Der Fall Nawalny als Spielball geopolitischer Konfrontation
von Pierre Lévy
Sie ist definitiv merkwürdig, diese Nawalny-Sache. Für westliche Führungspersönlichkeiten und die sie unterstützenden Medien ist die Geschichte jedoch offensichtlich ganz einfach: Aus Angst vor der "Gefahr", die Wladimir Putins "bête noire" ("Hauptärgernis") für seine Macht darstellen würde, befahl der russische Präsident einfach seinen Spezialkräften, Alexei Nawalny zu liquidieren. Am 20. August benutzten diese ein starkes Gift aus der Familie der "Nowitschok"-Gruppe, einer Waffe, die laut einem Verwandten des Opfers "Putins direkte Handschrift" trägt.
Und um sicher zu sein, als Angeklagter dazustehen, hätte der Kreml Herrn Nawalny in Berlin ins Krankenhaus einliefern lassen, so dass die deutschen Ärzte die Art der in den Tests gefundenen Substanz tatsächlich "enthüllen" konnten. Nebenbei sei angemerkt, dass der Patient derzeit im Berliner Charité-Krankenhaus behandelt wird, einem der besten des Landes. Wobei aber gesagt werden muss, dass ein Militärlabor die Nowitschok-Schlussfolgerung gezogen hat.
Diese Schlussfolgerung hat – welch Überraschung – bestätigt, was vor allem deutsche Medien unverzüglich gemeldet hatten: Es wurden Spuren des berühmten Neurotoxikums gefunden. Ganz nebenbei strahlte TF1, der führende französische Fernsehsender, einen Bericht in seiner Hauptnachrichtensendung über die "lange sowjetische Tradition" der Vergiftung von Gegnern aus, die auf Lenins Einrichtung eines Laboratoriums zu diesem Zwecke zurückgehen soll.
Zu diesem Punkt konnte die Darstellung der sogenannten Tatsachen daher eine gewisse Verwirrung bei denjenigen hervorrufen, die versuchen, die rationale Plausibilität der Erzählung zu prüfen. Aber die Ereignisse und Erklärungen, die aufeinander folgten, werfen ein neues Licht auf den Fall.
Am 2. September erklärte Angela Merkel formell – und in einem für sie sonst nicht üblichen feierlichen Ton –, dass "es sich um einen versuchten Giftmord an einem der führenden Oppositionellen Russlands" handelt, und forderte dabei die russische Regierung auf, die "ernsthaften Fragen, die sich stellen", zu beantworten.
In den folgenden Minuten – und dieses Detail ist nicht unwichtig – kommen dann die Depeschen, in denen die Entrüstung und Verurteilung durch die westlichen Regierungen wiedergegeben wurden: unter anderem Paris, London, Washington und natürlich Brüssel. Alles geschieht so, als wären die Kommuniqués fertig gewesen und man nur den "Senden"-Knopf zu drücken brauchte, sobald das Signal aus Berlin kam. Es ist jedoch anzumerken, dass US-Präsident Donald Trump, der etwas später sprach, vorsichtiger und gemäßigter war als sein eigener Nationaler Sicherheitsrat.
Nawalny als Argument gegen Nord Stream 2
Vor allem, und das ist es, was insbesondere aufmerken lassen sollte, dauerte es nur wenige Stunden, bis Nord Stream 2 zum Thema wurde. Die Gaspipeline ist ein entscheidendes strategisches Projekt, das vor Jahren begonnen wurde, um die Lieferungen russischen Gases nach Deutschland (und in mehrere andere westeuropäische Länder) zu erhöhen. Das Projekt müsse gestoppt oder zumindest eingefroren werden, fordern nun viele deutsche Politiker. Ein Projekt, das bisher von Frau Merkel und einer Mehrheit der deutschen politischen Klasse unterstützt wird, das aber innerhalb dieser deutschen politischen Klasse nicht unumstritten ist: Es wird insbesondere von dem Flügel bekämpft, der die engsten transatlantischen Bindungen unterhält.
Das Projekt spaltet auch die Europäische Union: Einige Länder, darunter Polen und das Baltikum, machen keinen Hehl daraus, dass sie das Projekt schon immer zum Scheitern bringen wollten. Emmanuel Macron seinerseits ist ihm gegenüber diskret feindselig eingestellt. Die Hauptgegner befinden sich aber in Washington, wo eine parlamentarische Initiative gezielte Sanktionen gegen europäische Unternehmen beschlossen hat, die mit dem Projekt verbunden sind, was derzeit dessen endgültige Fertigstellung blockiert. Eine weitere Reihe noch härterer Sanktionen gegen Nord Stream 2 steht derzeit auf Initiative von drei US-Senatoren im Raum.
Stimmt die Theorie vom Attentat auf Nawalny? Vorerst steht das offizielle Wort Berlins gegen das Moskaus, der Kreml fordert bislang vergeblich die Beweise vom deutschen Labor ein. Aber nehmen wir an, der Vorwurf, Putin habe die Dissidentenpersönlichkeit auf diese Weise aus dem Weg räumen lassen, entspreche der Wahrheit. Dann kann man sich trotzdem fragen: Was hat das mit einem Projekt zu tun, das einen Teil der Energiezukunft Europas für die nächsten dreißig Jahre strukturiert?
Die meisten Kommentatoren ziehen in der Causa Nawalny eine Verbindung zur Skripal-Affäre. Moskau wird beschuldigt, auf den ehemaligen russischen Spion im März 2018 unter Verwendung der gleichen Substanz ein Attentat im englischen Salisbury verübt zu haben. Bereits in diesem Fall ließen mehrere Unwahrscheinlichkeiten Zweifel an der Anklage gegenüber Moskau aufkommen. Aber zumindest könnte man argumentieren, dass dieses Ereignis im Vereinigten Königreich stattgefunden hat. Im Fall von Herrn Nawalny handelt es sich um einen russischen Staatsbürger, der auf russischem Boden angeblich zum Opfer russischer Behörden wurde. Man kann sich sicherlich darüber moralisch entrüsten – aber ist dies an sich schon eine Sache für eine geopolitische Konfrontation?
Und außerdem, warum wurde der Aktivist Nawalny nach Berlin exfiltriert, in diesem Fall durch eine seltsame Berliner NGO namens "Cinema for Peace" (die man stattdessen "Szenario für Konfrontation" hätte nennen sollen).
Denn was in diesem Fall auffällt, ist die Geschwindigkeit, mit der eine Vielzahl von Politikern dafür plädiert hat, Nord Stream 2 zu torpedieren. Einer der Ersten, der dies tat, war der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Norbert Röttgen. Der CDU-Politiker forderte die Bundeskanzlerin nicht nur auf, das Projekt aufzugeben, sondern bestand auch auf der europäischen Dimension, die er den eingeforderten Sanktionen gegen Russland verleihen will. Diese Perspektive wird auf der nächsten außerordentlichen Tagung des Europäischen Rates am 24. und 25. September erörtert werden, auf der die Beziehungen zu Ankara einerseits und Minsk andererseits bereits jetzt eine hektische Tagesordnung versprechen.
"Wir müssen hart sein, denn Putin versteht nur diese Sprache", hämmerte Röttgen (der einer der Kandidaten für den CDU-Vorsitz und damit die Kanzler-Nachfolge ist). Er nutzte zudem die Gelegenheit, um zu fordern, dass der Elysée-Palast dem seit 2019 laufenden Dialog zwischen Paris und Moskau ein Ende setzt.
Als Beweis dafür, dass es sich um eine strategische Angelegenheit handelt (und die deutsche wirtschaftspolitische Oligarchie gespalten ist), warnte seinerseits der ehemalige Diplomat und immer noch einflussreiche Wolfgang Ischinger, dass ein Verzicht auf Nord Stream II vor allem den beteiligten westlichen Firmen schaden würde (was stimmt). Dann plädierte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) in diese Richtung und plädierte stattdessen für andere, weitere Sanktionen.
Etwa zur gleichen Zeit mischte sich der NATO-Generalsekretär in die Auseinandersetzung ein und stellte Sanktionen in Aussicht. Ohne dass man verstehen kann, wie es zu rechtfertigen ist, dass sich ein politisch-militärischer Block in die Angelegenheit einmischt – es sei denn, man beschließt, Truppen an der russischen Grenze zu mobilisieren (wovon die Tageszeitung Bild zu träumen scheint).
Vorerst muss man sich in Ermangelung faktischer und überprüfbarer Elemente davor hüten, irgendwelche Annahmen zu treffen. Doch kann es nicht schaden, den seit Jahrzehnten unangefochtenen Meister des Spionageromans, John Le Carré, (wieder) zu lesen. Sein jüngstes Werk, mit dem Brexit als Hintergrund, thematisiert beispielsweise eine gegen Europa gerichtete unsägliche amerikanisch-britische Verschwörung, Quelle geheimer Zusammenstöße zwischen politischen rivalisierenden Fraktionen in London.
Geschichte wird normalerweise von den Völkern geschrieben, nicht von Geheimagenten. Manchmal jedoch arbeiten diese für gegensätzliche Interessen innerhalb desselben Landes. Und das gilt ausnahmslos für alle großen Hauptstädte.
Das sollte zumindest zum Nachdenken anregen, bevor man die allzu einfachen Geschichten schluckt, die von den großen Medien im Fall Nawalny erzählt werden.
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