von Leo Ensel
Deutschland, Ende 2021
Die Kluft zwischen Journalisten der Leitmedien und "Lügenpresse!" grölenden Demonstranten ist mittlerweile unüberbrückbar. Arroganz auf der einen, abgrundtiefes Misstrauen auf der anderen Seite. Eine auf Argumenten basierende sachliche Debatte, beispielsweise zwischen Kritikern bestimmter Maßnahmen der staatlichen Corona-Politik und deren Befürwortern, erscheint kaum noch möglich. Drastische verbale Attacken gegen Ungeimpfte in den Kommentaren der Tagesthemen und Fackelaufzüge vor dem Privathaus einer Ministerin, gar Morddrohungen gegen einen Ministerpräsidenten signalisieren den dramatischen Niedergang einer zivilisierten Streitkultur, ohne die kein Gemeinwesen auf Dauer fortbestehen kann. Und die Polarisierung zwischen sogenannten "Russland- oder Putin-Verstehern" und den über 90 Prozent des Establishments, die die offizielle Politik bestimmen oder via Medien und Think Tanks publizistisch und fachlich promovieren, ist seit Jahren völlig festgefahren. Wer es auch nur wagt, für einen Moment die Perspektive der russischen Seite einzunehmen und zu erläutern, gilt postwendend als Spion oder Verräter, bestenfalls als naiv! Die Auseinandersetzungen – sollten sie überhaupt noch stattfinden – gleichen den Grabenkämpfen im Ersten Weltkrieg.
Und dies sind nur drei der herausragenden Beispiele.
Die Krise der Debattenkultur
Charakteristisch für die Lagerbildungen ist nicht zuletzt auch, dass sie mittlerweile feste Narrative samt passendem, als "Vereinsabzeichen" fungierendem "Wording" kreiert haben. Und dies gilt nicht nur für das sich epidemisch ausbreitende Gendersternchen, inclusive – wer bestimmt die eigentlich? – 'korrekter' Aussprache oder die bandwurmartig anwachsende Formel von den (Stand Dezember 2021) LGBTQI*-Menschen. Wer von "Flüchtlingen" spricht, erweist sich als Reaktionär, mit "Geflüchteten" dagegen ist man (noch) auf der sicheren Seite. Ein bestimmtes Land östlich von Polen wird seit Sommer letzten Jahres in den Öffentlich-Rechtlichen und anderen Leitmedien ausschließlich als "Belarus" bezeichnet, "Weißrussland" nehmen nur noch die Putin-, gar Lukaschenko-Knechte in den Mund.
Und dem "Wording" wohnt meist eine Tendenz zur Selbstradikalisierung inne, wie nicht nur die oben genannte Bandwurmformel oder die Karriere des geschlechterintegrativen "Binnen-I" demonstriert, das über den Unter_Strich zum Gender*Sternchen oder neuerdings zum Doppel:Punkt mutierte. Wer sich auf das Feld der sogenannten "Political Correctness" wagt, findet sich schnell auf Glatteis wieder. Was heute als "woke" gilt, kann morgen schon als rassistisch oder sexistisch entlarvt werden!
Wie auch immer: Ein Gemeinwesen, das nur noch aus isolierten, wie die Leibnitz'schen "fensterlosen Monaden" gegeneinander abgekapselten Filterblasen besteht, wird zunehmend dialogunfähig und polarisiert sich auf Dauer bis zur Schmerzgrenze – im schlimmsten Falle bis zu dem Punkt, wo Hass in physische Gewalt umschlägt!
Mechanismen der Polarisierung
Die ehemalige Russlandkorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, hat im Herbst letzten Jahres ein Buch vorgelegt, dessen Anliegen es ist, dieser verhängnisvollen Tendenz entgegenzuwirken. Ihr Band "Respekt geht anders – Betrachtungen über unser zerstrittenes Land" ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine zivilisierte Streitkultur, jenseits des aktuellen aggressiven gesellschaftlichen Klimas, dessen Amplitude sich mittlerweile von Selbstgerechtigkeit und Intoleranz über die persönliche Verunglimpfung Andersdenkender bis zum puren Kampfmodus spannt. Das Echo in den Qualitätsmedien war, sagen wir es so: überschaubar! Die Anzahl der Rezensionen hielt sich in engen Grenzen, was bei einer Bestsellerautorin zwar ungewöhnlich ist, allerdings durchaus auch als unfreiwillige Bestätigung ihrer Gesellschaftsdiagnose gelesen werden kann.
Umso bemerkenswerter und ermutigender, dass dieser schmale, aber gehaltvolle Band bereits seine dritte Auflage erlebt. Teile unserer Gesellschaft scheinen offenkundig auch ohne große Medienpromotion für diesen Weckruf noch erreichbar zu sein. Es ist wie mit den 80 Prozent der Deutschen, die sich aller Stimmungsmache der Leitmedien zum Trotz seit Jahren für ein besseres Verhältnis zu Russland aussprechen: Die öffentliche Meinung ist auch hier viel weiter als die veröffentlichte!
Die Autorin beschreibt in nüchternem Ton und einfachen Worten anhand zahlreicher Beispiele die Mechanismen der Polarisierung, die die Debattenkultur in unserem Lande zunehmend bestimmen. Es sind dies im Wesentlichen: ein Denken in binären Alternativen, eine überdramatisierte Weltsicht, eine moralisierende Aufladung des Diskurses, die selbst Sachthemen in Gut-Böse-Schemata presst, sowie die Diffamierung und Ausgrenzung Andersdenkender. Eingebettet wird diese Diagnose in eine Analyse der Krise der Medien, die sich zu Internetzeiten rasanter als jemals zuvor zu "Aufmerksamkeitshändlern" entwickeln.
Schauen wir uns exemplarisch das Denken in binären Alternativen etwas genauer an.
Entweder – oder
Gabriele Krone-Schmalz geht von einer Annahme aus, die auf den ersten Blick überraschen mag: "Unsere gespaltene Gesellschaft ist sich im Grunde über die großen Ziele einig. Die Menschen wollen Frieden und keinen Krieg, sie wollen weder unter extremen Hitzewellen noch unter Stürmen oder anderen Wetterextremen leiden, und sie wollen mit ihren Lieben ein auskömmliches Leben führen. Große, erstrebenswerte Ziele, die aller Mühen wert sind, sich jeden nur denkbaren Gedanken darüber zu machen, wie man sie am besten erreichen kann."
Hat man sich diesen unausgesprochenen Grundkonsens einmal klar gemacht, fällt es erheblich leichter, zu vielen polarisierten Debatten eine etwas gelassenere Distanz einzunehmen und den lautstark kommunizierten falschen Alternativen nicht auf den Leim zu gehen. Denn man kann, wie die Autorin überzeugend ausführt, zum Beispiel "Fridays for Future" begrüßen, ohne sie gleich heilig zu sprechen; für Gleichberechtigung kämpfen, ohne jedes Wort mit einem Sternchen zu verwenden; eine offene Einwanderungspolitik fordern, ohne die Kontrolle über die Grenzen aufgeben zu wollen; sich der deutschen Vergangenheit stellen, ohne permanent mit gesenktem Blick durch die Gegend zu laufen. Und man kann (könnte!) auch – wenn man das will (wollen würde) – gute Beziehungen zu Polen und zu Russland unterhalten.
Stattdessen werden – so Krone-Schmalz – im öffentlichen Diskurs Ideen, Vorschläge und Überlegungen – je nachdem, aus welchem Lager sie kommen – reflexartig verklärt, verteufelt oder erst gar nicht zur Kenntnis genommen. In der Folge "schaukeln sich die Auseinandersetzungen auf, und diejenigen, die das 'Sowohl-als-auch' mitdenken und sich um Verständigung bemühen, werden beiseitegeschoben, eben weil sie sich nicht sklavisch auf eine Seite stellen wollen".
Ein Denken in den Kategorien von "Entweder-oder" befördere zwangsläufig die Polarisierung. Damit werde eine Unversöhnlichkeit suggeriert, der bei genauerer Betrachtung die Grundlage fehle. "Demgegenüber enthält sein Widerpart, das 'Sowohl-als-auch' in sich schon den Kompromiss und bietet die Chance, die unterschiedlichen Lager zusammenzuführen, indem es Widersprüche integriert." Kompromisse aber "sind das Schmiermittel der Demokratie. Ohne Kompromisse kann unser politisches System nicht funktionieren".
Der gesunde Menschenverstand
Man sieht, es geht der Autorin nicht darum, Differenzen zuzukleistern. Es besorgt sie allerdings, "wenn Alarmismus und Hysterie die Diskussion wichtiger Themen bestimmen statt zivilisierter Streit um belastbare Standpunkte und wenn im öffentlichen Diskurs allzu schnell Einigkeit herrscht und abweichende Positionen medial kaum noch vorkommen". Das Gleiche gelte, wenn Meinungen zwar geäußert werden können, ihre Urheber aber vom jeweils anderen Lager ausgegrenzt und diffamiert werden. Man müsse sich aber von der Angst befreien, vor falsche Karren gespannt zu werden, denn: "Wo führt es hin, etwas unter den Teppich zu kehren, nur weil man befürchten muss, Beifall von der 'falschen' Seite zu bekommen? Ränder und Extreme einer Gesellschaft werden gestärkt und die Mitte noch weiter geschwächt."
Man solle sich mit Gelassenheit gerade mit denjenigen an einen Tisch setzen, deren Verhalten man glaube, kritisieren zu müssen. Gelassenheit aber, zitiert die Autorin Marie von Ebner-Eschenbach, "ist eine anmutige Form des Selbstbewusstseins".
Mit diesem längst überfälligen Buch erweist sich Krone-Schmalz – einmal mehr – als der "fleischgewordene gesunde Menschenverstand", und man fragt man sich beim Lesen unwillkürlich immer wieder, warum bislang niemand diese naheliegenden Gedanken formuliert und in die Welt gesetzt hatte. (Nebenbei: Was sagt es eigentlich über die Debattenkultur eines Landes aus, dass diese Frau im Frühjahr 2014 im Zuge des Ukrainekonflikts von den Leitmedien, bei denen sie jahrzehntelang gearbeitet hatte, massiv attackiert wurde – nur weil sie die einseitige Schuldzuschreibung gegen Russland nicht mitmachte?)
Konkrete Utopie
Das lakonische Fazit der Autorin: "Respektvoll streiten – das wär's doch!" Nehmen wir es für einen Moment einfach mal beim Wort und nutzen wir hierzu die vorweihnachtlich versöhnlichere Grundstimmung aller Orten. – Also:
Wie wäre es eigentlich, wenn sich Kritiker und Verteidiger der Corona-Maßnahmen – mit gebührendem räumlichen Abstand und FFP2-Maske, versteht sich – mal zusammen an einen Runden Tisch setzen und einen auf Argumenten basierenden, rationalen Diskurs starten würden? Wechselseitiges Zuhören und Nachfragen würde nicht schaden!
Und wäre es völlig undenkbar, wenn Vertreter der Leitmedien für einen Moment ihre Berührungsängste überwinden und gemeinsam mit Journalisten der maßlos verteufelten "Russlandmedien" wie RT DE und SNA-NEWS ein streitbares, aber lösungsorientiertes Gespräch zur Frage beginnen würden, wie der Westen und Russland aus der gegenwärtigen Eskalationsspirale herausfinden können? Immerhin dürften sich alle darin einig sein, dass es im Worst Case bei einem mit Massenvernichtungswaffen geführten Krieg auf beiden Seiten keine Überlebenden mehr geben wird!
Ginge das? Und das nicht nur zur Weihnachtszeit? Oder wäre dies völlig "otherworldly"? Man muss sich ja nicht gleich um den Hals fallen! Es ginge lediglich – um ein letztes Mal mit Krone-Schmalz zu sprechen – um eine "Streitkultur, die zwischen sachlicher Argumentation und persönlicher Beleidigung zu unterscheiden weiß". (Unter zivilisierten Menschen eigentlich eine Selbstverständlichkeit.)
Der Rezensent schließt mit einer Empfehlung des Physikers und Philosophen Georg Christoph Lichtenberg (1742 –1799) aus seinen berühmten Sudelbüchern: "Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an!" Wer also auf die Schnelle noch ein Last-minute-Weihnachtsgeschenk für seine Lieben sucht, sollte jetzt zuschlagen.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
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