"Das Ende der Ostpolitik" – Die perfide Morgengabe zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung
von Leo Ensel
Pünktlich zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung, die bekanntlich ohne die konstruktive Politik der damaligen Sowjetadministration nicht möglich gewesen wäre, hat der Leiter des Südkaukasusbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tiflis, Dr. Stefan Meister, der Bundesregierung eine perfide Morgengabe auf den Tisch gelegt, in der er nichts weniger als das Ende der bisherigen Ostpolitik der Bundesrepublik fordert. Meister, Jahrgang 1975, der von 2017 bis 2019 das von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) geförderte Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien leitete und heute dort Associate Fellow ist, veröffentlichte vor drei Wochen im Policy Brief der DGAP einen, wie er wohl hofft, richtungsweisenden Essay mit dem unzweideutigen Titel "Das Ende der Ostpolitik", der es in sich hat.
DGAP und Heinrich-Böll-Stiftung machen mobil
Natürlich hat sich die DGAP mit dem bekannten Standardsatz "Dieser Artikel entspricht ausschließlich der Position des Autors" abgesichert, aber jeder Klippschüler weiß ja, dass eine Redaktion nur Texte veröffentlicht, die sie zumindest für diskussionswürdig erachtet. Zumal sich in derselben Zeitschrift bereits Anfang September der DGAP-Leiter (vormals u. a. CSU-Mitglied, Mitarbeiter des Planungsstabes des Verteidigungsministeriums, Airbus-Chef und Vorsitzender der Atlantik-Brücke), der Major der Reserve Thomas Enders in einem Aufsatz mit dem kernigen Titel "Die EU braucht eine mutige deutsche Außenpolitik" ganz ähnlich geäußert hatte. O-Ton Enders mit Blick auf Putin und Erdoğan:
Die alte römische Weisheit des 'si vis pacem, para bellum' klingt martialisch und aus der Zeit gefallen, gilt im Kern aber auch im 21. Jahrhundert: Gegenüber rücksichtslosen und hochgerüsteten Aggressoren kann sich der Schwache und Mutlose nicht allein mit Deklarationen und Konferenzen behaupten. Er muss glaubwürdig abschrecken können.
Man darf also mit einigem Recht annehmen, dass es in der DGAP einen weiten Sympathisant*innenkreis auch für Meisters steile Thesen gibt. Das Gleiche dürfte ebenfalls für Meisters Arbeitgeber, die Heinrich-Böll-Stiftung, gelten, wo viele Mitarbeiter*innen – man denke nur an den ehemaligen Leiter und dessen rührige Gattin, beide nun stolze Gründer*innen des "Zentrums Liberale Moderne" – im lautstarken gesinnungsethischen Kampf für die Rechte sämtlicher Minderheiten auf diesem Planeten jegliche Skrupel vor Militäreinsätzen längst eingebüßt haben.
Meisters Text startet bereits im Teaser mit einer, sagen wir es moderat, reichlich abenteuerlichen Behauptung:
Mit dem Giftgasanschlag auf Alexej Nawalny und der Unterstützung des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko durch den Kreml nach massiven Wahlfälschungen wurde ein neuer Tiefstand in den Beziehungen zwischen der EU und Russland erreicht.
Dass die Urheberschaft des Kreml im Falle Nawalny immer noch nicht erwiesen ist und Russland seine – fraglos unschöne – Unterstützung des dreisten Autokraten an der Westgrenze mit Sicherheit schon lange eingestellt hätte, fühlte es sich nicht geopolitisch in die Enge gedrängt, ist für Meister keine Überlegung wert. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass es wenig einsichtig ist, warum ein Giftgasanschlag auf einen russischen Staatsbürger, der laut impliziter Meister-Logik ja nur auf russischem Territorium stattgefunden haben kann, einen neuerlichen Tiefstand ausgerechnet in den Beziehungen zur EU provoziert haben sollte. Schließlich hat Russland, was selbst der Bösartigste nicht unterstellt, kein EU- oder NATO-Land mit Chemiewaffen angegriffen!
Kurz: Meisters kühner Satz stimmt nur dann, wenn man hinzufügt, dass beide Ereignisse für den Westen willkommene Anlässe waren, die ohnehin schon schlechten Beziehungen zu Russland noch weiter herunterzufahren.
Der Meister markiger Worte
Und da, wie die Verhältnisse in der rasanten Onlinewelt nun mal sind, auch ein Politologe der Heinrich-Böll-Stiftung die heißbegehrte Aufmerksamkeit im täglichen Meinungskampf nur dann erlangt, wenn er sich verbal und inhaltlich möglichst weit aus dem Fenster hängt – nichts ist bekanntlich so unsexy wie differenziertes Argumentieren! –, erweist sich der Autor als wahrer Meister markiger Formulierungen: Die Modernisierungspartnerschaft mit Russland ist für ihn "gescheitert". Russland und Deutschland – das sich endlich zu einem "relevanten Akteur" entwickeln muss – sind in zentralen Fragen nicht mehr Partner, sondern "Gegner". (Unwillkürlich fragt man sich, was noch passieren muss, bis Meister endlich unverblümt das Wort "Feind" in den Ring schmeißen kann.) Daher sind statt Kooperation ab jetzt nur noch "Anreize und Druckmittel" angesagt, denn Russland, will sagen: Putin, versteht bekanntlich nur ... Sie ahnen es schon. Falls nicht, hören Sie sich bitte mal eine x-beliebige Rede unserer aktuellen oder ehemaligen Verteidigungsministerin an!
Meister sorgt sich, die Bundesregierung könne, abgelenkt durch Corona, EU-Ratspräsidentschaft, die aktuell schwierigen Beziehungen zu Großbritannien, den USA und China sowie durch den kommenden Bundestagswahlkampf – bei dem, das weiß er jetzt schon, "Russland und die russische Einflussnahme Thema sein werden" – einen, von ihm postulierten, grundlegenden Strategiewandel der Russlandpolitik versäumen. Immerhin sei auf die USA seit deren widersprüchlichem Umgang mit Russland (bar jeglicher Abstimmung mit den europäischen Partnern), ihrem Rückzug aus dem Nahen Osten und ihrer neuen Rivalität zu China sicherheitspolitisch kein Verlass mehr, und in dieses Vakuum stoße als "destruktiver Akteur" – natürlich Russland, das sich obendrein China immer weiter annähere!
Die bereits reduzierte deutsche Russlandpolitik des "selektiven Engagements ohne gemeinsame Basis" sei zu Absichtserklärungen zusammengeschrumpft, bei denen "eher die Gegensätze als die Gemeinsamkeiten" deutlich würden.
Und nun lässt Meister die Katze endlich aus dem Sack: "Eine Modernisierungspartnerschaft mit Russland in der Tradition der Neuen Ostpolitik der 1970er-Jahre war der entscheidende außenpolitische Ansatz bis 2012. Diese Politik des Wandels durch Annäherung ist jedoch gescheitert." Des Autors atemberaubende Begründung: "Der Konflikt mit dem Westen und die Infragestellung der nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ausgehandelten europäischen Sicherheitsordnung durch Moskau dienten der Legitimierung nach innen und haben Deutschland und Russland zu Gegnern gemacht." Das schreit nach einer Richtigstellung.
Die Kündigung oder Nichtratifizierung fast sämtlicher Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge durch die USA seit Ende der Neunzigerjahre: vom KSE-Vertrag zur Begrenzung konventioneller Waffen in Europa auf niedrigem Niveau, über den ABM-Vertrag, den INF-Vertrag und den Vertrag über ein umfassendes Verbot von Atomtests zu den Ausstiegen aus dem Iran-Atomabkommen und dem Open Skies-Vertrag; völkerrechtswidrige Angriffskriege wie 1999 gegen die Bundesrepublik Jugoslawien oder 2002 im Irak; das systematische Heranerweitern der NATO (inklusive eines Raketenabwehrsystems) unmittelbar an die russische Haustür; die von Victoria Nuland stolz erwähnten fünf Milliarden Dollar für einen prowestlichen Stimmungsumschwung in der Ukraine – für Meister sind dies noch nicht mal erwähnenswerte Petitessen! Der falsche Heinrich Böll-Epigone leidet offenbar an selektiver Amnesie, falls er von allem überhaupt jemals Kenntnis genommen haben sollte.
Verwegen dröhnt er: "Die Analyse des Systems Putin sollte die Basis für eine neue Russlandpolitik sein und nicht der Wunsch nach friedlicher Koexistenz." Denn dieses Regime hat, so Meister, bekanntlich nur zwei zentrale Ziele: "Machterhalt und Selbstbereicherung auf Kosten des russischen Staates und seiner Bevölkerung."
Zuckerbrot und Peitsche – Meisters Masterplan
Folgerichtig präsentiert der Meisterdenker einer verschärften Russlandpolitik als Nächstes seinen Masterplan der "Anreize und Druckmittel". Im Gestus der strengen Mutter, die es satt hat, nur mit erhobenem Zeigefinger zu drohen, holt er nun den Rohrstock aus der Ecke:
Deshalb muss für die russische Führung deutlich werden, dass ihre destruktiven und antidemokratischen Aktivitäten im In- und Ausland, die postsowjetische Nachbarschaft eingeschlossen, mit Kosten verbunden sind und dass Deutschland und die EU es ernst meinen mit ihren Werten und Prinzipien von guter Regierungsführung, Konfliktlösung und Rechtsstaatlichkeit in der südlichen und östlichen Nachbarschaft.
Es geht hier, wohlgemerkt, nicht etwa nur um Russlands außenpolitisches Handeln: Bestraft werden ab jetzt, laut Meister, auch Verstöße "gegen die Prinzipien guter Regierungsführung". Entsprechende Noten wird in Zukunft vermutlich der Hofmeister höchstpersönlich verteilen. Man stelle sich für einen Moment vor, Russland würde sich gegenüber dem Westen ähnliche Sottisen herausnehmen!
Als hätte er es mit schwererziehbaren Jugendlichen zu tun, fordert der Politologe im Stil Schwarzer Pädagogik: "Nur dann, wenn für die Führung in Moskau die Kosten ihrer Handlungen höher sind als ihr Nutzen und wenn echte Sanktionen für Mitglieder der Elite beschlossen werden, wird sich der Kreml bewegen." Er dürfte sich noch wundern, was passieren wird, sollten deutsche oder EU-Politiker auf die fatale Idee kommen, seine noch nicht mal mehr antiquierten Erziehungskonzepte gegenüber Russland tatsächlich durchsetzen zu wollen!
Aber der Clou kommt erst noch: "Kooperation für eine bessere Atmosphäre oder um der Kooperation willen führt ins Leere." Man lasse sich diesen Satz auf der Zunge zergehen! Kooperation, die Schaffung wechselseitiger Abhängigkeiten, eine der bewährtesten friedenserhaltenden Maßnahmen, hat für Meister offenbar nur den Stellenwert von "L'art pour l'art"!
Stattdessen ist jetzt endlich die Hardcore-Nummer dran: "Ohne militärischen Druck wird es nicht möglich sein, Konflikte, in die Russland involviert ist, auf Augenhöhe zu verhandeln." Und tollkühn reitet Meister auf dem Rücken der anderen durchs Feuer: Deutschland soll im EU- oder NATO-Rahmen bereit sein, Waffenstillstandsabkommen in Libyen und Syrien militärisch zu schützen.
Ebenso könnte in der Ukraine ein Abkommen für eine robuste EU-Mission unter deutscher Beteiligung tatsächlich den Druck auf Moskau erhöhen, um den Krieg gegen die Ukraine zu beenden und Teile der Minsker Abkommen umzusetzen. Hierzu bedarf es wachsender Investitionen auch Deutschlands in die Einsatz- und Verteidigungsfähigkeiten der Bundeswehr im Rahmen von NATO und PESCO.
So forsch – nein: verantwortungslos!, nein: hasardeurmäßig!! – können nur Leute argumentieren, die den Krieg überhaupt nicht und den Kalten Krieg nur noch zur Zeit der Pubertätspickel mitbekommen haben!
30 Jahre Wiedervereinigung oder: Die Scham ist vorbei!
Ostpolitik? Entspannung? Gar Gorbatschows "Neues Denken", das Mauerfall, Wiedervereinigung und die Verschrottung von 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit erst möglich gemacht hatte? Für den Master of Cold War Schnee von gestern! Bestenfalls etwas für höhere Töchter. Jetzt müssen richtige Männer ran!
Wie Dr. Stefan Meister.
Dass dessen Essay ausgerechnet im allernächsten Umfeld des 30. Jahrestages der Wiedervereinigung publiziert wurde, ist gegenüber Russland, das in Gestalt der damaligen Sowjetadministration zu diesem Ereignis, allen traumatisierenden Erfahrungen der Vergangenheit zum Trotz, erheblich beigetragen hatte, im harmlosesten Falle eine unverzeihliche Taktlosigkeit, viel eher aber eine – gezielte Provokation!
Die Konsequenzen eines solchen – vornehm-modisch "Paradigmenwechsel" genannten – Vabanquespiels bringt der Feinmechaniker der Wiedervereinigung, der Spitzendiplomat a. D. Frank Elbe, unmissverständlich auf den Punkt:
Es ist völlig klar, dass damit alles aufgegeben werden soll, was bisher als sakrosankt und unantastbar gegolten hatte, aber vor allem erfolgreich war: die Prinzipien der KSZE-Schlussakte, die Charta von Paris und sogar die ausgewogene Doppelstrategie des NATO-Bündnisses von adäquater militärischer Sicherheit einerseits und einer Politik der Zusammenarbeit, Entspannung und Abrüstung.
Lakonische Abschlusssentenz des Genscher-Vertrauten:
Jeder Wahnsinnige kann eine Strategie zu einer Schlacht auf dem Reißbrett entwerfen, er sollte nur bedenken, dass diese schon vom Reißbrett politischen Schaden stiften kann!
Aber seien wir etwas gnädiger mit dem Reißbrettstrategen: Es ist ja noch kein Meister vom Himmel gefallen!
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