von Ulrich Heyden, Moskau
Am Sonntagabend saß ich im Wachtangow-Theater in Moskau. Es liegt im Stadtzentrum an der beliebten Fußgängermeile Arbat. Auf dem Programm stand "Audienz", ein Schauspiel über die britische Königin Elisabeth II. Der Saal war fast voll, denn die Hauptrolle spielte die beliebte Schauspielerin Inna Tschurikowa.
Nur die Hälfte der Zuschauer trug Masken. Und diese Masken bedeckten manchmal nur den Mund. Zugegeben, bei der Wärme mit Maske im Theater zu sitzen, erfordert Durchhaltevermögen. Nach der Vorstellung staunte ich über das bunte Treiben auf dem Arbat. Musikgruppen spielten. Vor allem Jugendliche waren unterwegs. Masken trugen nur Wenige.
Was Corona betrifft, lebte Russland in den letzten Monaten in einer Phase der Entspannung. Über die Möglichkeit einer dritten Corona-Welle redete niemand. Doch am 16. Juni meldete sich plötzlich der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin zu Wort. Er gab bekannt, dass in Moskau die "indische" Delta-Variante des Corona-Virus grassiere, gegen die nur 20 Prozent der Moskauer immun seien. Die Infektionszahlen in der Hauptstadt seien auf das höchste Niveau seit Beginn der Pandemie gestiegen. Impfen sei jetzt die einzige Rettung und neue Hygiene-Maßnahmen seien nötig.
Härtere Maßnahmen als bisher
In der Zwölf-Millionen Stadt Moskau wurden am 21. Juni 16.715 Fälle von Corona-Infektionen gezählt. Am gleichen Tag stieg die Zahl der Corona-Toten in Moskau um 86. Das war die höchste Zahl seit Beginn der Pandemie. Moskau ist auch in der jetzt beginnenden dritten Corona-Welle landesweit der Spitzenreiter.
Insgesamt starben in der russischen Hauptstadt in Folge einer Corona-Infektion seit Beginn der Pandemie 21.598 Menschen. Bürgermeister Sobjanin untersagte Konzert- und Theatervorstellungen mit über 500 Teilnehmern für die Zeit vom 22. bis zum 28. Juni. Fan-Zonen und Tanzplätze sollen gesperrt werden. Kinderspielplätze sind schon seit Tagen mit rot-weißen Plastikbändern abgesperrt. Unterhaltungsprogramm in Diskotheken und Nachtclubs zwischen 23 und 6 Uhr sind bis zum 29. Juni verboten.
Strenge Regeln ordnete Sobjanin für die Moskauer Restaurants an. Ab dem 28. Juni dürfen Restaurants nur von Personen besucht werden, die entweder geimpft sind, die innerhalb der letzten sechs Monate eine Corona-Infektion überstanden oder die in den letzten drei Tagen einen PCR-Test gemacht haben. Die Mitarbeiter der Restaurants haben die Aufgabe, die Besucher auf das Vorhandsein von QR-Kontroll-Codes zu prüfen.
Doch das war noch nicht alles. Der russische Gesundheitsminister Michail Muraschko gab am 21. Juni bekannt, dass in einer Phase, wo die Infektionen ansteigen, Anti-Corona-Impfungen nach sechs Monaten aufgefrischt werden müssen.
Druck auf Mitarbeiter im Dienstleistungssektor: Impfung oder Kündigung
Die russische Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor ordnete an, dass sich bis zum 15. Juli 60 Prozent der Mitarbeiter des russischen Dienstleistungssektors impfen lassen müssen. Die Rechtslage ist umstritten. Wer sich nicht impfen lassen will, kann gekündigt werden, meinen Juristen.
Aus dem westsibirischen Industriegebiet Kusbass wurde berichtet,dass die örtliche Ministerin für sozialen Schutz zwölf Mitarbeiter des Sozialdienstes entlassen hat, weil sie eine Impfung kategorisch verweigerten. Acht der Gekündigten hätten ihre Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, überdacht, berichtete die Komsomolskaja Prawda.
Die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa erklärte, sie bekomme eine große Zahl von Briefen, in denen sich Bürger über Diskriminierung beschweren, weil sie sich nicht impfen lassen wollen. Moskalkowa weiter: "Ich meine, so eine Stimulierung zum Impfen – ist kein ehrliches Spiel, keine saubere Aktion". Das Ziel, die Gesellschaft zu schützen, sei richtig, aber die Mechanismen, die angewendet werden, führten "zu Massen-Psychose und Angst".
Auf diese Stellungnahme antwortete der Sprecher des russischen Präsidenten Dmitri Peskow, eine Diskriminierung von Nichtgeimpften sei "unausweichlich". Menschen ohne Immunität könnten nicht in allen Sphären arbeiten, denn sie seien "eine Gefahr für die Umgebung".
Vier Vakzine zur Auswahl
Seit Dezember 2020 wird in Russland im Fernsehen und auf Straßenplakaten massiv für das Impfen geworben. Auf Plakaten raten bekannte Schauspieler und Ärzte, sich auf jeden Fall impfen zu lassen. Doch der Erfolg dieser Impfkampagne ist mau. Nur 13 Prozent der Menschen in Russland haben sich bisher mit einem der vier russischen Vakzine – Sputnik V, EpiVacCorona, CoviVak und Sputnik Light – impfen lassen. Die Impfquote in Russland liegt im internationalen Maßstab weit unten. In den USA liegt sie bei 53 Prozent und in China bei 43 Prozent. In Großbritannien gar bei 63 Prozent.
Dabei ist das Impfen in Russland kostenlos. Man bekommt das Vakzin in einer Poliklinik oder in einem der großen Einkaufszentren verabreicht. Dort muss man sich nur in die Schlange stellen. Ausländer können sich in einer Privatklinik impfen lassen.
Wie will die Regierung nun auf 60 Prozent Immunisierte im Land kommen? Ganz einfach, durch psychologischen Druck. Man versucht es auch mit materiellen Anreizen. Wer sich in Moskau impfen lässt, kann ein Auto gewinnen. Im Moskauer Umland winkt als möglicher Gewinn eine Wohnung.
Warum ist die Impfbereitschaft in Russland so niedrig?
Dass die Impfbereitschaft in Russland so niedrig ist, hat mehrere Gründe.
1. In einem großen Teil der Gesellschaft gibt es Aberglauben und Irrationalität statt Glauben an wissenschaftliche Erkenntnisse. Das Bildungsniveau ist gesunken. Viele Menschen glauben, dass Impfen nicht hilft. Andere haben Angst vor möglichen Nebenwirkungen wie Unfruchtbarkeit oder Gen-Veränderungen. Manche fürchten gar, dass man mit einer Impfung heimlich einen Chip eingesetzt bekommt.
Einige wollen der Impf-Kampagne durch den Erwerb einer gefälschten Impfbescheinigung entgehen. Wie die Rossiskaja Gaseta berichtete, wurde in Moskau ein 23-Jähriger festgenommen, der gefälschte Impfnachweise herstellte. Die Nachweise wurden für 45 Euro über das Internet verkauft.
2. Was die Russen per se nicht mögen, ist, wenn sich der Staat in ihr ganz persönliches Leben einmischt. Das Vertrauen gegenüber den Anweisungen der Staatsmacht ist gering. Dass die Staatsmacht Anweisungen zum Schutz der Bürger gibt, können sich viele Russen nicht vorstellen. Warum? In den 1990er Jahren wurde den Menschen Demokratie und Wohlstand versprochen, doch es folgten Fabrik-Schließungen und die Entwertung der Sparguthaben. Dass viele Beamte zu wohlhabenden Leuten mit großen Villen und dicken Autos wurden, ist für viele Russen der Beweis, dass man Beamten nicht trauen kann.
Vielleicht macht die russische Regierung etwas falsch? Der Biologe Aleksej Kuprijanow erklärte in einem Interview mit der liberalen Tageszeitung Moskowski Komsomolez, "einer der wichtigsten Gründe des tiefen Misstrauens der Bürger gegenüber dem Handeln der Regierung" seien "die in Russland üblichen Manager-Praktiken, die weniger auf rationale Überzeugung, als vielmehr auf Druck setzen". Für rationale Überzeugung brauche man "eine maximale Offenheit [über das Ausmaß der Pandemie] und die Folgerichtigkeit [der Maßnahmen]".
Es gibt in Russland einiges, was nicht zusammenpasst. Während Kinderspielplätze mit rot-weißen Plastikbändern abgesperrt werden, fahren die Menschen in der U-Bahn dichtgedrängt zur Arbeit. Russland hat zudem zahlreiche neue Flugverbindungen in bei Touristen beliebte europäische Länder aufgenommen.
3. Auch 30 Jahre nach dem Ende des Sozialismus haben die Russen den Übergang zur Marktwirtschaft innerlich noch nicht vollzogen. Das Bewusstsein, das man für seine Gesundheit selbst verantwortlich ist, hat sich noch nicht durchgesetzt. In weiten Kreisen der Gesellschaft herrscht ein Gesundheits-Fatalismus. Zum Arzt geht man erst, wenn es wirklich brennt.
Dem Großteil der Bevölkerung mit geringem Einkommen hat niemand richtig erklärt, dass man für seine Gesundheit und die Vorsorge selbst verantwortlich ist. Und das russische Fernsehen, das von Reklame für alle Genüsse des Lebens überflutet ist, gibt keine Anreize für einen gesunden Lebensstil, Gesundheitsvorsorge und Eigenverantwortung.
Während der Sowjetzeit wurden die Bürger von Kindesbeinen gegen Infektionskrankheiten durchgeimpft. Impfen galt als Errungenschaft der Sowjetgesellschaft, welche der breiten Masse der Bevölkerung kostenlos Gesundheitsschutz gewährte. Die Radio-Sendungen am Morgen begannen zu Sowjetzeiten mit Frühgymnastik. Kinder und Jugendliche waren bei den Jungen Pionieren und den Komsomolzen organisiert, wo man aktiv Sport und Gymnastik betrieb. Beide Organisationen wurden 1991 aufgelöst. Seitdem hängt ein gesunder Lebensstil ausschließlich von der Eigeninitiative ab.
Dunkle Mächte
Nikolai Platoschkin, ein russischer Sozialist und Oppositionspolitiker, erklärte in einem Video-Interview, er sei erschreckt über das hohe Maß an Unwissenheit in der Bevölkerung. Viele Leute auf der Straße seien der Meinung, dass das Coronavirus von "den Masony" (Freimaurer) oder "den Amerikanern" hergestellt worden sei. "Die Leute, die meinen, es gäbe keinen Coronavirus, das sind Dummköpfe", meint der Oppositionspolitiker. Coronaviren seien seit den 1970er Jahren bekannt.
Platoschkin war Anfang des Jahres selbst an dem Virus erkrankt und er war erstaunt, was er auf der Intensivstation sah, wo er behandelt wurde. Da konnten Patienten ohne Atemmaske nur mit Mühe frühstücken oder auf die Toilette gehen. Und trotzdem waren diese Patienten der Meinung, dass eigentlich nichts Besonderes passiert sei.
Dass Impfen der richtige Schritt ist, meint auch die Rechtsexpertin des Nawalny-Teams Ljubow Sobol. Sie ging vor einigen Tagen zum Impfen und berichtete darüber auf Facebook. Auch die bekannte Kreml-kritische Webseite Meduza rät zum Impfen. Trotz dieser Unterstützung durch Oppositionelle ist bisher unklar, ob der Kreml sein Ziel erreicht, dass die Menschen jetzt massenhaft zum Impfen gehen.
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