Uschis Schicksalsgemeinschaft: Von der Leyens "Rede zur Lage der EU"
von Pierre Lévy
Jenes Ereignis ist natürlich weitgehend unbemerkt geblieben. Am 16. September hielt Ursula von der Leyen eine Rede, die von der kleinen Brüsseler Blase mit Spannung erwartet wurde. Von Lissabon bis Helsinki, von Neapel bis Sofia gibt es jedoch kaum einen Menschen, der die Präsidentin der Europäischen Kommission kennt – außer vielleicht in Deutschland. Und es gibt erst recht niemanden, der sich für das interessiert, was der EU-Mikrokosmos die SOTEU-Rede nennt. SOTEU, eine Art Passwort für Insider, steht für "State of the EU", die Lage der EU also.
Es sei darauf hingewiesen, dass dieser jährliche Brauch, der vor dem EU-Parlament stattfindet, von den Vereinigten Staaten übernommen wurde. Zu einer Zeit, als die EU-Prominenz noch von den "Vereinigten Staaten von Europa" träumte – ein Traum der Oligarchie, der glücklicherweise zur Chimäre geworden ist.
Jenseits der hohlen Phrasen, die für diese Art von Übungen üblich sind ("Es liegt an uns, was wir aus unserer Zukunft machen. Es liegt an uns, welches Europa wir wollen!"), hatten die Kommentatoren die Qual der Wahl, denn von der Leyens Rede war thematisch sehr breit gefächert.
Unter anderem sind zwei Punkte erwähnenswert. Ersterer ist die reumütige Demut vor der Natur. Für Frau von der Leyen hat COVID-19 "die Versäumnisse unseres Gesundheitssystems offengelegt" (die von der EU im Laufe der Jahre auferlegten Sparmaßnahmen, insbesondere im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen, hätten natürlich nichts mit diesem Versagen zu tun ...). Das Virus habe auch "die Zerbrechlichkeit unseres Planeten aufgezeigt, die wir jeden Tag mit dem Abschmelzen der Gletscher, den Waldbränden und heute mit einer globalen Pandemie erleben" (obwohl zwischen den ersten beiden Faktoren und dem dritten eigentlich keine tatsächliche Verbindung besteht).
All dies offenbare "die Zerbrechlichkeit von allem um uns herum". Für die Chefin der Brüsseler Exekutive liegt also folgende Schlussfolgerung nahe:
Für Europa ist die Zeit zum Handeln gekommen.
Einige Sätze weiter hämmert sie ihren Zuhörern ein: "Es ist jetzt höchste Zeit, an die Arbeit zu gehen." Was nicht gerade den Anschein erweckt, als handle es sich hierbei um ein Lob für ihre Vorgänger.
Und da Pädagogik ja aus der Kunst der Wiederholung besteht, drängt sie dazu, "uns zu beeilen, denn die Zukunft unseres zerbrechlichen Planeten steht auf dem Spiel". Teil des Menüs ist der sogenannte "Green Deal", der "Grüne Pakt", der für Brüssel immer noch höchste Priorität hat. Er ist keineswegs beiseitegelegt oder abgeschwächt worden, trotz der schwersten Rezession der europäischen Volkswirtschaften seit dem Zweiten Weltkrieg und des für diesen Herbst zu erwartenden Anstiegs der Arbeitslosigkeit.
Aber Ursula von der Leyen verdient Unterstützung:
Erst gestern erhielt ich einen Brief von 170 Wirtschaftsführern und Investoren, in dem Europa aufgefordert wird, sich [bei der Reduzierung der CO2-Emissionen bis 2030] ein Ziel von mindestens 55 Prozent zu setzen.
Ursprünglich waren 40 Prozent als Ziel vorgesehen. Die Präsidentin verpflichtete sich höchstpersönlich, dass dieses Ziel erreicht wird. Es sei daran erinnert, dass der "Grüne Pakt" schon weit vor 2030 etwa elf Millionen Arbeitsplätze in Sektoren wie Bergbau, Energie, Chemie, Stahlindustrie etc. direkt bedrohen wird, so die Einschätzung eines europäischen Gewerkschaftsführers, der selbst ein Befürworter des "ökologischen Übergangs" ist.
Aber die vor der Natur zur Schau gestellte, extreme Demut hat ihre Symmetrie in der vielfachen (leicht grotesken) Arroganz in der Weltgeopolitik. So erklärte von der Leyen wörtlich:
Europa ist entschlossen, diese Übergangszeit zu nutzen, um die Welt zu schaffen, in der wir leben wollen. Natürlich hört das nicht an unseren Grenzen auf.
Es folgt eine Liste von Forderungen, die an China gerichtet sind – in den Bereichen Handel, Klimawandel und Menschenrechte. Im letzteren Bereich ist jedoch Russland das Thema, das den größten Teil der Rede ausmacht. Einen Ehrenplatz in ihren Ausführungen nimmt der Blogger Alexei Nawalny ein. Für die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin verdient die These der von Moskau ferngesteuerten Vergiftung durch einen chemischen Nervenkampfstoff nicht den Funken eines Zweifels. Auch wenn die russische Führung nach wie vor die vom deutschen Militärlabor bestätigten "Beweise" verlangt.
Denn schließlich, so die Kommissionspräsidentin, hätten "wir das gleiche Muster zuvor in Georgien und der Ukraine, in Syrien und Salisbury gesehen – und bei der Einmischung in Wahlen weltweit". Frau von der Leyen nutzte die Gelegenheit, sich denjenigen anzuschließen, die die Fertigstellung der Pipeline Nord Stream 2 infrage stellen. Sie plant auch die Einführung eines "Magnitski-Gesetzes", das dem US-amerikanischen Gesetz nachempfunden ist und schnelle sowie gezielte Sanktionen gegen Einzelpersonen ermöglichen soll.
Die Türkei – sicherlich ein Paradies für Menschenrechte – wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Sie ist ein "wichtiger Nachbar und wird es immer sein", obwohl sie aufgefordert wird, Griechenland und Zypern nicht mit ihren militärischen Manövern und Bohrprojekten zu vergraulen.
Weder Saudi-Arabien noch Indien werden erwähnt, wichtige G20-Länder, in denen Meinungsfreiheit, religiöse Mäßigung und immenser Respekt vor oppositionellen Gegnern besonders hoch im Kurs stehen.
Andererseits hält die Kommissionspräsidentin ihre Emotionen nicht zurück, wenn es um Uncle Sam geht:
Wir sind vielleicht nicht immer mit den jüngsten Entscheidungen des Weißen Hauses einverstanden. Aber wir werden das transatlantische Bündnis immer in Ehren halten – aufgrund unserer gemeinsamen Werte und Geschichte.
Schließlich gibt es noch die von der EU bezeichneten "Freunde", die Gegenstand genauerer Betrachtung sind: "Europa wird immer bereit sein, enge Partnerschaften mit unseren engsten Nachbarn einzugehen. Das fängt mit dem Westbalkan an." Der "Westbalkan"? Der Begriff bezieht sich im Wesentlichen auf das ehemalige Jugoslawien, bei dessen Zerfall Berlin in den 1990er-Jahren eine Schlüsselrolle spielte. Von der Leyen weiter:
Die Zukunft der gesamten Region liegt in der EU. Wir haben dieselbe Geschichte und teilen dasselbe Schicksal.
Das Gute am "Schicksal" ist, dass es per Definition jenseits der menschlichen Entscheidungsmöglichkeiten liegt – wer würde es wagen, sich einem solch transzendenten, um nicht zu sagen göttlichen Willen entgegenzustellen?
Denn nach einer allgemein akzeptierten Definition ist das Schicksal "eine Macht, die nach bestimmten Vorstellungen den Ablauf von Ereignissen im Leben des Menschen, die als von höheren Mächten vorherbestimmt werden, mithin auch der Entscheidungsfreiheit des Menschen entzogen sind, unwiderruflich bestimmen würde". So bestanden die Verfasser der Verträge darauf, die Europäische Union als "Schicksalsgemeinschaft" zu definieren, um ihre Existenz vor dem Ärger, Protest und menschlichem Widerstand zu schützen.
Die "SOTEU" 2020 schloss mit einer "Lektion fürs Leben": "sich niemals von seinem Weg abbringen zu lassen". Auch und vor allem, möchte man fragen, wenn die Hindernisse die Völker selbst sind?
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