Europa zum Jahresende 2018: Ein Bild des Jammers
von Pierre Lévy, Paris
London, Berlin, Rom, Madrid, Brüssel, Stockholm. Und Paris. Angenommen, ein überzeugter Europäer wäre vor einigen Jahren aus der EU abgereist und würde erst heute wieder dort landen – er wäre erschüttert, entsetzt, ja: wohl am Boden zerstört. Wohin er den Blick auch wendete, er sähe nur Trümmer und Verheerung. Angefangen bei einer Tatsache von historischem Ausmaß - im wahrsten Sinne des Wortes.
Denn zum ersten Mal wird ein Land diese Europäische Union wieder verlassen, ganz demokratisch entschieden. Gewiss, noch sind nicht alle Turbulenzen überstanden. Doch wird das Vereinigte Königreich – so oder so, vielleicht etwas später als einige erwartet hatten - wieder selbst die Kontrolle über seine Gesetze, seine Staatskasse, seine Grenzen übernehmen.
Was Deutschland angeht, so ist dieses Land seit den Wahlen im September 2017 in eine dauerhafte politische Instabilität gesunken. Katastrophale Ergebnisse bei Wahlen in einzelnen Bundesländern, eine wacklige "Große Koalition" und eine CDU-Parteichefin, die sich sehr drastisch zum Rücktritt gezwungen sieht: Niemand wagt einzuschätzen, wann das Chaos ein Ende nehmen könnte, das die Regierung in Berlin auf europäischer Bühne lähmt.
In Rom ist nun der Alptraum der Europäischen Kommission wahr geworden: Die barocke Koalition aus "Populisten" und "Extremen Rechten" ist an der Macht und fühlt sich keineswegs an die "heiligen" Regeln des Euro-Verbundes gebunden. Da werden zwar bisweilen mal Zeichen der Kompromissbereitschaft nach Brüssel geschickt. Tatsache bleibt aber: Eines der Länder, die über Jahrzehnte zu den größten Enthusiasten des Euro gehörten, hat das Lager gewechselt.
Spanien hatte sich noch vor einigen Monaten als eines der letzten Länder gerühmt, gegen solche "extrem Rechte" immun sein. Doch die Vox-Partei, bisher eine Randgruppierung, ist gerade mit Siegesfanfaren in das Regionalparlament von Andalusien eingezogen und nährt realistische Hoffnungen, sich mit der konservativen Partido Popular zu verbünden, um vielleicht schon 2019 in Madrid mit an die Macht zu kommen. Belgien ist gerade in eine Regierungskrise gestürzt. Schweden hat vier Monate nach den Wahlen noch immer keine Regierung gebildet.
Und falls unser gerade gelandeter europäischer Ureinwohner geneigt wäre, im Osten Trost zu suchen, würde er angesichts der dort gebotenen Schauspiele verzweifeln. Polen, und Ungarn noch mehr, stehen im Konflikt mit der EU, die gegen beide Staaten Verfahren wegen "schwerer Verletzungen des Rechtsstaates" eingeleitet hat. Rumänien ist dabei, sich bei den "unliberalen" schwarzen Schafen einzureihen, wenn auch gar mit einer sozialdemokratischen Regierung. Und ebendiese Regierung in Bukarest übernimmt am 1. Januar für sechs Monate die Präsidentschaft des Europarates.
In dem Trümmer- und Minenfeld, das Europa derzeit seinen Bewunderern bietet, darf man auch keineswegs Frankreich vergessen. Man könnte die Bewegung der Gelbwesten unter allen übrigen Mitgliedsstaaten, abgesehen vom Brexit, wohl sogar als weitreichendste und tiefgreifendste, und als für die europäische Integration gefährlichste Krise bezeichnen. Sie ist ursprünglich aus der mehr als legitimen Ablehnung einer zusätzlichen Ökosteuer auf Kraftstoffe entstanden, mit der nach offizieller Aussage Energiesparmaßnahmen aufgezwungen werden sollten, "um etwas gegen das Ende der Welt zu tun".
Diese Bewegung verbindet nun mit der gleichen Dynamik das Aufbrechen der sozialen Frage, indem sie offenlegt, dass Armut und soziale Notlage nicht nur das Schicksal der gesellschaftlich bereits Ausgeschlossenen sind, sondern Millionen von Haushalten betreffen, die zur arbeitenden Bevölkerung gehören. Das hat die Bedeutsamkeit einer nationalen Frage, wie die allgegenwärtige französische Fahne und die stets angestimmte Marseillaise deutlich machen.
Zwei Wörter sind als Leitmotiv immer wieder zu hören: Kaufkraft, damit man anständig leben kann, und Volkssouveränität, damit man gemeinsam über Wohl und Wehe entscheiden kann. Eine beschleunigte Politisierung im Selbstlauf, die sich in einen Satz fassen lässt: "Wir sind das Volk." Für einen französischen Präsidenten, der den schamlosen Reichtum und die übernommene Arroganz symbolisiert, ist das ein Pulverfass und wahrlich verheerend.
Sein Kurs ist nicht allein in Frankreich gefallen und weiter im Sinken begriffen. Er hat auch unter den EU-Eliten beträchtlich an Ansehen verloren, die in ihm noch vor einem Jahr den jungen, smarten, ja brillanten Retter der Union sahen. Insbesondere die deutsche Presse will ihm so gar nicht verzeihen, dass er von diesem Jupiter-Sockel gestürzt ist. Aus ist es mit den Hoffnungen auf "kühne" Reformen und europäische Ambitionen, von denen in seiner Rede an der Sorbonne vor einem Jahr so Frohlockendes zu hören war.
Am 10. Dezember nun hat der Herr im Élysée-Palast in seiner feierlichen Ansprache vor allem zwei Sätze überstrapaziert: "Meine einzige Sorge sind Sie" und "Mein einziger Kampf ist für Frankreich." Der Erste ist ungewollt doppelsinnig wie komisch, der Zweite natürlich glatt geschwindelt. Beide offenbaren aber die Kraft einer Bewegung, die diesen "Verfechter der europäischen Souveränität" gezwungen hat, Europa an jenem Abend abzuschreiben.
Nichts wird je wieder so sein wie zuvor.
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