zu schweigen vor dem Hintergrund der zusätzlichen Dimension der mentalen und emotionalen Erschöpfung der Geiseln. Diejenigen, die die Angriffsoperation planten, glaubten jedoch, dass dies der einzige Weg sei: Die Terroristen mussten eingeschläfert oder handlungsunfähig gemacht werden, zumindest einige von ihnen, sonst würde das Gebäude in die Luft gesprengt und das Leben aller darin eingeschlossenen Menschen wäre vorbei.
Das Gas wurde in das Belüftungssystem des Theaters gepumpt, während sich eine Gruppe der Sondereinsatzkräfte mit Absicht vor der Fassade des Gebäudes zeigte, um die Aufmerksamkeit der Terroristen abzulenken.
Danach entwickelte sich die Situation rasant.
Die männlichen Terroristen stürmten aus dem Auditorium zu den Fenstern, während gleichzeitig eine Gruppe Sondereinheiten aus dem Keller hereinstürmte. Ihre Aufgabe war es, die Selbstmordattentäterinnen zu neutralisieren, was der riskanteste Teil der ganzen Operation war. Einige von ihnen waren bereits durch das eingeströmte Schlafgas eingenickt, andere waren durch das Gas verwirrt und orientierungslos, so wie die meisten Geiseln auch. Die Beamten des Sonderkommandos ALFA mussten rasch handeln, da die Selbstmordattentäterinnen inmitten der Geiseln saßen. Um sich in die Luft jagen zu können, mussten sie bloß einen Zünder in ihre Sprengstoffwesten einlegen und zwei Drähte verbinden. Und einige der Terroristen hatten die Zünder bereits eingelegt.
Die Männer von ALFA waren jedoch schnell und effizient. Keinem der Terroristen im Auditorium gelang es, das Feuer zu eröffnen oder eine Bombe zu zünden. Später wurden Vorwürfe gegen die Spezialkräfte laut, weil sie keine Terroristen lebend gefangen nahmen. Es wäre jedoch lebensgefährlich gewesen, so etwas wie eine "scharfe Bombe" am Leben zu lassen, daher wurden alle Selbstmordattentäterinnen auf der Stelle getötet, einschließlich derjenigen, die bereits schliefen.
Zur gleichen Zeit entwickelte sich außerhalb des Zuschauerraums ein kurzes, aber intensives Gefecht. Die Terroristen, die zu den Fenstern gestürmt waren, wo ein vorgetäuschter Angriff inszeniert worden war, wurden durch Scharfschützen liquidiert. Mowsar Barajew versuchte, aus dem Raum, in dem er sich verschanzt hatte, zurückzuschießen, wurde aber schließlich von einer Handgranate getötet, die in den Raum geschleudert wurde.
Tragische Ergebnisse
Zur großen Bestürzung und als Qual für das ganze Land war das Ergebnis der Rettungsaktion weniger zufriedenstellend als die Operation der Sonderkommandos, die im Dubrowka-Theater durchgeführt wurde.
Es ist viel darüber geschrieben worden, dass Sanitäter angeblich nicht darüber aufgeklärt wurden, welche Art von Schlafgas verwendet wurde. In Wirklichkeit aber waren die Dinge komplizierter. Es gab eine schlechte Koordination zwischen den Spezialeinheiten, Rettungssanitätern und Ärzten, was während der Evakuierung zu einem Moment des Chaos und zu Verwechslungen führte. Infolgedessen erhielten einige Geiseln kein Gegenmittel, während andere das Pech hatten, zwei Dosen zu erhalten, die wahrscheinlich tödlich waren. Darüber hinaus waren viele Menschen während der Belagerung so dehydriert und hatten derartig gelitten, dass sie dennoch verstarben, selbst wenn jede Hilfe korrekt verabreicht wurde.
Und es dauerte lange, bis genügend Krankenwagen vor Ort ankamen. Die Erfahrungen aus früheren Terroranschlägen hatten gezeigt, dass Funkgespräche die Terroristen darauf aufmerksam machen konnten, dass das Gebäude gestürmt werden würde, also wurde den Sanitätern diesmal erst im letzten Moment gesagt, dass sie zum Dubrowka-Theater fahren sollen.
Obwohl während des Zugriffs der Sondereinsatzkräfte keine Geiseln getötet wurden, starben viele in der Folge darauf. Die Gesamtzahl der Todesopfer, einschließlich der von den Terroristen vor dem Zugriff getöteten Geiseln, stieg letztlich auf 130, wobei die meisten dieser Todesfälle auf Gasvergiftungen zurückzuführen waren, die durch Stress, Dehydration, bereits bestehende Erkrankungen und Tage extremer körperlicher Belastungen verschlimmert wurden.
Fast umgehend wiesen Beobachter darauf hin, dass eine bessere Koordination und eine effizientere Bemühung zur Evakuierung viel mehr Leben gerettet hätten. In seiner Ansprache an die Nation, die der Tragödie des Dubrowka-Theaters gewidmet war, sagte Präsident Wladimir Putin:
"Wir konnten nicht alle retten. Vergeben Sie uns."
Für die Russen war die Geiselnahme in vielerlei Hinsicht eine Offenbarung über Land und Leute. Zugegeben, es kamen viele harte Fragen auf und wenig schmeichelhafte Antworten zur Handhabung der Rettungsaktion. Doch es gab auch die andere Seite der Medaille. Die Terroristenbande wurde vollständig ausgelöscht und das schlimmste Szenario konnte abgewendet werden, denn das Gebäude war eine Zeit lang nur Sekunden von der vollständigen Zerstörung entfernt.
Die Menschen im Theater und in der russischen Gesellschaft insgesamt zeigten viel Mut, Durchhaltevermögen und Selbstlosigkeit. Theaterangestellte, die sich nie freiwillig als Helden gemeldet hatten, leisteten den Geiseln wichtige Unterstützung. Fast alle Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die an den Verhandlungen teilgenommen haben, leisteten vorbildliche Arbeit, obwohl sie unterschiedliche, oft diametral entgegengesetzte Ansichten und Agenden hatten. Es gab selbstverständlich Ausnahmen, und viele waren später wütend auf die Journalisten, die gleich zu Beginn den Zugriff der Sondereinsatzkräfte live im Fernsehen zeigten – eine Übertragung, die möglicherweise auch von den Terroristen hätte gesehen werden können.
Andere Medienvertreter jedoch nahmen an Verhandlungen teil und halfen, Essen und Wasser zu den Geiseln zu bringen, die sich ebenfalls sehr unterstützten und sich gegenseitig halfen, diese drei Tage in der Hölle zu überstehen.
Der Terroranschlag hat die Regierung letztendlich nicht dazu gezwungen, mit den Terroristen aus dem Kaukasus zu verhandeln.
Die Geiselnahme von Dubrowka hat damals viele Schwächen Russlands offengelegt und war eine verheerende Tragödie. Es war jedoch auch eine Zeit, in der die Regierung und die Öffentlichkeit ein Maß an Mut und gegenseitiger Unterstützung zeigten, das in der post-sowjetischen Zeit neue Wege eröffnete.
Aus dem Englischen.
Jewgeni Norin ist ein russischer Historiker mit Fokus auf Russlands Kriege und internationale Politik.
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