Der Attentäter von Kertsch – Verlierer-Typ aus schwierigen Verhältnissen

Der Amoklauf von Kertsch zeigt, dass es für russische Jugendliche nicht genug positive Vorbilder gibt. Dies könnte speziell eher unbeliebte und schwierige Teenager dazu verleiten, in die Rolle des Helden mit der Waffe in der Hand schlüpfen zu wollen.
Der Attentäter von Kertsch – Verlierer-Typ aus schwierigen Verhältnissen© Screenshot/YouTube

von Ulrich Heyden, Moskau

"Wir müssen uns unbedingt um die Stillen kümmern", meinte Sergej Iwaschkin, Berater des Instituts für die "Entwicklung von Menschen und Organisationen". Derartige Aufrufe konnte man nach dem Amoklauf an der Berufsschule der Hafenstadt Kertsch häufig in russischen Zeitungen lesen. Es müssten mehr Schulpsychologen eingesetzt werden, die sich "um die Stillen kümmern", so Experten. Das Wachpersonal vor den Schulen müsse verstärkt werden. Waffengeschäfte müssten bei Verdacht auf bestimmte Personen die Polizei informieren, so lauten die Ratschläge, die zurzeit in den russischen Medien kursieren.

Nach einem Bericht der Zeitung Moskowski Komsomolez (MK) ist der Attentäter Wladislaw Rosljakow am Mittwochmittag über einen Zaun geklettert und dann über einen Hintereingang in die Berufsschule von Kertsch gekommen. Die Stadt liegt direkt am Startpunkt der Krim-Brücke. Ein Video des staatlichen Fernsehkanals Vesti Krim zeigt Wladislaw Rosljakow beim Betreten der Schule durch einen Seiteneingang sowie beim Abgeben von Schüssen.   

Mehr als ein Attentäter?

Den Metalldetektor am Haupteingang der Schule habe er auf diese Weise umgangen. Rosljakow war selbst Schüler an der Berufsschule. Er studierte im vierten Semester das Fach "Installation und Nutzung von elektronischer Ausrüstung".

Schüler der Berufsschule haben nach einem Bericht der Zeitung während der Schießerei zwei weitere Attentäter in weißen T-Shirts gesehen. Einige Schüler vermuteten, dass der Attentäter sich nicht selbst erschoss, sondern erschossen wurde.

Auf den bisher veröffentlichten Videos seien keine anderen Schützen zu sehen, doch das heiße nicht, dass Rosljakow keine Helfer hatte. Die Frage sei, wer den Attentäter vorbereitet habe. "So etwas vorzubereiten, ist nach meiner Ansicht für eine einzelne Person nicht möglich", erklärte der Präsident der Krim Sergei Aksjonow.

Die russischen Ermittlungsbehörden seien auf der Suche nach möglich Hintermännern der Tat, berichten russische Medien. Dass der ukrainische Geheimdienst SBU den Attentäter Rosljakow für seine Tat in der Nähe der Krim-Brücke vorbereitet hat, wollen russische Medien nicht ausschließen.

Nach einem Bericht der Zeitung Komsmolskaja Prawda hat der Attentäter das Massaker an der Columbine High School im US-Bundesstaat Colorado im Jahre 1999 kopiert. Er kleidete sich ähnlich – schwarze Hose, weißes T-Shirt mit der Aufschrift "Hass" – und erschoss sich zum Ende der Schießerei selbst in der Schulbibliothek.

Rosljakow benutzte ein Pump-Luftgewehr der Marke Hatsan Escort. Es war türkischer Herstellung. Der Attentäter kaufte das Gewehr für umgerechnet 250 Euro am 13. Oktober – also nur wenige Tage vor dem Attentat – in einem Waffengeschäft. Sein Waffenschein war von der russischen Polizei (Rosgwardia) ausgestellt worden. Für einen Waffenschein braucht der Käufer Bescheinigungen eines Psychiaters und einer Drogenkontrollstelle. Doch solche Bescheinigungen kann man in Russland auf dem Schwarzmarkt kaufen.

Munitionsdepot in der Schultoilette?

Vermutlich habe der Attentäter sich vor der Tat in einer ungenutzten Schultoilette umgezogen. Zehn Päckchen mit Patronen und selbstgebaute Handgranaten deponierte er vermutlich in der Toilette. Die übrige Munition – etwa 50 Patronen – steckte er sich in die Taschen.

Bei dem Amoklauf an der Berufsschule von Kertsch starben 21 Menschen, vor allem Schüler, aber auch Lehrer. Rosljakow schoss mit seinem Pump-Luftgewehr gezielt auf Schüler und Lehrer. Im Speisesaal zündet er eine Bombe. In einem Rucksack hatte er einen weiteren Sprengsatz.

44 Menschen wurden verletzt, viele von ihnen schwer. Alle Verletzten sollen in zentralrussische Krankenhäuser überführt werden. Das russische Ermittlungskomitee sprach zunächst von einem Terrorakt. Später wurden die Ermittlungen umqualifiziert. Es wird wegen Mordes an zahlreichen Menschen ermittelt.

Praktikum auf einer Werft

Einem Bericht der Komsomolskaja Prawda zufolge machte Wladislaw Rosljakow vom 4. Mai bis zum 28. Juni ein Praktikum auf einer Schiffswerft in Kertsch. Er habe sich mit der Montage elektrischer Ausrüstung beschäftigt. Ermittler haben auf der Werft Ermittlungen aufgenommen. Grund der Ermittlungen seien die Sprengsätze, die der Attentäter mit sich führte.

Ganz Russland trauert. Die Zeitungen sind voll von Berichten. Was Rosljakow zu dem Massaker trieb, ist noch nicht ermittelt. Präsident Wladimir Putin erklärte auf der Konferenz von Waldai: "Die Tragödie von Kertsch ist eine Folge der Globalisierung. Im Internet sehen wir, dass ganze Gemeinschaften gegründet werden. Alles begann mit den tragischen Ereignissen an Schulen in den USA. Junge Leute mit schwacher Psyche formen für sich die Rolle eines falschen Helden." Damit die Jugendlichen sich keine falschen Helden-Rollen suchen, müsse man ihnen "interessante und nützliche Inhalte" geben.

Linke Russen wie der Fernsehmoderator und Blogger Konstantin Sjomin meinen, das Attentat spiegele zu einem gewissen Teil auch den rauen kapitalistischen Alltag in Russland wider, in dem Macht, Geld und Durchsetzungsvermögen oft mehr zählen als Solidarität, Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit.

Wladislaw Rosljakow war nach Beschreibungen, die jetzt in den russischen Medien auftauchten, ein stiller Mensch. Aber in ihm schlummerte offenbar ein Vulkan. Die Komsomolskaja Prawda druckte Auszüge aus einem Chat, in dem Rosljakow erklärt, er würde gerne ein Massaker unter Gleichaltrigen und Lehrern veranstalten, "so wie Columbine". Für den Chat benutzt Rosljakow den Namen "Anatoli Smirnow".

Die Eltern lebten getrennt

Der Attentäter kam aus ärmlichen Verhältnissen. Er wohnte mit seiner Mutter in einem sehr einfachen Haus am Stadtrand von Kertsch. Zur Schule brauchte er 40 Minuten. Die Mutter arbeitete in einem Krankenhaus als Reinigungskraft für ein geringes Gehalt. Sie gehörte den Zeugen Jehovas an, einer in Russland inzwischen als "extremistisch" verbotenen Organisation.

Der Vater wohnte nicht bei seinem Sohn. "Er war fast nie trocken", berichtet Taisija Rosljakowa, die Großmutter des Attentäters, der Komsomolskaja Prawda. Als Wladislaw in der fünften Klasse war, habe die Mutter ihren Sohn genommen und sich von ihrem Mann getrennt. Sie habe "Wladik" vor einer Woche gesehen, sagt die Großmutter. Er sei in guter Stimmung gewesen. Doch halt!, erinnert sich die alte Dame. Bei seinem Besuch habe "Wladik" alle Fotos aus dem Familienalbum mitgenommen. Danach sei er bei Igor Rosljakow, seinem Vater, gewesen und habe auch dort alle Fotos mitgenommen. Er habe gesagt, er wolle die Fotos abfotografieren und ein neues Fotoalbum machen. In der Kindheit sei "Wladik" ein sehr offenes Kind gewesen, dann aber habe er sich sehr verschlossen, sagte die Oma. Als er ein Notebook bekam, sei er gar nicht mehr aus dem Haus gegangen und habe nur noch am Computer gespielt.

Als die Ermittler die Wohnung des Vaters besichtigen wollten, leistete dieser Widerstand, teilte die Polizei mit. Die Polizei nahm den Vater des Attentäters zum Verhör mit auf die Wache.

Der Vater, der zu Sowjetzeiten als Soldat in Afghanistan war, war bekannt für starken Alkoholkonsum und jähzorniges Verhalten. Er zettelte bei jeder Gelegenheit Schlägereien an. Bei einer Auseinandersetzung schlug sein Kopf gegen einen Bordstein. Die Folge waren anhaltende starke Kopfschmerzen, weshalb er als Schwerbehinderter eingestuft wurde.

In einem Video-Interview erklärte der Vater: "Obwohl er tot ist, liebe ich ihn, er ist mein leiblicher Sohn. Ich habe von ihm geträumt." Schuld an der Tragödie sei "das Internet, das Notebook und seine völlige Abgeschlossenheit. Ich bin russisch-orthodox. Er ist ein Teufel, nichts anderes." Als Kind habe Wladislaw mit Hamstern, Meerschweinchen und Autos gespielt und kleine Ratten großgezogen.

Mögliche Motive

Die Komsomolskaja Prawda zählt drei Gründe auf, die den Attentäter zu der Tat veranlasst haben könnten.

1.) Die Mutter des Attentäters war Mitglied der inzwischen verbotenen Vereinigung "Zeugen Jehovas". Der Sohn sei unter den Einfluss dieser Vereinigung geraten. In Kertsch habe es vor dem Verbot der Zeugen Jehovas fünf Gebetshäuser gegeben. Es gebe Verbindungen zwischen dem US-Geheimdienst und den Zeugen Jehovas, und es sei bekannt, dass die "Zeugen" an strategisch wichtigen Punkten – in Kertsch beginnt die Krim-Brücke zum Festland – leben.

2.) Der Attentäter sei stark von dem Computer-Kampfspiel "Metro 2033" beeinflusst gewesen, das im Internet über das Netzwerk vKontakte.ru erreichbar ist. Die Spieler organisieren sich für dieses Spiel in Clans.

3.) Rosljakow sei ein klassischer "Verlierer"-Typ gewesen. Er hatte keine Freundin und stand am unteren Ende der sozialen Leiter, sah nicht besonders attraktiv aus und war still. Ein Jugendlicher, der sich als Verlierer fühlt und bei Frauen keinen Erfolg hat, könne sich leicht in eine falsche Helden-Rolle flüchten.


Dass sich der Attentäter als Verlierer fühlte, bestätigt eine Kommilitonin von Rosljakow gegenüber RT. Der Attentäter sei ein guter Freund von ihr gewesen, sagt die Studentin, die im vierten Semester studiert. Es tue ihr sehr leid um die Toten. Rosljakow habe nicht mehr leben wollen, weil er von Kommilitonen gemobbt worden sei, erzählte die Studentin, die ihren Namen nicht nennen wollte.

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