Retten, was zu retten ist! - Vom Gemeinsamen Haus Europa zum Europa der Zusammenarbeit mit Russland
von Leo Ensel
Glaubt man einigen führenden russischen Publizisten, so ist die Gorbatschowsche Idee des so genannten Gemeinsamen Europäischen Hauses für die offizielle russische Politik - und möglicherweise auch für breite Kreise der Bevölkerung Russlands - mittlerweile endgültig gestorben. So konstatierte der ehemalige russische Außenminister Igor Iwanow vor einiger Zeit trocken:
Ein Zurück zum Herbst 2013 wird es definitiv nicht geben. Wir driften auseinander - nicht für Jahre, sondern für Jahrzehnte!
Nimmt man dieses Statement einmal als aktuellen Worst Case und verweigert man sich jeglichem Wunschdenken, dann stellt sich für alle Menschen, die eine nachhaltige Deeskalation im neuen Ost-West-Konflikt anstreben und bislang im Gemeinsamen Europäischen Haus die übergeordnete Lösungsvision sahen, die Frage nach einer Alternative. Bevor nun Resignation ausbricht oder völlig neue Konzepte angedacht werden, könnte es hilfreich sein, trotz allem nochmals zur Idee des Gemeinsamen Europäischen Hauses zurückzukehren, um zu untersuchen, welche Momente dieses Konzeptes auch unter veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen in die heutige Zeit und die nähere Zukunft hinübergerettet werden könnten - falls die relevanten politischen Akteure im Westen (USA/EU) und in Russland den festen Willen dazu haben sollten.
Konstruktive Hinweise in diese Richtung hat in jüngster Zeit bezeichnenderweise Iwanow selbst geliefert:
Zu lange haben wir versucht, dieses Haus vom Dach aus zu bauen statt vom Fundament - mit mehr politischen Deklarationen als konkreten Taten. […] Deshalb scheint es derzeit am praktischsten und effizientesten zu sein, rund um konkrete Themen die Kooperation zu suchen, bei denen die Interessen objektiv die gleichen sind.
Eine genauere Untersuchung wird zeigen, dass sich die meisten so genannten Essentials - guten Willen allerseits vorausgesetzt - als Einzelprojekte auch außerhalb des Konzepts des Gemeinsamen Europäischen Hauses verwirklichen ließen. Unabdingbare Voraussetzung dafür wäre allerdings der Abschied von einer Wertedebatte, die ohnehin stets voluntaristisch konstruiert und politisch instrumentalisiert ist. Wünschenswert wäre zugleich eine zeitlich parallele, schrittweise Entschärfung der Politik des wechselseitigen Nullsummenspiels zwischen dem Westen und Russland.
Im Wesentlichen zeichnen sich vier Handlungsebenen ab: Die militärisch-politische Ebene, die Ebene der Politik im engeren Sinne, die ökonomische und die zivilgesellschaftliche Ebene. Auf all diesen Ebenen gilt es für die Befürworter einer Politik der Deeskalation, übergeordnete realistische Nah- und Fernziele zu entwickeln.
Die militärisch-politische Ebene
- Oberstes Ziel ist und bleibt die Verhinderung eines 'heißen Krieges' zwischen Russland und dem Westen.
- Nimmt man dieses Ziel ernst, so müssen ebenfalls sämtliche Schritte, die ein Abgleiten in einen (alten oder neuen) Kalten Krieg bedeuten würden, im Ansatz unterbunden werden. Im Einzelnen würde dies u.a. bedeuten:
- Strikte Einhaltung sämtlicher Verträge zur Abrüstung und Rüstungskontrolle;
- Deeskalation in der Wortwahl;
- Wiederbelebung eines kontinuierlichen Dialoges zwischen NATO und Russland zur Verbesserung der Kommunikation, des Informationsaustausches und der Transparenz im Rahmen alter oder neu zu schaffender multilateraler Formate;
- Rückzug aller Truppen an den Nahtlinien zwischen NATO und Russland sowie Rückzug sämtlicher Waffensysteme, die eine - im schlimmsten Falle nicht mehr zu kontrollierende - Eskalation provozieren könnten;
- sofortiger Stopp sämtlicher Demonstrationen militärischer Stärke im internationalen Raum - in der Luft, zu Wasser, auf dem Lande und im Kosmos - auch wenn diese nicht gegen geltendes internationales Recht verstoßen sollten; Ziel: Verhinderung weiterer 'Dangerous Brinkmanships';
- Stopp der Kampfhandlungen in der Ukraine und Einfrieren des Ukraine-Konfliktes auf der Basis des Abkommens Minsk II sowie Verhinderung weiterer Stellvertreterkonflikte innerhalb und außerhalb des postsowjetischen Raumes;
- sofortiger Stopp sämtlicher einseitiger Aktivitäten zur Erstellung eines Raketenschutzschildes;
- sofortiger Stopp einer Modernisierung bzw. Neustationierung von Atomwaffen auf europäischem Gebiet zwischen dem Atlantik und dem Ural sowie der Stationierung von Trägersystemen im Mittel- und Kurzstreckenbereich; parallel dazu: Aufnahme von Verhandlungen zwischen NATO und Russland mit dem Ziel eines atomwaffenfreien Europa vom Atlantik bis zum Ural;
- Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen NATO und Russland zur schrittweisen Reduktion der strategischen nuklearen Waffensysteme sowie zur Kontrolle und Beschränkung konventioneller Waffensysteme;
- Einrichtung eines entmilitarisierten Korridors zwischen osterweiterter NATO und Russland;
- Aufwertung der OSZE; Start eines neuen Helsinki-Prozesses mit dem Ziel einer neuen Entspannungspolitik und einer erneuerten Pariser Charta auf der Basis des Verzichtes auf die Androhung und Anwendung von Gewalt sowie des Respektes der staatlichen Souveränität und der Unverletzlichkeit von Grenzen;
- Stopp der weiteren räumlichen Ausdehnung der NATO sowie Aufnahme von Verhandlungen zwischen NATO und Russland mit dem Ziel einer neuen transatlantischen Sicherheitsstruktur unter gleichberechtigter Einbeziehung Russlands.
Die Ebene der Politik im engeren Sinne
- Oberstes Nahziel könnte hier in den Worten Igor Iwanows sein: "Unser gemeinsames Ziel ist es, diese gefährliche Periode mit so wenigen Kollateralschäden wie möglich zu überwinden."
- Auf der politischen Ebene wären alle Akteure gefordert, durch kalkulierte Schritte einseitiger Vorleistungen auf materieller und symbolischer Ebene (z. B. Visafreiheit) die sich selbst verstärkende Eskalationsspirale zu durchbrechen.
- Für die Staaten des postsowjetischen Raumes sollten die Verantwortlichen auf politischer, militärischer und ökonomischer Ebene stets Modalitäten suchen, die diese Staaten von einer Entweder-Oder-Alternative zwischen Russland und dem Westen entbinden.
- Nach einem Einfrieren des Ukraine-Konfliktes gilt es, für die Krim eine Lösung zu finden, die deren staatliche Zugehörigkeit a posteriori völkerrechtlich korrekt regelt.
- Die im Zuge des Ukraine-Konfliktes verhängten Sanktionen sollten allseitig zurückgenommen werden.
- Eine konstruktive gleichberechtigte, projektbezogene Zusammenarbeit zwischen dem Westen und Russland sollte überall dort Platz greifen, wo gemeinsame Interessen vorliegen, z. B. bei der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus, den Anti-Proliferationsbestrebungen spaltbaren Materials, dem Klimawandel und vielem mehr. Erste erfolgversprechende Ansätze dieser projektbezogenen Zusammenarbeit waren die Aushandlung des Minsker Abkommens sowie das Atomabkommen mit dem Iran.
- In dem Maße, im dem der Konfrontation eine erfolgreiche Kooperation auf begrenzten Gebieten entgegengesetzt wird, erhöhen sich auch die Chancen, die Logik der Eskalation nach und nach zu durchbrechen.
Die ökonomische Ebene
- Die bislang erzielten Formen wirtschaftlicher Kooperation zwischen dem Westen und Russland sollten auch unter den Bedingungen der gegenwärtigen Sanktionen, soweit es irgendwie geht, Fortsetzung finden.
- Nach einer allseitigen Aufhebung der Sanktionen gilt es, die vorübergehend gekappten Kooperationen so rasch wie möglich wiederaufzunehmen und auszubauen.
- Wechselseitige wirtschaftliche Verflechtungen, z. B. im Energiesektor, sollten gezielt angestrebt, gefördert und gefestigt werden.
- Ein gemeinsamer Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok ist ein Ziel, das anzuvisieren und konsequent zu verfolgen ist.
Die zivilgesellschaftliche Ebene
- Ein oberstes Ziel auf der zivilgesellschaftlichen Ebene wäre es, den Prozess der zunehmenden Entfremdung zwischen den Menschen in Russland und dem Westen zu stoppen und eine neue 'Kultur des Zuhörens und des direkten Dialoges' zu implementieren.
- Erste Priorität hätte hier die Rekonstruktion des Vertrauens auf sämtlichen Ebenen.
- Vertrauen kann weder befohlen noch als reiner Willensakt im Senkrechtstart wiederhergestellt werden. Die Rekonstruktion des Vertrauens bedarf neben dem unbedingten Willen nicht zuletzt auch der Anwesenheit förderlicher Rahmenbedingungen, die alle Seiten zu einer Zusammenarbeit an gemeinsamen Projekten inspirieren. Sollten diese Kooperationen erfolgreich verlaufen, so wird zugleich auch Step by Step das Vertrauen wieder wachsen können. Die offizielle Politik hätte hier - guten Willen vorausgesetzt - zahlreiche Möglichkeiten, zivilgesellschaftliche Initiativen durch die Förderung geeigneter Rahmenbedingungen zu unterstützen.
- Die Rekonstruktion des Vertrauens stellt eine 'Querschnittsaufgabe' dar, die im Rahmen sämtlicher bi- und multilateraler Kontakte (wirtschaftliche Kontakte, Städtepartnerschaften, Jugendaustausch, interkonfessionelle Dialoge sowie im Sport) gezielt anzugehen ist.
Vorläufiges Fazit
Sollten die veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen die Realisierung des Gemeinsamen Hauses Europa in unabsehbare Ferne rücken, so würde sich der Verlust dieser Vision bei genauerer Betrachtung dann nicht als Katastrophe erweisen, wenn sämtliche Seiten bereit wären, stattdessen kleinere Brötchen zu backen - und dies auch tatsächlich zu tun. Vom Druck der immer schwerer erreichbaren Vision und von der Last end- und fruchtloser Wertedispute befreit, könnte ein pragmatisches projektbezogenes Vorgehen den Ausstieg aus der Eskalationsspirale und die Rekonstruktion des Vertrauens erleichtern und damit das friedliche Zusammenleben in Europa möglicherweise sogar besser befördern.
Mit anderen Worten: Statt sich durch einen - endgültigen oder vorläufigen - Verlust der Vision des Gemeinsamen Hauses Europa in lähmende Resignation treiben zu lassen, sollten die Befürworter einer Politik der Deeskalation ihre Energie auf ein etwas weniger ambitioniertes und bodenständigeres Projekt richten und ein Europa der Zusammenarbeit um konkrete Anlässe herum aufbauen.
Die wesentlichen Momente der ursprünglichen Vision ließen sich in diesem pragmatischeren Rahmen genauso gut, womöglich noch leichter realisieren.
Dr. Leo Ensel ("Look at the other side!") ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Autor einer Reihe von Studien über die wechselseitige Wahrnehmung von Russen und Deutschen. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Erkundung und Bewusstmachung der Bilder, die Menschen sich einerseits von sich selbst und ihrem Land und andererseits von Anderen und fremden Ländern machen und wie diese Bilder ihr Handeln bestimmen. Im neuen Ost-West-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens.
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