Hartz IV: Verpflichtet, zu Hause zu sitzen
von Susan Bonath
Über die grenzenlose Freiheit, vor allem auch die Bewegungsfreiheit im Kapitalismus, wird viel geschwatzt. Leider gilt diese vor allem für Kapital und damit gerafften Profit, für den Großteil der ausgebeuteten Klasse aber nicht. Da lässt der Geldbeutel des Niedriglöhners das Reisen kaum zu, und obendrein bestimmt der Chef, für dessen Rendite man sorgt, gern über die Lebenszeit mit. Was zudem viele nicht wissen: Für Millionen Menschen in Deutschland gilt eine strenge Residenzpflicht. Dazu gehören die Asylbewerber, aber auch sechs Millionen Hartz-IV-Bezieher. Werden sie außerhalb ihres "wohnortnahen Bereichs" erwischt, droht ihnen eine Totalsperre der bestenfalls gerade noch existenzsichernden Bezüge.
Jede Ortsabwesenheit muss genehmigt werden
Während Asylbewerber ihre Freizügigkeit auf den Landkreis ihrer Gemeinschaftsunterkunft beschränken müssen, ist das Gesetz für Erwerbslose und Aufstocker schwammig formuliert. Lediglich von einem "zeit- und ortsnahen Bereich" ist darin die Rede. Denn die "Eingliederung in Arbeit" der Betroffenen – so unwahrscheinlich sie auch sein mag – dürfe "nicht beeinträchtigt" werden. Und: Jobcenter können auf Antrag bis zu drei Wochen Ortsabwesenheit pro Jahr genehmigen, sofern die "Eingliederung" nicht gefährdet sei. Die Betonung liegt auf "Antrag", "können" und "sofern".
Die Folge: Alle Jobcenter legen das Gesetz unterschiedlich aus. Wo endet der wohnortnahe Bereich? Gibt es für einen Besuch der kranken Mutter in der Nachbarstadt schon eine Sperre? Zudem bewilligen die Ämter Anträge auf Ortsabwesenheit nach Gutdünken – oder lehnen sie eben ab, bespitzeln auf verschiedene Weise ihre Klienten oder führen mal Brief-, mal Telefonkontrollen durch – abgesehen davon, dass die Residenzpflicht auch Denunzianten aller Art hervorbringen und ermuntern kann oder soll.
Trotz Rüge von Rechnungshof und Ausschuss: Ministerium sieht kein Problem
Eigentlich sollte das Gesetz aus diesem Grund schon 2011 präzisiert werden. Doch die Novelle trat nie in Kraft. Der Grund: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hatte keine Verordnung dazu vorgelegt, die zum Beispiel den ortsnahen Bereich genauer definiert, oder die Dauer eingrenzt, für die Betroffene eine "Verlassenserlaubnis" beantragen müssen.
Eine entsprechende Aufforderung vom Bundesrechnungshof, eben dies nachzuholen, ignoriert das Ministerium seit 2017. Das BMAS nehme es hin, dass die Jobcenter unterschiedliche Maßstäbe ansetzten, rügte der Bundesrechnungshof. Auch einen Beschluss des Sozialausschusses von 2018, der endlich ein Ergebnis bis zum 31. Mai 2019 sehen will, sitzt das Ministerium offenbar aus. Das BMAS "sah bisher keine Notwendigkeit", erklärte eine Sprecherin auf Nachfrage unlängst. Und weiter: Der Rechnungsprüfungsausschuss berate unter Ausschluss der Öffentlichkeit darüber.
Freibrief an Jobcenter für willkürliche Schikane
Den Ämtern gehe es vor allem um die postalische Erreichbarkeit, erklärte dazu Harald Thomé vom Sozialhilfeverein Tacheles. Dafür sei eine Residenzpflicht eigentlich vollkommen überflüssig. Denn Schreiben könnten digital übermittelt werden, es gebe Handys und Mails, kritisierte er. Die neue Regelung würde das Wegfahrverbot zwar nicht aufheben. Sie dürfte aber zumindest die Willkür der Jobcenter eindämmen, glaubt er. "Mit der alten Regel können Jobcenter die Hartz-IV-Bezieher wesentlich besser schikanieren."
Dass Jobcenter rege auf puren Verdacht bestrafen, zeigt ein Katalog als Bestandteil einer Weisung der Bundesagentur für Arbeit (BA), auf welche die BMAS-Sprecherin dankenswerterweise hinwies. Als Indizien für ein Verlassen des Wohnorts, welche folglich "Maßnahmen" rechtfertigten, gelten danach: Abbuchungen von Reiseunternehmen, Firmen oder Tankstellen außerhalb des ortsnahen Bereichs vom Konto, Nichterscheinen zu Terminen, Nichterreichbarkeit per Telefon, ständiges Verschieben von Terminen, überquellender Briefkasten, dauerhaft herabgelassene Jalousien, Unflexibilität des Kunden, anonyme Anzeigen, Hinweise von Dritten, Anrufe von Orten außerhalb des Nahbereichs oder eine fehlende Reaktion auf ein Maßnahmeangebot.
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