Nawalny, Nowitschok und Nord Stream 2 – Über vorschnelle westliche Gewissheiten und Konsequenzen

Für die Leitmedien und eine ganz große Koalition von Politikern war alles sofort klar: Der Kreml hat einen Nowitschok-Anschlag auf Alexei Nawalny verübt. Geforderte Konsequenz: Das Aus von Nord Stream 2! Der Fall weist aber eine Reihe von Ungereimtheiten auf.
Nawalny, Nowitschok und Nord Stream 2 – Über vorschnelle westliche Gewissheiten und KonsequenzenQuelle: www.globallookpress.com © Sven Hoppe/dpa

von Leo Ensel

Natürlich ist es ein Verbrechen, wenn auf einen Menschen ein Mordanschlag verübt wird. Der Fall muss aufgeklärt, die Täter ermittelt und bestraft werden. Das gilt überall auf der Welt und das gilt selbstverständlich auch im Fall von Alexei Nawalny!

Eine andere Frage ist es allerdings, wie mit einem solchen Vorfall umgegangen wird.

„Putin wars!“ 

Noch ist völlig unklar, wer die Täter waren, aber die Mehrheit der deutschen Leitmedien ist sich einig – und reagiert nach dem klassischen Pawlowschen Reflex: Putin, wer sonst? Und diesmal ist das Maß voll! – Die Kommentare, ja bereits die Techniken der Interviewführung sind von Caren Miosga in den Tagesthemen („Nun hat der Kreml heute Abend Aufklärung versprochen. Wie glaubwürdig ist denn das?“) bis zu Christoph Heinemann im Deutschlandfunk („Worin unterscheidet sich in den Methoden Putin in Moskau von Assad in Syrien?“) an Suggestivität nicht mehr zu überbieten. 

Das Gleiche gilt für eine ganz große Koalition von Politikern, die, von der CDU bis zu den Grünen, unisono ins selbe Horn stoßen. Norbert Röttgen, glückloser Ex-Umweltminister, der bekanntlich für seine Parteichefin und Bundeskanzlerin 2012 die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen erfolgreich vergeigte, nun wittert er endlich seine Chance und markiert den nassforschen Hardliner: „Es geht um eine Sprache, die Putin versteht!“ Die Nawalny-Affäre scheint bei dem stellvertretenden Vorsitzenden der Atlantik-Brücke einen wahren Adrenalinstoß ausgelöst zu haben. Und Ex-Fundi Jürgen Trittin zeigt sich ebenfalls genauestens informiert:

Es ist offenkundig: Für diesen Anschlag gibt es die Verantwortung der russischen Regierung und des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Und das erfordert nun eine klare europäische Antwort.

Dass sich mittlerweile selbst die höchsten Gremien der NATO mit dem Fall beschäftigen und gleichfalls – als hätte es sich um eine russische Giftgasattacke auf einen Bündnisstaatgehandelt – eine westliche „Antwort“ fordern, ist zudem mehr als befremdlich.

Kurz: Das klassische Rechtstaatsprinzip, nach dem vor einer Verurteilung erst einmal die Fakten zweifelsfrei zu klären sind – gegenüber Russland, in unseren Medien stets sofort auf „Putin“ reduziert, wird es wie selbstverständlich außer Kraft gesetzt! Und die ‚klare europäische Antwort‘, die nun fällig ist, liegt für die meisten Protagonisten, die sich bislang weit aus dem Fenster legten, prompt auf der Hand: Nord Stream 2 soll auf den allerletzten Metern doch noch gestoppt werden. Was selbst massiver Druck aus den USA nicht schaffte, dafür soll nun der Giftanschlag auf Nawalny herhalten: Die Bundeskanzlerin, die hier im Vergleich zu vielen anderen EU-Ländern störrisch einen eigenen Weg ging, soll weichgeklopft und in Konsequenz – was natürlich nicht laut ausgesprochen wird – den deutschen und anderen europäischen Verbrauchern das erheblich teurere amerikanische Frackinggas aufgezwungen werden!

Nun mal langsam. 

Ein Gedankenexperiment 

Wie auch immer es um die Diagnose des Bundeswehrlabors bestellt sein mag, die Argumentation der Bundesregierung wäre ungleich glaubwürdiger, hätte sie – darauf hat Willy Wimmer hingewiesen – ein weiteres neutrales Institut einbezogen, das nicht im Verdacht steht, geopolitisch instrumentalisiert werden zu können:

Zum Beispiel das Schweizer Institut in Spiez, das einen weltweit zweifelsfreien Ruf genießt, hohes Ansehen hat und nicht in die Auseinandersetzungen zwischen der NATO und der Russischen Föderation so einbezogen werden kann, wie das leider für die ansonsten von mir hochgeschätzte Bundeswehr gesagt werden muss.

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Spielen wir nun aus methodischen Gründen mal für einen Moment den ‚Advocatus diaboli‘ und gehen wir von der Hypothese aus, der russische Präsident wäre exakt genauso schlimm, wie ihn unsere Leitmedien malen und ließe sich in seinem Handeln ausschließlich von machtpolitischen Motiven leiten. Hätte Putin also aller Skrupel bar mit dem Gedanken gespielt, den unbequemen Oppositionspolitiker Nawalny – und zwar merkwürdigerweise mittels einer ‚Light-Version‘ von Nowitschok – zu beseitigen, so hätte er vor einer simplen Kosten-Nutzen-Relation gestanden: Würde ihm diese Aktion eher nützen oder schaden? Und da auch seine schärfsten Gegner dem russischen Präsidenten Dummheit noch nie unterstellt haben, kann man davon ausgehen, dass Putin das endgültige Aus von Nord Stream 2 als westliche Reaktion selbstverständlich miteinkalkuliert hätte. 

Wäre das nicht ein bisschen teuer, um einen Oppositionspolitiker zu eliminieren, der Putin obendrein niemals ernsthaft gefährlich werden konnte? Und dem mit Sicherheit andere nachwachsen werden? Oder wäre es nicht wahrscheinlicher, dass ein so gestrickter Machtpolitiker eher zu eben jenem Ergebnis gekommen wäre, das der französische Diplomat und Diener sehr unterschiedlicher Herren, Charles-Maurice de Talleyrand, bereits vor über 200 Jahren auf die klassische Formel brachte: „Es war schlimmer als ein Verbrechen – es war ein Fehler!“ (Ich muss daran erinnern, dass es sich bei diesem Worst Case-Szenario um ein rein hypothetisches Gedankenexperiment aus erkenntnistheoretischen Gründen handelt.) 

Auch wenn die Frage „Wem nützt es?“ nicht automatisch die richtige Antwort liefert, hier halte ich sie für angebracht, um den Blickwinkel zu weiten. 

Das Statement eines ehemaligen deutschen Spitzendiplomaten 

Der Botschafter a.D. und Genscher-Vertraute, Frank Elbe, der zwischen 1983 und 1986 in der deutschen Delegation bei der Genfer Abrüstungskonferenz verantwortlich für die Ausarbeitung eines Abkommens zur Ächtung chemischer Waffen war, hat am Freitag in einem Facebookbeitrag sehr scharfsinnig eine Reihe von Ungereimtheiten im Fall Nawalny herausgearbeitet, die ich hier in deutscher Übersetzung wiedergebe:

Der Giftanschlag auf den russischen Regimekritiker ist ein scheußliches Verbrechen, wer auch immer die Täter waren. Jedoch rate ich zur Vorsicht, zu verfrühten Schlussfolgerungen und Vorverurteilung zu gelangen. Das Nervengift Nowitschok gehört zur Gruppe supertoxischer letaler Substanzen, die den sofortigen Tod verursachen. Ich frage mich, warum russische Laboratorien den Charakter von Nowitschok so abändern sollten, dass die tödliche Wirkung des Nervengifts reduziert und den Opfern eine Überlebenschance eingeräumt wird. Es macht keinen Sinn, ein Nervengift, das für sofortiges Töten entwickelt wurde, dergestalt zu modifizieren, dass es nicht tötet, allerdings Spuren hinterlässt, die eine Identifikation als Nervengift erlauben. Während die Produktion des Giftes extrem einfach ist, wäre seine Modifikation eine recht anspruchsvolle Aufgabe.

Für Elbe ist etwas seltsam an diesem Fall: Entweder hätten die Täter – wer immer sie sein mögen – ein politisches Interesse, auf den Einsatz von Nervengas hinzuweisen oder ausländische Laboratorien zögen voreilige Schlussfolgerungen, die der gegenwärtigen allgemeinen negativen Haltung gegenüber Russland entsprechen. Jedenfalls sei es viel zu früh, Sanktionen zu fordern, solange kein ausreichender Beweis vorliegt, wer die Täter sind. 

Abschließend stellt Elbe drei einfache Fragen: 

1. Hätte der Kreml – unterstellt, er habe die Absicht, Nord Stream 2 zu einem erfolgreichen Geschäftsunternehmen zu machen – wirklich ein Interesse daran, in einen Mordfall involviert zu sein?

2. Ist Nawalny die größte Bedrohung für Putin oder könnte es sein, dass der russische Präsident mehr durch Feinde innerhalb des russischen politischen Establishments bedroht ist?

3. Wer wäre bereit, die dramatische Lücke in der Gasversorgung Europas zu füllen, wenn die britischen, niederländischen und norwegischen Gasfelder in nur wenigen Jahren erschöpft sein werden? 

Dieses Thema verdient mehr Respekt als die gegenwärtige Aufregung und Agitation zum Ausdruck bringen.

Dem ist nichts weiter hinzuzufügen.

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