Doomsday? Atomkriegsgefahr? Wie langweilig! – Warum die Weltuntergangsuhr (fast) keinen interessiert
von Leo Ensel
Das amerikanische Wissenschaftsmagazin „Bulletin of the Atomic Scientists“ hat am 23. Januar die Zeiger seiner symbolischen Weltuntergangsuhr, die die Gefährdung der Menschheit, ja: des Planeten signalisiert, von zwei Minuten auf 100 Sekunden vor Mitternacht vorgerückt. Dies ist der dramatischste Wert seit Einführung der sogenannten ‚Doomsday Clock‘ im Jahre 1947 überhaupt.
Zur Erinnerung: Selbst im Jahr der Kubakrise lag der Wert bei ‚nur‘ sieben Minuten vor zwölf und sogar Mitte der Achtziger Jahre, als Europa sich bei kürzesten Vorwarnzeiten vollgestopft mit atomaren Mittel- und Kurzstreckenraketen sah, war die Frist mit drei Minuten noch fast doppelt so lang wie jetzt!
Glückliche Zeiten, als es, wie im Jahre 2012, ‚nur‘ fünf vor zwölf war! Idyllische Zeiten, als 1991 nach dem – vor allem der Politik der damaligen Sowjetführung zu verdankenden – Ende des ersten Kalten Krieges die Uhr auf ganze siebzehn Minuten vor zwölf zurückgestellt werden konnte! Der ‚entspannteste‘ Wert seit Einführung der Doomsday Clock überhaupt.
„Die Lage der internationalen Sicherheit ist gefährlicher als je zuvor!“
Selbstverständlich musste die erneute Verkürzung der Frist, wollte man sich nicht auf Zeugen-Jehova-Niveau begeben, begründet werden. Das haben die Wissenschaftler des Bulletins in Absprache mit dessen Förderausschuss, dem 13 Nobelpreisträger angehören, aber getan.
Neben den ungenügenden Maßnahmen gegen die Erderwärmung nannten sie explizit die Erhöhung der Atomkriegsgefahr unter anderen nach dem Ende fast sämtlicher Rüstungskontrollverträge wie dem INF-Vertrag, dem Austritt der USA aus dem Iran-Nuklear-Deal und der Absicht der Vereinigten Staaten, den New START-Vertrag nicht mehr zu verlängern sowie vom Vertrauen schaffenden Open-Skies-Vetrag zurückzutreten. Zudem wurde auf die zunehmend destabilisierende Wirkung von sogenannten Informationskriegen verwiesen.
Die Wissenschaftler wörtlich:
Der Klimawandel, der den Planeten verwüsten könnte, ist unbestreitbar im Gange. Ein die menschliche Zivilisation beendender Atomkrieg – ob durch Absicht, Fehler oder bloße Missverständnisse ausgelöst –, ist eine reale Möglichkeit. Die Welt schlafwandelt durch eine neuerlich instabile nukleare Landschaft.
Kurz: „Die Lage der internationalen Sicherheit ist nun gefährlicher als je zuvor – selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges.“
Natürlich waren die Abwiegler sofort Legion. Multiple Wahnvorstellungen wurden bemüht, den Autoren die wissenschaftliche Qualifikation abgesprochen. Die Meldung würde nur – ja, von was eigentlich? – ablenken. Von der Aufrüstungspolitik der USA? Vom erneuten geopolitischen Gerangel? Vom Kapitalismus überhaupt?
Wer die Warnungen des Bulletins für übertrieben, gar hysterisch hält, sollte in den nächsten Wochen mal aus dem Fenster schauen, wenn amerikanische Panzer im Rahmen des Großmanövers mit dem schönen Namen „US Defender Europe 2020“ wieder, wie zuletzt in den Achtzigern, durch deutsche Straßen rollen! Knapp 30.000 US-Soldaten werden dann, zusammen mit ihren NATO-Verbündeten zwar noch nicht den Krieg gegen Russland vorbereiten, jedoch die Kriegsführungsfähigkeit einüben – was wahrhaftig alarmierend genug ist!
Noch einmal: Nach Einschätzung des Bulletin of the Atomic Scientists ist es nicht etwa fünf vor zwölf – ganze 100 Sekunden trennen uns noch von der Totalkatastrophe!
So lesen wir es in den Zeitungen, so lesen wir es im Internet. Und wie reagieren wir darauf? Wie wir eben auf Zeitungsmeldungen reagieren: Gar nicht. Die dramatische Situation löst nicht nur keine Angst, keinen Schrecken – sie löst nur noch gähnende Langeweile aus! Gefahren, die man nicht hört und sieht, die überdies seit Jahrzehnten anhalten und scheinbar immer noch nicht eingetreten sind, existieren eben – für die Psyche – de facto nicht.
Die ‚Wurschtigkeit‘
Der unvergessene 1986 verstorbene Wiener Kabarettist Helmut Qualtinger hat diese Haltung der ‚Wurschtigkeit‘ bereits vor Jahrzehnten auf klassische Formulierungen gebracht, indem er seinen Herrn Karl in reinstem ‚Weanerisch‘ folgendes sagen ließ:
... man interessiert si’ nimmer so ... Es lasst halt alles nach ... zum Beispiel das Atomzeitalter ... hab kan Kontakt mit der Atombomben. Es ist außerhalb meines Interessengebietes ... Ich überlass des anderen Menschen ... mi fragt ja niemand ... bitte sollen sich die andern den Kopf zerbrechen. Wenn i mi zerstreuen will, brauch i ka Wasserstoffbomben ... i geh spazieren in Überschwemmungsgebiet …
In diesem genialen Text hat Qualtinger den Nagel auf den Kopf der Schwachköpfigen getroffen: Die Atomkriegsgefahr ist dadurch entschärft, nein: = Null, dass Herr Karl sich bescheidenerweise für sie „nicht interessiert“. Dadurch dass er außerdem über andere Mittel verfügt, um sich zu „zerstreuen“: „Wasserstoffbomben“ zu diesem Zweck also nicht „braucht“. Da er sich für sie nicht interessiert, kann er wohl von ihnen erwarten, dass sie sich fairerweise auch nicht für ihn interessieren werden. Durch diese magische Verwandlung der Wasserstoffbomben zu Mitbürgerinnen, mit denen er in keinerlei Beziehung steht, entschärft er sie ein für alle Male.
Herrn Karls – aber nicht nur etwa dieses Herrn Karl – Prinzip lautet: „Für wen ich mich nicht interessiere, der wird sich – soviel gegenseitige Rücksicht darf man von der Welt wohl noch erwarten – auch für mich nicht interessieren!“
Und da dies ja seit Jahrzehnten immer gut gegangen ist, haben wir auch weiterhin allen Grund, uns beruhigt zurückzulehnen.
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