Neues Wettrüsten und kein Widerstand? – Warum es so schwer ist, Druck von unten aufzubauen

Spätestens seit der Kündigung des INF-Vertrages durch US-Präsident Trump zeichnet sich ein für Europa hochgefährliches neues atomares Wettrüsten ab. Warum ist dennoch keine internationale Friedensbewegung, die diesen Namen verdienen würde, in Sicht?
Neues Wettrüsten und kein Widerstand? – Warum es so schwer ist, Druck von unten aufzubauenQuelle: www.globallookpress.com © Global Look Press

von Leo Ensel 

In den letzten Jahren, besonders in der letzten Woche, ist ein Thema wieder in den Bereich der öffentlichen Wahrnehmung gerückt, das drei Jahrzehnte lang obsolet zu sein schien: Eine mögliche erneute Stationierung von Atomraketen und atomaren Sprengköpfen in Europa. 

So alarmierend die Entscheidung von US-Präsident Donald Trump, den INF-Vertrag einseitig zu kündigen, auch sein mag: Aus amerikanischer Perspektive handelt es sich hier nur um die konsequente Fortsetzung einer Politik der Aushöhlung und Zerstörung des gesamten Gebäudes von Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträgen aus der Zeit des (ersten?) Kalten Krieges. Es begann – wie der russische Präsident Wladimir Putin vor einiger Zeit zutreffend feststellte – mit der Kündigung des ABM-Vertrages 2001, setzte sich fort mit der Nichtratifizierung des KSE-Vertrags über die Abrüstung konventioneller Waffen in Europa und war mit der Stationierung eines, sich angeblich gegen Angriffe aus dem Iran richtenden Raketenabwehrsystems unmittelbar vor der russischen Haustür noch lange nicht fertig. 

Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, dass das nächste Opfer der noch von Obama und Medwedew ausgehandelte New-Start-Vertrag sein wird, bei dem beide Seiten sich auf eine Reduzierung ihrer Nukleararsenale auf je 800 Trägersysteme und 1.550 Atomsprengköpfe geeinigt hatten. Dass die im rheinland-pfälzischen Büchel lagernden 20 amerikanischen B61-Atomsprengköpfe mit einer Sprengkraft von je vier Hiroshimabomben in näherer Zukunft einer grundlegenden „Modernisierung“ – will sagen: qualitativen ‚Verbesserung‘ in Richtung Einsatzfähigkeit – unterzogen werden sollen, ist seit mindestens sechs Jahren, also lange vor der Ukrainekrise, kein Geheimnis mehr. 

Mit der Stationierung von Iskander-Kurzstreckenraketen im Kaliningrader Oblast hat Russland bereits im Sinne der wieder aktuell gewordenen Abschreckungslogik reagiert. Sollte es nicht doch noch allen Befürchtungen zum Trotz zu einer grundlegenden Neuorientierung der Rüstungskontrollpolitik kommen – eine der letzten Chancen dürfte das kommende Gipfeltreffen von Trump und Putin in Paris sein –, wird man sich in Europa und Russland, möglicherweise auch in einer Reihe an Russland grenzender asiatischer Staaten auf sehr ungemütliche Zeiten einrichten müssen. 

„Nicht Waffe, sondern Feind“ 

Was würden diese neuen alten Zeiten für die Bevölkerung in den betroffenen Ländern bedeuten, gesetzt den Fall, diese wäre nicht bereit, den Frieden nur den Politikern und Militärs zu überlassen, sondern entschlossen, dieser Politik eines neuen atomaren Wettrüstens als prospektive Opfer Widerstand von unten entgegenzusetzen? 

Der Philosoph Günther Anders, der wie kein anderer die Frage analysiert hat, was sich für die Menschheit geändert hat, seit sie in der Lage ist, sich selbst und sämtliches Leben auf diesem Planeten auszurotten, hat die für das Atomzeitalter notwendige Agenda bereits vor fast 60 Jahren auf die folgende klassische Formel gebracht:

Nicht Waffe, sondern Feind: Was wir bekämpfen, ist nicht dieser oder jener Gegner, der mit atomaren Mitteln attackiert oder liquidiert werden könnte, sondern die atomare Situation als solche. Da diese aller Menschen Feind ist, müssten sich diejenigen, die einander bisher als Feind betrachtet hatten, als Bundesgenossen gegen die gemeinsame Bedrohung zusammenschließen. 

Ein Postulat das, nebenbei bemerkt, nichts anderes war als die Vorwegnahme des Gorbatschow‘schen „Neuen Denkens“! 

Die Menschen, die einander bisher als Feind betrachtet hatten – oder, wie zu ergänzen wäre, wieder erneut beginnen sollen, sich als Feind zu betrachten –, sprich: Europäer (westlich der russischen Föderation) und Russen (genauer: die Menschen im postsowjetischen Raum) sowie die Menschen in den angrenzenden asiatischen Ländern, ja, amerikanische Bürger, die sich durch diese Entwicklung selbst bedroht sehen, müssten sich also gegen diese gemeinsame Bedrohung einer atomaren Vernichtung zusammenschließen. Denkt man das Anders‘sche Postulat konsequent zu Ende, so wäre also eine neue internationale Friedensbewegung  gefordert. 

Warum ist es so schwer, Druck von unten aufzubauen? 

Leider ist diese allerdings bislang nirgends in Sicht! Zwar gibt es beispielsweise in Deutschland einige versprengte Gruppierungen – dass diese es jedoch an Zahl und gesellschaftlicher Breite mit der westdeutschen Friedensbewegung der Achtziger Jahre aufnehmen könnten, als es in jedem bundesrepublikanischen Kuhkaff eine hochinformierte Gegenöffentlichkeit gab, wird wohl niemand ernsthaft behaupten. In den anderen westeuropäischen Ländern sieht es ähnlich aus. Warum also ist es so schwer, Druck von unten aufzubauen? 

Vergleicht man die heutige Situation mit der in den Achtzigern, so springen die Unterschiede deutlich ins Auge. Dass im Ernstfalle Europa, insbesondere beide deutsche Staaten, das Schlachtfeld der Supermächte sein würde, diese schreckliche Aussicht war, nicht zuletzt angesichts der unübersehbaren permanenten ausländischen Militärpräsenz, so offensichtlich, dass sie auf Dauer einfach nicht zu verdrängen war!

Entsprechend nahe lag es, namentlich zu Krisenzeiten wie anlässlich der Stationierung der amerikanischen Pershing II und Cruise Missiles, sich über gelagerte Waffensysteme, deren Effekte im Einsatzfalle, Militärstrategien sowie über Auswege aus der Rüstungsspirale und alternative Verteidigungskonzepte schlau zu machen. Erleichtert wurde dies nicht zuletzt dadurch, dass entsprechende Expertisen durchaus auch den Weg in die heute so genannten Mainstreammedien fanden. Der Stern zum Beispiel ging ein hohes Risiko ein, als er im Frühjahr 1981 eine Karte mit allen Atomwaffenstandorten in der alten Bundesrepublik – und später auch in der DDR – veröffentlichte. 

Heute, 30 Jahre später, ist das allgemeine Bewusstsein über die Gefährlichkeit atomarer Sprengköpfe und anderer Massenvernichtungsmittel längst nicht mehr so ausgeprägt, was nicht nur für weite Teile der Bevölkerung, sondern – schlimmer! – auch für den Großteil der verantwortlichen Politiker und tonangebenden Journalisten zu gelten scheint. Dreißig Jahre ohne atomare Kurz- und Mittelstreckenraketen, das unschätzbare Erbe Gorbatschows!, scheinen uns alle etwas eingeschläfert zu haben! Die Bedrohung, sollte sie überhaupt als solche perzipiert werden, hat sich aus mitteleuropäischer Perspektive um rund tausend Kilometer nach Osten verlagert. (Dass dies im Ernstfall natürlich nicht den geringsten Unterschied machen würde, steht auf einem anderen Blatt.) Kurz: Gefühlte und reale Bedrohung klaffen weit auseinander! 

Hinzu kommt ein sozialpsychologisches Gesetz: Große Massen von Menschen werden in der Regel dann aktiv, wenn einschneidende qualitative Verschlechterungen der Gesamtlage entweder kurz bevorstehen (Nachrüstung in den Achtziger Jahren) oder sich unmittelbar zuvor ereignet haben (Reaktorkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima). Gegen schleichend auftretende Katastrophen, wie den Klimawandel oder die bislang kontinuierlich wachsenden Spannungen zwischen dem Westen und Russland, lassen sich erheblich weniger Menschen mobilisieren. 

Was tun? 

So sehr es nach klassischer „Verelendungstheorie“ klingen mag: Im Falle der Kündigung des für Europa – und damit ist Russland als europäisches Land, das zu weiten Teilen in Asien liegt, ausdrücklich mitgemeint –, im wahrsten Sinne existenziellen INF-Vertrages durch Trump, könnte die ‚kritische Masse‘, was die reale und gefühlte Bedrohung angeht, möglicherweise erreicht sein. Vielleicht besteht ja nun die Chance für eine breite und internationale Gegenbewegung! 

Es wäre nicht schlecht, wenn diejenigen, denen eine Friedensbewegung 2.0 am Herzen liegt, sich jetzt schon mal auf die qualitativ neue Situation vorbereiten würden. Wünschenswert wären zum Beispiel kurze verständliche Infomaterialien über die Genese des neuen Ost-West-Konfliktes, die neue militär- und geopolitische Lage in Europa und auf dem gesamten eurasischen Kontinent, die Erstellung eines neuen „Militarisierungsatlas Bundesrepublik Deutschland“ (einen solchen gab es in den Achtzigern) sowie der Aufbau von Netzwerken im realen und virtuellen Raum. Letzteres dürfte – ganz im Gegensatz zur ideologisch und real hermetisch getrennten Welt des ersten Kalten Krieges – im Zeitalter des Web 2.0 die internationale Zusammenarbeit, insbesondere derjenigen, die sich offiziell wieder als Feinde betrachten sollen, sehr erleichtern.

Es gibt eine Menge zu tun. Packen wir es an! 

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