"Frieden oder Krieg" – Russland aus zwei Perspektiven
von Leo Ensel
Es ist ein ungleiches Paar, das sich hier unter dem etwas reißerischen, Tolstois berühmtes Werk leicht variierenden Titel „Frieden oder Krieg“* zu einem gemeinsamen Buchprojekt zusammengefunden hat: Der Pionier der Berichterstattung aus der Sowjetunion und engagierte Befürworter wie publizistischer Begleiter der Entspannungspolitik Willy Brandts, der frühere ARD-Korrespondent Fritz Pleitgen (Jahrgang 1938), und der russische Schriftsteller Michail Schischkin (Jahrgang 1961), der seit 1995 in der Schweiz lebt.
Die Tunnelbauer
Schon im Vorwort machen die zwei klar, was sie alles trennt: Alter, Sprache, Ursprung, Vergangenheit. Aber beide lieben Russland, seine Kultur und seine Menschen. Und sie schätzen sich gegenseitig. Aus ihren gegensätzlichen Ansichten in vielen Punkten machen sie keinen Hehl. Also nahmen sie sich vor, unabhängig voneinander ihr Russlandbild zu beschreiben, oder um es in den Worten der Autoren auszudrücken, „den granitharten Berg ‚Russland‘ den jeweiligen Positionen entsprechend von entgegengesetzten Seiten zu durchbohren, selbst auf die Gefahr hin, uns nicht in der Mitte zu treffen.“ – Schauen wir uns an, wie weit die beiden Tunnelbauer bei ihrem gemeinsamen Projekt gekommen sind!
Ein genauerer Blick zeigt, dass es sich hier eigentlich um zwei in Stil und Ansatz sehr verschiedene Bücher handelt, die von der Lektorin a posteriori auseinandergeschnitten und so ineinander verschachtelt wurden, dass nun der Journalist und der Schriftsteller kapitelweise einander abwechseln. Pleitgens Buch im Buch basiert in erster Linie auf seinen Erfahrungen als Korrespondent Anfang der Siebziger Jahre in Moskau, später (1977-1982) in Ostberlin, Washington und New York (1982-1988) und dann gegen Ende der Gorbatschow-Ära wieder in Moskau. Schischkin dagegen malt ein Panorama über mehr als tausend Jahre russischer Gesellschaftsgeschichte von den Anfängen im neunten Jahrhundert bis hin zu Szenarien für eine kommende Post-Putin-Zeit, wobei er immer wieder auch auf die eigene Familien- und Lebensgeschichte rekurriert.
Der Journalist
Der Verfasser dieser Rezension gesteht, dass er als Kind des Kalten Krieges sich zunächst auf die Kapitel Pleitgens gestürzt und dessen Memoiren als Moskaukorrespondent bis hin zu seiner Einschätzung der gegenwärtig völlig verfahrenen russisch-westlichen Beziehungen in einem Rutsch verschlungen hat. Pleitgen ist ein Ost-West-Zeitzeuge par excellence. Er war der erste Westkorrespondent, der mit Leonid Breschnew ein Interview führte. Er war in Reykjavik, als es beim zweiten Gipfeltreffen zwischen Michail Gorbatschow und Ronald Reagan im Oktober 1986 zu einer ersten, damals noch temporären Annäherung in Sachen ‚nukleare Abrüstung‘ kam. Er interviewte Reagan im Vorfeld seines Bitburgbesuches 1985 und er war im Journalistenteam, als im Juli 1990 in Schelesnowodsk im Nordkaukasus – die berühmte Strickjackenszene! – der Durchbruch für die Deutsche Einheit gelang. Und Pleitgen war der letzte Journalist, der Michail Gorbatschow noch als Präsident der Sowjetunion unmittelbar vor dessen Abdankung interviewte.
Es ist ein faszinierendes Panorama, das Pleitgen entfaltet: Die gegensätzlichen hermetisch abgeriegelten Welten beider Machtblöcke, die Stagnation der Breschnew-Ära, erste vorsichtige Entspannungsschritte auf beiden Seiten, der Sowjetalltag, Kontakte mit Schriftstellern, Künstlern und Dissidenten sehr unterschiedlicher Couleur, die mühsame, aber Schritt für Schritt erfolgreiche Pionierarbeit beim Aufbau eines Korrespondentenbüros – all diese Puzzlestücke lassen in der Retrospektive nochmals die Welt des Kalten Krieges und das Leben in der Sowjetgesellschaft auferstehen. Und sie demonstrieren nebenbei anschaulich, wie sehr sich das heutige Russland – man mag von Putins autokratischem Führungsstil halten, was man will – von der ehemaligen Sowjetunion unterscheidet.
Pleitgen bleibt bei seinen Korrespondentenmemoiren, die eigentlich mit dem Zerfall der Sowjetunion enden müssten, nicht stehen. Er erzählt aus seiner Perspektive die Geschichte der Ost-West-Beziehungen bis zur Gegenwart. Aus seiner tiefen Enttäuschung über die verpassten Chancen seit dem Ende des Kalten Krieges, als für einen kurzen Moment lang Immanuel Kants Idee vom „Ewigen Frieden“ und Gorbatschows Vision vom „Gemeinsamen europäischen Haus“ wahr zu werden schienen, macht er keinen Hehl. Auch wenn er die Ereignisse um die Krim als Annexion bezeichnet, Russland einen Hybridkrieg in der Ostukraine vorwirft und in diesem Zusammenhang von doppeltem Völkerrechtsbruch spricht, macht er für das gegenwärtig katastrophale Verhältnis explizit „mehr den Westen als Russland verantwortlich“ und zitiert in diesem Zusammenhang den legendären amerikanischen Russlandkenner George F. Kennan: „Jeder Fehler ist das Produkt vorheriger Fehler.“
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Als Hauptfehler des Westens benennt Pleitgen als erstes die NATO-Osterweiterung, die er ohne Wenn und Aber auf das Streben der – mit dem Ende des Kalten Krieges in eine schwere Krise geratenen – amerikanischen Rüstungsindustrie nach neuen lukrativen Aufträgen zurückführt: „Der Westen nutzte die Schwäche Russlands rigoros aus. Russische Sicherheitsinteressen fanden keine Beachtung.“ Als zweites wirft Pleitgen dem Westen vor, 2013 die EU-Bindung der Ukraine nicht in ein europäisches Abkommen eingebettet zu haben, das Russland in eine Sicherheits- und Wirtschaftspartnerschaft mit der Europäischen Union eingebunden habe. Die militärische und emotionale Bedeutung des Marinestützpunkts Sewastopol für Russland habe der Westen beharrlich ignoriert. Pleitgen:
Russland wurde behandelt wie ein missgünstiger Störenfried. Putin wurde mit seinen Anliegen abgewiesen. Die EU walzte über alle Warnzeichen hinweg.
Pleitgen, über den mal jemand sagte, ohne ihn wirke der Rote Platz ziemlich leer, schreibt so, wie man ihn als ARD-Korrespondenten noch im Gedächtnis hat: Abgewogen, sachlich, mit leichtem Hang zum Understatement, bisweilen nicht ohne trockenen Humor. Seine nüchterne, gleichwohl tiefe, aber niemals blinde Zuneigung zu Russland und seinen Menschen schwingt in jedem Satz mit.
Der Schriftsteller
Das Bild, das Michail Schischkin über elf Jahrhunderte russischer Geschichte malt, ist dagegen durchgehend düster und bedrückend. Russland, so beschreibt es der Schriftsteller zwölf Kapitel lang in zahllosen Variationen, war von damals bis heute – bis auf ganz wenige, historisch nicht ins Gewicht fallende kurze Phasen – unter wechselnden Machthabern und Gesellschaftssystemen nahezu immer ein Ort der Despotie, in dem Angst, Lüge und Staatswillkür herrschten und die als Geiseln genommenen, lethargisch ihr Dasein fristenden Untertanen im Zweifelsfalle die Sicherheit ihres kümmerlichen Lebens dem Risiko individueller Freiheit vorzogen. Durch die Wahl der Orthodoxie zur Staatsreligion habe das vom Westen abgekoppelte Russland an dessen entscheidenden geistigen und gesellschaftlichen Umbrüchen wie Reformation und Aufklärung nicht partizipiert.
Schischkin sinniert in endlosen Spiralenschleifen über die Mechanismen der Macht und der Anpassung in Russland. Und da ja für ihn sich über Jahrhunderte hinweg in der Tiefenstruktur Russlands doch nichts änderte, spricht Schischkin konsequenterweise ein ganzes Buch lang durchgängig vom „Moskauer Ulus“ (Ulus: Provinz des mongolischen Reiches; L.E.) und vom „Russischen Großchan“ – unabhängig davon, ob damit aktuell nun die Zaren, Lenin, Stalin, Gorbatschow, Jelzin oder Putin gemeint sind.
Schischkins Text ist von einer Bitternis durchzogen, die vermutlich auch durch Familientraumata mitmotiviert ist. So erwähnt der Schriftsteller mehrfach seinen Großvater väterlicherseits, der, 1930 als Opfer der Stalinschen Zwangskollektivierung verhaftet, in einem sibirischen Arbeitslager starb. Schischkins Bruder war unter Andropow aus politischen Gründen mehrere Jahre in einem Straflager interniert.
Je weiter es in die Gegenwart geht, desto mehr stört allerdings unangenehm, dass Schischkin den Anteil des Westens an der Eskalationsdynamik der letzten Jahre und Jahrzehnte völlig ausblendet. Überhaupt scheint der Westen für ihn ein reiner Hort garantierter bürgerlicher Freiheiten bar jeglicher geopolitischer Interessen zu sein. Und bisweilen möchte man dem Schriftsteller vehement widersprechen, wenn er im Überschwang der Gefühle Behauptungen aufstellt, die definitiv nicht den Tatsachen entsprechen.
So spricht er beispielsweise vom „Überfall auf Georgien 2008“; die nun zu Russland gehörende Krim mutiert für ihn „von einem bunten Ferienort zu einem grauen Fleck, wo weder aus Russland noch aus der Ukraine jemand hinfahren will“; vom Westen beeinflusste ‚bunte Revolutionen‘ existieren für ihn nur im Kopf der um ihre Macht und Privilegien zitternden Moskauer Machthaber; er beklagt, dass die westliche Bereitschaft, „für Donezk Opfer zu bringen, in Deutschland eher gering ausgeprägt“ sei, während auf dem Maidan „106 Frauen und Männer ihr Leben für dieses Europa (gemeint ist die Europäische Union; L.E.) geopfert“ hätten; überhaupt ist der Westen feige „und wird sich immer zurückziehen.“
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Zum Schluss malt Schischkin gar apokalyptische Szenarien eines sich auflösenden Russlands in der kommenden Post-Putin-Ära. Dass er schließlich doch noch Hoffnungen in die russische Jugend setzt, wirkt vor dem Hintergrund seiner vorausgegangenen Ausführungen wenig plausibel.
Schischkins Lektüre macht auf Dauer depressiv. Regelmäßig atmet man am Ende eines Kapitels erleichtert auf, wenn man wieder in die nüchtern-abgewogene Welt Pleitgens eintauchen kann. Und man wird bisweilen den Eindruck nicht los, dass Schischkins kompromissloser Rigorismus Pleitgen in Inhalt und Gestus eigentlich an Andrej Sacharow erinnern müsste, der, laut Pleitgen, für Entspannungspolitik wenig bis nichts übrig hatte und vehement für Härte des Westens gegenüber der Sowjetunion plädierte.
Bilanz
Wie weit sind nun die beiden Tunnelbauer gekommen?
Beide Autoren hatten beschlossen, ihre Texte unabhängig voneinander zu verfassen. Das garantierte einerseits beiden maximale Freiheit, führt allerdings auch dazu, dass das erkennbar angestrebte Konzept der Perspektivenvielfalt nicht richtig aufgeht. Denn dazu hätte man sich auf eine Reihe von Teilaspekten einigen müssen, die dann kapitelweise von der einen wie der anderen Seite beleuchtet worden wären. So muss man sich diese Teilaspekte – deutlich wird das beispielsweise bei den unterschiedlichen Einschätzungen der NATO-Osterweiterung – mühsam aus den beiden Büchern im Buch zusammensuchen.
Da es also nie derselbe Gegenstand ist, auf den die Autoren sich abwechselnd beziehen, drängt sich zwangsläufig der Eindruck auf, dass beide aneinander vorbeireden. Und das tun sie denn auch. Realiter sind es zwei Monologe, die hier nebeneinanderher geführt werden.
Es sieht daher alles danach aus, als hätten die beiden sich nicht in der Mitte des ‚granitharten Berges‘ getroffen. Dafür liegen ihre Einschätzungen viel zu weit auseinander. Das allerdings ist keine Katastrophe. Denn wie es aussieht, bleiben die Autoren in freundschaftlich streitbarem Kontakt.
Und das ist in diesen angespannten Zeiten schon eine ganze Menge!
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* Fritz Pleitgen, Michail Schischkin: „Frieden oder Krieg. Russland und der Westen – Eine Annäherung“. Ludwig Verlag, München 2019, 20.- €
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