Der Brexit kommt - und wahrscheinlich schon Ende Oktober

Wird Großbritannien die EU am 31. Oktober endgültig verlassen? Oder wird diese Frist ein letztes Mal um einige Monate verschoben? Nur eines steht fest: Der Brexit wird stattfinden. Die erste Hypothese – der Austritt am Tag vor Allerheiligen – ist die wahrscheinlichste.
Der Brexit kommt - und wahrscheinlich schon Ende OktoberQuelle: www.globallookpress.com

von Pierre Lévy

In Sachen Brexit-Streit ist es nützlich, sich einige Bezugspunkte in Erinnerung zu rufen. Zum einen wird die "Saga", die Großbritannien durchlebt, von einer unglaublichen Abfolge von Inszenierungen, Kehrtwendungen, Handstreichen, Paukenschläge und endlosen parlamentarischen Verfahren geprägt, die der Normalbürger kaum mehr durchschauen kann. Zum anderen die Realität: Ein Referendum vom 23. Juni 2016, in dem das britischen Volk entschied, Brüssel bye-bye zu sagen... und eine Mehrheit von Abgeordneten, die mit allen Mitteln versucht den Beschluss zu kippen, mit der Unterstützung all jener Kräfte in der EU, die sich gegen den Volkswillen stellen.

Auf die eindeutige Frage "Soll das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?" gaben 51,9 Prozent der britischen Wähler eine unmissverständliche Antwort. Am 29. März 2017 übersandte London das offizielle Schreiben, in dem der Ausstieg aus der EU gesetzlich festgeschrieben wurde. Im Juni 2018 musste die große Mehrheit der Abgeordneten die legale Rückführung nationaler Kompetenzen beantragen und setzte für den Ausstieg aus der EU die Frist am 29. März 2019. 

Die EU-Anhänger haben jedoch zu keinem Zeitpunkt ihre Niederlage akzeptiert. Die Verhandlungen über einen Brexit-Deal zwischen dem Vereinigten Königreich und den 27 anderen EU-Mitgliedsstaaten lieferte den Vorwand für einen Kleinkrieg, der auf eine totale institutionelle Blockade hinauslief. So weigerten sich die Abgeordneten dreimal, ein von der damaligen Premierministerin Theresa May ausgehandeltes Abkommen zu genehmigen. Zudem haben sie auch acht mögliche Alternativen abgelehnt.

Kurzum: Das Unterhaus blockiert den Weg, ist aber zu gespalten, um einen Ausweg vorzuschlagen. Im Mai dieses Jahres wird Frau May von prominenten Vertretern ihrer konservativen Partei zur Aufgabe ihres Amtes gedrängt. Sie werfen May vor, schon viel zu viel Zeit mit der Suche nach einem Kompromiss mit der EU verbracht zu haben.  

Ihr Amt übernimmt Boris Johnson am 24. Juli. Seine einzige Losung: Umsetzung des Brexit-Beschlusses zum 31. Oktober, egal was kommt. Dazu musste er die Sitzungsperiode des gelähmten und lähmenden Parlaments für fünf Wochen aussetzen – was ungewöhnlich, aber legal ist. Ein "Staatsstreich!" schreien sowohl die Pro-EU Kräfte im Land als auch die führenden Medien in der EU, so als ob die dreijährige Weigerung des Parlaments, den Willen des Volkes umzusetzen, nicht der eigentliche Skandal wäre.

Anfang September wird dann im Westminster eine heterogene "Anti-Brexit-Front" mit dem offiziellen Ziel gebildet, einen harten Brexit zu verhindern. In Wirklichkeit dürfte es ihnen aber darum gehen, Brexit ganz zu verhindern. Dies ist beispiellos: Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte dafür, den Regierungschef zu ersetzen und ihn zu zwingen, von Brüssel eine neue Frist zu erbetteln – ein Antrag, der vom Europäischen Rat am 17. Oktober geprüft werden müsste. 

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Das Tüpfelchen auf dem i: Die Labour Party, die unermüdlich seit zwei Jahren vorgezogene Parlamentswahlen fordert – als einzige Möglichkeit, die Krise zu beenden – blockiert nun diesen Weg, der eine Zweidrittel-Abstimmungsmehrheit erfordert. Für die meisten Beobachter erscheint die Situation vollkommen festgefahren. Zumal eine weitere Verschiebung die Seifenoper verlängern würde, ohne dass sich irgendein Ausweg abzeichnet. 

Wenn kein neuer "Deal" zwischen Brüssel und London in der letzten Minute zustande kommt, gibt es für den Regierungschef (unter anderen möglichen Lösungen) folgende Option: Er kann sich über den Beschluss des Parlaments hinwegsetzen und sich weigern, Brüssel zum x-ten Mal um eine Verschiebung anzubetteln. Die Staats- und Regierungschefs der EU werden dann nicht in der Lage sein, einen Aufschub zu gewähren – und Großbritannien wäre ipso facto am Abend des 31. Oktober raus aus der EU. Eine Variante: Boris Johnson leitet parlamentarische Bitte formell an Brüssel weiter, weist aber darauf hin, dass seine Regierung sie nicht unterstützt.

Trotz des absehbaren Geschreis aller pro-EU Kräfte in und außerhalb Großbritanniens ist dieser Weg machbar. Denn das einzige Urteil, das folgen würde, wäre das der Wähler, da in diesem Fall mit Sicherheit ein Misstrauensantrag gegen Johnson im Parlament durchkäme. In den darauffolgenden Neuwahlen werden die Bürger sicherlich jenen belohnen, dem es nach 40 Monaten des Zauderns gelungen ist, endlich den gordischen Knoten zu durchschlagen. 

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Für den Bewohner der Downing Street 10 ist dieser Weg notwendig und gangbar. Und zwar vor allem aus einem Grund, der von vielen europäischen Analysten weitgehend unterschätzt wird: der große Überdruss der Wähler an einer grotesken, traumatischen und endlosen Seifenoper. Wir müssen es "hinter uns bringen" – das verkünden nicht nur die Befürworter des Brexits, sondern auch Teile derer, die gegen ihn gestimmt hatten, die aber wollen, dass das Ergebnis des Referendum 2016 respektiert wird, und die die Lähmung und Spaltung, die bis in die Familien hinreicht, nicht weiter mit ansehen wollen. 

Ein letzter Aspekt muss ebenfalls berücksichtigt werden: Falls der Premierminister zustimmen würde, den von den Abgeordneten geforderten Aufschub zu beantragen, müssen die 27 anderen EU-Länder diesem Anliegen einstimmig zustimmen – wofür es bislang keine Anzeichen gibt. Bisher hatten die EU-Führer im Umgang mit den Brexit-Briten vor allem eine Priorität: deutlich zu machen, dass der Austritt aus dem Staatenbund nur zum Chaos führen könne (um andere Nationen davon abzuhalten, diesen Weg zu beschreiten).

Aber dieses Chaos reicht ja schon über den Ärmelkanal hinaus. Insbesondere in Paris meint man, dass der wiederholte Aufschub zu drohenden wirtschaftlichen Unsicherheiten führt, ohne eine Lösung in Sicht zu haben. Dies hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bereits auf dem Europa-Gipfel am 10. April betont, bevor er widerstrebend dem insbesondere von Bundeskanzlerin Angela Merkel befürworteten Oktober-Termin zustimmte. 

Wie dem auch sei, wesentlich ist allein diese wichtige politische Tatsache: Im Juni 2016 hat das Volk in Großbritannien seinen Wunsch nach einem Austritt aus der EU deutlich gemacht (und es gibt keinen Hinweis darauf, dass es ihn rückgängig machen will). Die Zeiten sind vorbei, in denen man sich einfach über eine Volksabstimmung hinwegsetzen kann, wie bei den einstigen Referenden in Frankreich und den Niederlanden zum Lissaboner Vertrag, oder aber wie in Irland so oft abstimmen lässt, bis das Ergebnis der eigenen Wunschvorstellung entspricht.  

Diese Realität wollen jene nicht sehen, die gefesselt auf die nächste Episode der Brexit-Seifenoper starren, oder sogar glauben, dass sich die britische Bevölkerung letztendlich von diesen Manövern an der Nase herumführen lässt. Boris Johnson hat seine politische Glaubwürdigkeit an seine Fähigkeit geknüpft, den Willen des Volkes durchzusetzen. Ihm steht nun der Weg frei, seinen Worten Taten folgen zu lassen. 

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