Kein Corona-Notfallplan für Obdachlose: Droht in Deutschland eine humanitäre Katastrophe?
von Susan Bonath
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntag strenge Ausgangsbeschränkungen für alle Einwohner Deutschlands verkündete, um die ungezügelte Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern, sprach sie ständig von einem "Wir". Wir sollen aus Rücksicht auf uns andere Abstandsgebote einhalten, nicht mehr in Gruppen auf die Straße gehen und wann immer möglich zu Hause bleiben. Dabei sorgte sie sich vielleicht tatsächlich um Ältere und chronisch Kranke. Wahrscheinlich bereitete ihr auch das heruntergesparte Gesundheitssystem, dem die totale Überlastung droht, erstmals echtes Kopfzerbrechen. Nur eine Gruppe hatte sie bei ihrer Ansprache wieder einmal vergessen: Die Hunderttausenden Obdachlosen in Deutschland, die nicht "zu Hause bleiben" können, weil sie gar kein Zuhause haben.
BAGW: Versorgung Wohnungsloser bricht zusammen
Dabei wird die Lage der Obdachlosen immer dramatischer. Vielerorts brechen Hilfsangebote komplett weg. Die "Tafeln" und Duschen schließen, selbst die Notversorgung wird teilweise eingestellt. Am Freitag schlug daher die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) Alarm. Dort habe man "große Sorge um die Mitarbeitenden und Klienten". So herrsche in den Hilfeeinrichtungen weitgehende Ratlosigkeit. Politik und Verwaltungen würden viel zu wenig unternehmen, um wohnungslose Menschen adäquat zu schützen.
Neben fehlender Information mangele es vor allem an Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln. Beides sei derzeit nicht mehr zu beschaffen. "Es ist deshalb für viele Einrichtungen und Dienste völlig unverständlich, dass der gesamte Bereich der Wohnungslosenhilfe, insbesondere die stationären Einrichtungen und Notschlafstellen, Tagestreffs und Versorgungsangebote nicht den systemrelevanten Bereichen zugeordnet werden", kritisierte die BAGW. Sie befürchte, "dass die Krise noch über Wochen andauert und sich die finanzielle und Versorgungssituation der auf der Straße Lebenden weiter verschlechtert". Schon jetzt kämen viele nicht mehr an die ihnen zustehenden Tagessätze der Sozialhilfe, da Jobcenter geschlossen haben. Man brauche daher dringend mobile Versorgungsdienste, so die BAGW.
Humanitäres Desaster in Hamburg
In Hamburg, wo geschätzt 2.000 Menschen – wahrscheinlich mehr – ohne jede Unterkunft auf der Straße leben, warnte vergangene Woche der Geschäftsführer des Straßenmagazins Hinz&Kunzt, Jörn Sturm, vor einem humanitären Desaster. Derzeit sei "die Versorgung der Obdachlosen mit Lebensmitteln, Geld und medizinischen Angeboten nicht gewährleistet", sagte er der Hamburger Morgenpost. Der Grund: Das Netzwerk zur Hilfe für die Ärmsten wird Großteils von Ehrenamtlichen zusammengehalten. Doch auch diese zählen oft selbst zu einer besonders gefährdeten Risikogruppe. Sturm fordert eine "professionelle Corona-Koordinierungsstelle".
Laut Hamburger Senat nutzt die Stadt bereits zwei Notunterkünfte mit 650 Plätzen als Isolierstandorte. In einer Unterkunft ordnete die Landesregierung bereits Quarantäne wegen eines Erkrankten an. Seit Tagen dürfen dort rund 300 Betroffene die Einrichtung nicht mehr verlassen, weitere Personen in Not haben keinen Zutritt. Eine Anfrage der Autorin vom vergangenen Freitag zu den Missständen und eventuellen Plänen, diese zu beheben, beantwortete der Hamburger Senat bisher nicht.
Berliner Obdachlosenhilfe droht "Shutdown"
In Berlin leben geschätzt sogar bis zu 10.000 Menschen ohne Unterkunft der Straße, Zehntausende weitere sind in Notunterkünften registriert. Laut einer Anfrage der BAGW an Hilfsorganisationen in der Hauptstadt sind Einrichtungen weitgehend geschlossen und haben die Versorgung mit Lebensmitteln, soweit sie überhaupt aufrechterhalten wurde, auf die Straße verlagert. Die "Tafeln" stellten nach und nach ihren Betrieb ein, die Präsenz in Notübernachtungen und teilstationären Einrichtungen sei nicht mehr gewährleistet. "Sollten Infektionsfälle bekannt werden, droht dort der Shutdown", kommentierte die BAGW die Mitteilungen aus Berlin.
Die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (SenIAS) sei sich "der Problematik bewusst", versicherte Behördensprecher Stefan Strauß vorige Woche auf Anfrage. Man suche gemeinsam mit freien Trägern und der Kältehilfe "intensiv" nach Lösungen, Betroffene unterzubringen und zu versorgen. Benötigt würden Gebäude, die zur Quarantäne geeignet sind, sowie Gesundheitsberatungen. Welche Maßnahmen in welcher Form bereits umgesetzt werden, konkretisierte der Sprecher aber nicht.
Vergangenen Donnerstag bekräftigte Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) ihren guten Willen: "Wir brauchen auch für obdachlose Menschen einen Rettungsschirm", sagte sie der Nachrichtenagentur dpa. Ihre Vorschläge reichen von einer Ausweitung der Notschlafstellen zur Ganztagsunterbringung bis zur Einstellung hauptamtlicher Sozialarbeiter für Suchtkranke.
Bundesregierung schiebt Verantwortung auf Kommunen
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat überhaupt keine konkreten Pläne, um diese drohende humanitäre Katastrophe abzuwenden. BMAS-Sprecherin Maja Winter erklärte gegenüber der Autorin, ihre Behörde habe lediglich – allerdings unabhängig von der Corona-Pandemie – die jährliche Unterstützung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) um 100.000 auf 497.000 Euro aufgestockt. Die Förderung diene unter anderem der "Weiterentwicklung von Hilfeansätzen und Beratung", führte sie aus. Und: "Generell gilt, dass die Unterbringung und Versorgung von Wohnungslosen in der Verantwortung der Länder und Kommunen liegt." Dies betreffe auch dafür nötige Finanzmittel, so Winter.
Des Weiteren verwies das BMAS sogleich an das Bundesministerium für Gesundheit (BMG). Dieses sei für den medizinischen Schutz und die Gesundheitssituation (auch) von wohnungslosen Menschen zuständig. Mit konkreten Plänen konnte der BMG-Sprecher Sebastian Gülde aber auch nicht dienen. Der Schutz "vulnerabler Gruppen", wie etwa Obdachloser und des betreuenden Personals, stehe bei der Pandemieplanung im Vordergrund, erklärte er zwar. Dazu gehöre etwa die Anordnung häuslicher Quarantäne durch die Gesundheitsämter. Diese müssten auch prüfen, dass in Notunterkünften und Gemeinschaftseinrichtungen Erkrankte von Gesunden getrennt und besondere Infektionshygienemaßnahmen eingehalten werden. Über empfohlene Maßnahmen kläre das Robert-Koch-Institut auf, so Gülde.
Bei der "Pandemieplanung" des RKI taucht allerdings diese Risikogruppe der Obdachlosen gar nicht auf. Und auch sonst erklärte der BMG-Sprecher nicht, wie und mit welchen Mitteln die Bundesländer und Kommunen die sozialen Probleme in Deutschland meistern sollen. Und die sind der BAGW-Umfrage zufolge nicht nur in Berlin und Hamburg gravierend. Mehr noch: Die Corona-Pandemie wird gerade zur Existenzfrage für die Ärmsten der Armen.
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