Kein Minimum für Ungehorsame: Hartz-IV-Ämter sanktionierten eifrig

Jobcenter verhängten im Jahr 2018 geringfügig weniger Sanktionen als im Vorjahr. Gemessen an der Zahl der Hartz-IV-Bezieher stieg die Quote trotzdem leicht. Auch Minderjährige waren von härtesten Strafen bis hin zum Totalentzug der Existenzmittel betroffen.
Kein Minimum für Ungehorsame: Hartz-IV-Ämter sanktionierten eifrigQuelle: www.globallookpress.com

von Susan Bonath

Während die Vermögen der Reichen wachsen, drangsalieren deutsche Jobcenter ungebrochen die Ärmsten, sobald diese sich nicht wohl verhalten. Das geht aus neuen Zahlen hervor, die die Bundesagentur für Arbeit (BA) am Mittwoch veröffentlichte. Danach verhängten die Behörden im vergangenen Jahr rund 904.000 neue Sanktionen gegen insgesamt 403.000 Hartz-IV-Bezieher zwischen 15 und 65 Jahren. Viele waren also mehrfach betroffen. Im Schnitt entfielen auf jeden 2,2 Kürzungsstrafen. Darunter befanden sich auch Hunderte minderjährige Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren. Eine Sanktion dauert drei Monate. 

Zwar sank damit die Zahl der Kürzungen gegenüber dem Vorjahr um knapp 50.000. Im Hartz-IV-System befanden sich im Dezember 2018 mit knapp vier Millionen aber auch fast 250.000 weniger erwerbsfähige Leistungsberechtigte als Ende 2017. Bemerkenswert: Von diesen galt nur etwa jeder Dritte als arbeitslos, der Rest stockte ein niedriges Einkommen auf, befand sich in einer Maßnahme oder war krank. So stieg die Sanktionsquote trotzdem leicht von 3,1 auf 3,2 Prozent an. Diese Quote beziffert den Anteil der Sanktionierten an allen erwerbsfähigen Hartz-IV-Beziehern an einem monatlich ermittelten Stichtag. Im Dezember 2018 mussten gut 128.000 Menschen mit gekürztem Existenzminimum, als das Hartz IV deklariert ist, überleben. Durchschnittlich waren im Jahr 2018 in jedem Monat rund 132.200 Menschen sanktioniert. 

Sanktionsgrund Nummer eins: Verpasster Termin 

Erneut bestraften Jobcenter in mehr als drei Viertel aller Fälle die Menschen wegen eines versäumten Termins beim Amt oder ärztlichen Dienst. In diesem Fall wird das Budget – ein Alleinstehender erhielt im vergangenen Jahr 416 Euro – für ein Vierteljahr um zehn Prozent abgesenkt. Nur etwa jeder zehnte neu Sanktionierte hatte eine Maßnahme, eine Ausbildung oder einen Job abgelehnt oder abgebrochen. 

Die übrigen Betroffenen hatten andere Pflichten verletzt, etwa zu wenige Bewerbungen nachgewiesen oder ohne Abmeldung den Wohnort verlassen. Über 24-Jährigen kürzen Jobcenter dann die Leistung um 30, beim zweiten „Vergehen“ innerhalb eines Jahres um 60 Prozent und beim dritten Mal komplett. Den 15- bis 24-Jährigen wird beim ersten Verstoß sofort der Regelsatz gestrichen, beim zweiten fällt auch die Miete weg. 

Sanktionsquoten zwischen einem und 7,2 Prozent 

Die Jobcenter der Bundesländer drangsalierten unterschiedlich streng. Spitzenreiter war hier erneut Berlin. Dort lag die Sanktionsquote im Dezember bei 5,2 Prozent. Den zweiten Platz belegte Sachsen (3,7 Prozent), gefolgt von Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz (je 3,5 Prozent) sowie Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern (je 3,3 Prozent).

Auch einzelne Behörden agierten sehr verschieden. Am härtesten strafte das Jobcenter im Landkreis Freyung-Grafenau. Dort lag die Sanktionsquote im Dezember bei 7,2 Prozent. Dem folgten das Jobcenter Worms in Rheinland-Pfalz (7,1 Prozent), das Jobcenter Kreis Passau in Bayern (7,0 Prozent) sowie das Jobcenter Südwestpfalz (6,5 Prozent). Andere Jobcenter bewiesen hingegen, dass es auch milder geht. So lag die Sanktionsquote im Landkreis München Ende 2018 bei nur 1,0 Prozent, im ebenfalls bayrischen Neumarkt sowie in den hessischen Landkreisen Bergstraße und Hochtaunus bei 1,2 Prozent. 

Jugendliche, Migranten und Flüchtlinge besonders häufig vollsanktioniert 

Unter den Bestraften befanden sich im Jahr 2018 Monat für Monat zwischen 6.750 und 7.500 Vollsanktionierte. Ihnen wurde also nicht nur der komplette Regelsatz, sondern auch der Mietzuschuss für drei Monate gestrichen. Jeder Dritte davon hatte einen Migrations- oder Flüchtlingshintergrund, fast jeder Zweite war jünger als 25 Jahre. Damit waren diese sich überschneidenden Gruppen weit überproportional betroffen. 

Darüber hinaus waren 3,3 Prozent der Vollsanktionierten (monatlich rund 230) sogar minderjährig, etwa so viele wie im Vorjahr. Das geht aus einer Sonderauswertung hervor, welche die BA auf Anfrage der Autorin übermittelt hatte. Allerdings bezifferte diese nicht die Zahl derer, die darüber hinaus eine 100-Prozent-Sanktion erhalten hatten. Bei dieser wird, anders als bei einer Vollsanktion, der Mietzuschuss weiter gezahlt. 

Hintergrund ist, dass Jugendliche bereits mit 15 Jahren als voll erwerbsfähig gelten, sobald sie die Schule – aus welchem Grund auch immer – verlassen haben. Zuweilen traktieren Jobcenter sogar Schüler mit Aufforderungen, sich einen Nebenjob zu suchen. In den vergangenen Jahren hatte die Autorin mehrfach beim Bundesfamilienministerium angefragt, wie der Entzug des Existenzminimums bei Minderjährigen mit dem Jugendschutz zu vereinbaren sei. Konkrete Antworten gab es darauf nicht.

Sanktionsfolgen werden nicht statistisch erfasst 

Auch die BA drückt sich davor, gravierende Probleme, die diese harten Strafen verursachen, statistisch zu erfassen. BA-Sprecherin Vanessa Thalhammer erklärte auf Anfrage etwa, dass ihre Behörde nicht gesondert ermittle, wie viele Jugendliche und junge Erwachsene konkret pro Jahr sanktioniert würden, und wie viele davon eine 100-Prozent-Sanktion erhielten. Auch obdachlose Leistungsbezieher erfasse sie nicht. 

Werden Hartz-IV-Bezieher zu mehr als 30 Prozent sanktioniert, können sie beim Jobcenter Lebensmittelgutscheine als Sachleistung beantragen, um nicht zu verhungern. Diese haben aber viele Haken. Sie sind eine Kann-Leistung. Das heißt, dem Sachbearbeiter steht es frei, sie zu gewähren. Dazu verpflichtet ist er nur, wenn kleine Kinder im Haushalt leben. Zweitens gibt es diese nur in maximaler Höhe eines halben Regelsatzes. Drittens können davon weder Miete und Strom, noch Rechnungen oder Fahrtkosten bezahlt werden. Viertens sind sie nur in bestimmten Supermärkten einzulösen. 

Bestrafte hungern, werden krank und verlieren die Wohnung 

Die Auswirkungen der Sanktionen sind der BA aber zweifelsohne gut bekannt. Vor zwei Jahren etwa hatten die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zahlreiche Studien ausgewertet. Sie waren zu drastischen, aber kaum verwunderlichen Ergebnissen gekommen. So heißt es in dem im Februar 2017 veröffentlichten Papier, Sanktionen hätten "schwerwiegende negative Folgen für die Lebenslagen Betroffener". Dazu gehörten medizinische Unterversorgung, Nahrungsmangel bis hin zu Hunger, Zwangsräumungen, Stromsperren, psychische Probleme und sozialer Rückzug. Zudem rutschten Betroffene häufig in eine lang anhaltende Verschuldungsspirale. Einige rutschten in die Kleinkriminalität ab, um sich zu versorgen. 

Weiterhin stellten die Bundestagswissenschaftler fest: Es treffe vor allem Menschen, die mit der Bürokratie überfordert sind und bereits zuvor seelische Einschränkungen oder finanzielle Sorgen hatten. Jobcenter klärten Betroffene unzureichend oder gar nicht über ihre Rechte auf. "Ohne Unterstützung würden es viele nicht schaffen, ihre Ansprüche geltend zu machen", so die Autoren. Zudem habe nur ein Drittel der Sanktionierten Lebensmittelgutscheine erhalten, und wer sie bekam, habe sich "durchweg erniedrigt" gefühlt. 

Union, FDP, SPD und AfD befürworten teures Sanktionsregime 

Die Sanktionsbefürworter von der CDU/CSU über die FDP und die AfD bis hin zur SPD meinen, der Staat müsse strafen, um Betroffene zur Arbeit zu motivieren. Im Stellenpool der BA sind regelmäßig vor allem Niedriglohnjobs zu finden. Etwa ein Drittel aller Angebote ist Leiharbeit. So würden "die Steuerzahler" geschont. 

Dieses Argument ist unsinnig, da nicht nur Widerspruchsstellen und Gerichte jeweils rund 40 Prozent der Sanktionen am Ende wieder aufheben. Auch das Sanktionsregime verschlingt entsprechende Personalkosten. Die Bundestagswissenschaftler führten beides ad absurdum. Sie attestierten: "Die erzieherischen Wirkungen von Sanktionen auf das Verhalten ließen sich nicht als Aktivierung oder als Stärkung von Eigenverantwortung interpretieren." Eine Reaktion darauf blieb bis heute aus. 

Verfassungsrichter lassen sich Zeit beim Entscheiden 

Derweil tüftelt das Bundesverfassungsgericht seit fast drei Monaten an einem Urteil zu den Hartz-IV-Sanktionen. Am 15. Januar hatte es öffentlich dazu verhandelt. Grundlage war eine Beschlussvorlage des Sozialgerichts Gotha in Thüringen. Dieses hatte Kürzungen des Existenzminimums trotz Bedürftigkeit für verfassungswidrig eingestuft. Nach Meinung der Gothaer Richter verstoßen die Strafen gegen die Grundrechte auf Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und die freie Berufswahl.

Auf Anfrage hieß es zuletzt vor etwa zwei Wochen aus Karlsruhe, dass ein Entscheidungstermin noch immer nicht feststehe. Beobachter der Verhandlung gehen davon aus, dass die obersten Richter zumindest die harten Kürzungen ohne automatische Gewährung entsprechender Sachleistungen wahrscheinlich verbieten werden. Das besonders drastische Vorgehen gegen Jugendliche und junge Erwachsene sei zudem mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht vereinbar.

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