Israelkritik unerwünscht: Meinungsfreiheit in Deutschland in Gefahr?
von Karin Leukefeld
Die alte Villa liegt abseits einer großen Durchgangsstraße in Bonn. Im Dunkel dieses Abends ist sie nicht leicht zu finden. Doch dann ist ein erster Streifenwagen der Polizei zu sehen, der quer über den Fußweg geparkt ist. "Ein Polizeiwagen, hier muss es sein", sagt die ältere Dame, die vorsichtig um den Polizeiwagen herum läuft. Sie ist auf dem Weg zu einer Veranstaltung, bei der über "Israels rechte Freunde in Europa und in den USA" informiert werden soll.
Referent ist der Wirtschaftsforscher Shir Hever, ein israelischer Staatsbürger jüdischen Glaubens, der in Deutschland lebt. Veranstalter ist die Bonner Sektion der Palästinensischen Gemeinde Deutschland. Mitveranstalter sind unter anderen die "Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost" und eine Bonner Gruppe, die die Kampagne "Boykott, Desinvestition, Sanktion" (BDS) unterstützt.
Die 2007 in Berlin gegründete "Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost" gehört zu einer europäischen Föderation von 18 Organisationen in neun europäischen Ländern, die sich 2002 zusammenschlossen. Die 2005 ursprünglich von der palästinensischen Zivilgesellschaft gegründete BDS-Kampagne orientiert sich an dem Vorbild der Anti-Apartheidbewegung in Südafrika. Sie richtet sich gegen die israelische Besatzungspolitik und die Ungleichbehandlung der arabischen Israelis.
Die ältere Dame, die väterlicherseits von jüdischen Vorfahren abstammt und im Nazi-Deutschland mit ihren Geschwistern in ein Kinderlager abtransportiert worden war, unterstützt die Arbeit der Gruppen. Trotz fortgeschrittenen Alters hat sie sich auch an diesem Abend auf den Weg gemacht. Sie trifft Bekannte, immer mehr Menschen strömen zum Veranstaltungsort. Dass der Vortrag unter Polizeischutz stattfinden muss, findet sie skandalös. Leider sei das in Deutschland keine Ausnahme mehr. Weitere Schatten auf dem Gehweg tauchen auf. Einige, zumeist junge Männer haben palästinensische Fahnen geschultert und gehen langsam auf und ab. Sie wollen eine mögliche Gegendemonstration verhindern, die ursprünglich angekündigt worden war.
Unter dem Motto "Nein zum Judenhass – Nein zum BDS" hatten die Internet-Portale "Ruhrbarone", Honestly Concerned und eine bundesweite Twittergemeinde zum Protest gegen die Veranstaltung aufgerufen. Wochenlang hatten Aktivisten aus ganz Deutschland gegen die Veranstaltung der Palästinensischen Gemeinde Deutschland in Bonn getwittert, geschrieben und polemisiert. Veranstalter und Referent seien "Antisemiten, Neonazis und Islamisten", die den Staat Israel zerstören wollten, behaupteten sie. Wer ihnen Räume zur Verfügung stelle, sei nicht besser. Zwei Mal waren sie bei den Vermietern von Veranstaltungsräumen erfolgreich, die Stadt Bonn entfernte sogar die Veranstaltungsankündigung aus dem öffentlichen Terminkalender. Würde es ein drittes Mal gelingen, den Vortrag zu stoppen?
Doch alles bleibt ruhig an diesem Abend, die Gegner der Veranstaltung scheinen müde geworden zu sein oder tauchen zumindest hier nicht auf. Als Shir Hever mit seinem Vortrag beginnt, erweist sich der Raum als zu klein. Die Türen zum Foyer werden weit geöffnet, Stühle und ein Lautsprecher aufgestellt, so dass viele weitere Zuhörer teilnehmen können.
Die Vorgeschichte
Anfang Januar hatte die Palästinensische Gemeinde in Bonn den Termin auf dem öffentlichen Veranstaltungsportal der Stadt Bonn angekündigt: "Israels rechte Freunde in Europa und den USA" war das Thema, Referent war der Wirtschaftsforscher Shir Hever, promoviert an der Freien Universität Berlin. Informiert werden sollte über "rechte evangelikale Christen" in den USA, die großen Einfluss auf die US-Administration ausüben. Auch immer mehr rechte populistische Parteien in Europa üben heute den Schulterschluss mit der Regierung von Benjamin Netanjahu. Israel versuche Kritiker mit dem Vorwurf des Antisemitismus mundtot zu machen, doch weltweit nehme die Unterstützung der Palästinenser zu.
Die Veranstalter verwiesen auf Forderungen, die durch das Völkerrecht, den Haager Gerichtshof und durch UN-Resolutionen untermauert werden: Siedlungsbau, Besatzung und die Belagerung Gazas müssten ein Ende haben. Mauern und Zäune müssten verschwinden, die arabisch-palästinensischen Bürger Israels sollten gleichberechtigt anerkannt werden, die palästinensischen Flüchtlinge hätten das Recht, in ihre Heimat zurückzukehren.
Das Kölner FDP-Mitglied Marca Goldstein-Wolf startete mit Freunden eine Gegenkampagne auf Twitter und Facebook. Nicht das Thema der Veranstaltung störte sie, es waren die Unterstützergruppen, die in der Anzeige genannt waren. Insbesondere ging es um die "Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost" und eine Bonner Gruppe, die die Kampagne "Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen" (BDS) unterstützt.
Die BDS-Kampagne wurde - wie gesagt - 2005 von der palästinensischen Zivilgesellschaft gestartet, um Israel dazu zu bringen, das Völkerrecht und die Menschenrechte der Palästinenser anzuerkennen. Vorbild ist der Internationale Boykott gegen den Apartheidstaat Südafrika, der 1994 zum Sturz der Apartheid-Regierung geführt hatte. Mehr als 170 palästinensische und Dutzende von israelischen Organisationen sowie auch viele Gruppen und Einzelpersonen weltweit unterstützen die Kampagne.
Marca Goldstein-Wolf allerdings sieht das – wie der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu – als große Gefahr. "BDS ist ein ernstzunehmender Feind, der in verlogener Kritik an Israel Judenhass verpackt", sagte sie der Jerusalem Post. "Wir müssen uns dem mit aller Macht und überall entgegenstellen." Besonders wichtig sei es, "die Bevölkerung über die Machenschaften dieser Anti-Semiten aufzuklären", denn die BDS-Kampagne greife den jüdischen Staat an.
Unterstützung kam von Aras Nathan Keul, Mitglied im Vorstand der Deutsch-Israelischen Gemeinde und Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen. Keul twitterte an den Bonner Oberbürgermeister und behauptete, die Stadt Bonn werbe für eine Veranstaltung, bei der "mit antisemitischen Stereotypen zum Ende Israels aufgerufen wird". Rückendeckung erhielt Keul von seinem Arbeitgeber Volker Beck. Er habe ebenfalls beim Bonner Oberbürgermeister gegen die Veranstaltung protestiert. Der Vorgang verstoße zudem gegen eine Entschließung des nordrhein-westfälischen Landtages, die im September 2018 auf Antrag der Partei Bündnis 90/Die Grünen verabschiedet worden war.
Die Fraktionen von CDU, FDP, SPD und Grünen im Landtag von Nordrhein-Westfalen verurteilen darin die BDS-Kampagne als "klar antisemitisch" und fordern landeseigene Einrichtungen auf, der Kampagne kein Forum zu bieten. Bei Parteien, Kirchen, Gerichten, Medien bundesweit und im politischen Berlin ist die Gleichung "BDS = antisemitisch" weithin anerkannt. Angesichts des massiven Twitter-Protestes löschte die Stadt Bonn den Veranstaltungseintrag. "Wir bedauern den Eintrag sehr und bitten um Entschuldigung dafür", hieß es.
Meinungsfreiheit in Gefahr
In einem offenen Brief an den Oberbürgermeister forderten die Veranstalter diesen auf, sich eindeutig "für die Meinungsfreiheit und das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung" zu positionieren. Einen jüdischen Israeli wie Shir Hever als "Antisemiten" zu diffamieren, sei "grotesk und mehr als bedenklich". Verwiesen wurde auf ein Interview mit dem international bekannten Dirigenten Daniel Barenboim mit der Saarbrücker Zeitung, in dem dieser erklärte, warum er sich "schäme, Israeli zu sein".
Erinnert wurde auch an eine Erklärung des Trierer Bischof Stephan Ackermann, der nach einem Bischofstreffen im Heiligen Land erklärt hatte:
Die Bischöfe beklagen (…) Diskriminierung und Ausgrenzung von Christen und anderen Minderheiten in Israel". Das trage zur "Erosion der Ideale von Gleichheit, Gerechtigkeit und Demokratie bei."
Der Oberbürgermeister wurde eingeladen, den Vortrag mit Shir Hever zu besuchen, um sich "selber ein Bild zu den Vorwürfen zu machen". Doch der Oberbürgermeister kam nicht. Stattdessen schickte er an die Veranstalter einen Brief. Die Löschung des Veranstaltungseintrages auf dem städtischen Kalender sei nicht unter öffentlichem Druck erfolgt, betonte er. Aus Sicht der Stadt Bonn sei der Text "pauschal und einseitig" israelfeindlich gewesen und "letztlich antisemitisch".
Das alles sei "ein toller erster Erfolg für Bonner Verhältnisse" freute sich Malca Goldstein-Wolf auf Twitter. Sie hatte zu einer Gegendemonstration unter dem Motto "Nein zu Judenhass – Nein zum BDS" aufgerufen. Aus Berlin wünschte der Bundestagsabgeordnete Volker Beck "Viel Glück".
Aufklärung gegen Diffamierung
Die Veranstalter in Bonn ließen sich nicht einschüchtern. George Rashmawi vom Vorstand der Palästinensischen Gemeinde kritisierte, dass "die Vortragsgegner nicht auf Argumente (….) eingehen". Es handele sich "um Verleumdung und Hetze mit dem einzigen Ziel, die Veranstaltung zu verhindern." Letztlich, so Rashmawi, gehe es nicht mehr nur um die Auseinandersetzung mit der Politik Israels, es gehe "grundsätzlich um die Meinungsfreiheit." Die Veranstaltung werde stattfinden.
Den Bonner Oberbürgermeister und die Öffentlichkeit informierten sie ausführlich über das Twitter-Netzwerk, das bundesweit um den Publizisten Henryk M. Broder und Benjamin Weinthal, einen Journalisten der Jerusalem Post, entstanden ist. Broder gilt seit langem als scharfer Kritiker von jedem, der es wagt, Israel zu kritisieren. Die von Juden in Deutschland gegründete "Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost" bezeichnete er als eine "Bande von Antisemiten".
Weinthal sorgte mit dem Artikel "Proteste führen zur Absage einer BDS-Veranstaltung in Bonn" für internationale Aufmerksamkeit. Als Mitarbeiter der "Stiftung für die Verteidigung der Demokratien" in Washington, D.C. lebt er in Berlin und gilt als "Augen und Ohren der Stiftung in Europa", wie es auf deren Webseite heißt. Im Vorstand und Beirat der 2001 nach den Anschlägen in New York gegründeten Stiftung sind verschiedene hochrangige Mitarbeiter der US-Geheimdienste CIA und FBI vertreten.
Die mitveranstaltende "Bonner Jugendbewegung" trug umfangreiches Material zusammen, recherchierte und veröffentlichte ihr aufklärerisches Hintergrundmaterial auf ihrem Internetportal. Intensiv setzten sie sich mit Vorwurf auseinander, die BDS-Boykott-Kampagne der palästinensischen Zivilgesellschaft sei vergleichbar mit dem Aufruf der deutschen Nationalsozialisten "Kauft nicht bei Juden" und folglich antisemitisch. Der Vergleich sei falsch, denn "der grundlegendste Unterschied zwischen dem Israelboykott von BDS und der 'Kauft nicht bei Juden'-Masche der Faschisten aber ist, dass sich Ersterer ausgehend von der Bevölkerung gegen einen kapitalistischen Nationalstaat richtet und ... (Letzteres sich historisch) ausgehend von einem kapitalistischen Nationalstaat gegen die Bevölkerung ... (und) eine unterdrückte Minderheit der Bevölkerung richtet(e)", so die jungen Bonner.
Unter Verweis auf den israelischen Soziologen und Professor für Geschichte und Philosophie Moshe Zuckermann heißt es weiter: "Israelkritik, Antisemitismus und Antizionismus (sind) drei verschiedene Dinge." Diese Differenzierung sei die wichtigste Grundlage für eine Auseinandersetzung mit Israel und seiner Politik.
Die Veranstalter hatten Erfolg. Eine Woche später war ein neuer Raum gefunden. Die Vermieter der alten Villa hatten sich nicht einschüchtern lassen und die Polizeipräsenz sollte vor möglichen Protesten schützen. Dicht gedrängt und im Foyer hatten die Menschen Platz genommen, mitten unter ihnen auch die ältere Dame.
Der Vortrag
Shir Hever begann mit dem Gedenken an Ahmad Abu Jamal aus Gaza, dessen Foto er zeigte. Der 30-Jährige war Ende Januar im Norden des Gazastreifens von israelischen Soldaten angeschossen und schwer verletzt worden. Nun war er gestorben. Der anhaltende Protest der Palästinenser im Gazastreifen gegen die israelische Belagerung – der "Große Marsch der Rückkehr" – sei kein "Terrorismus", wie es Israel darstelle. Der Protest sei ein Ausdruck von Hoffnung auf eine bessere Zukunft, so Hever.
Im Vortrag ging es um die engen Kontakte, die der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in aller Welt zu extrem rechten und populistischen Gruppen und Parteien aufnimmt, die teilweise offen antisemitisch und rassistisch auftreten. Ob Berlusconi oder neuerdings Salvini in Italien, Marine Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in Holland, Heinz-Christian Strache in Österreich, Donald Trump in den USA, Andrzej Duda in Polen, Viktor Orbán in Ungarn oder jüngst Jair Bolsonaro in Brasilien, Netanjahu sucht den Schulterschluss mit ihnen. Beide Seiten profitierten von dem Kontakt.
Die extrem rechten und populistischen Parteien könnten Kritik an Rassismus oder Antisemitismus in ihrer Politik mit dem Hinweis zurückweisen, sie unterstützten Israel und hätten beste Kontakte zum israelischen Ministerpräsidenten. Sie wollten Waffen, Drohnen, Überwachungstechnologie und Know-How übernehmen und seien auch an israelischer Ausbildung in der Aufstandsbekämpfung interessiert. Die Mauer, die Israel als "Sicherheitszaun" gegen die Palästinenser errichtet habe, sei ein "Exportschlager". Was Israel gegen die Palästinenser mache, wollten die rechten Populisten gegen Flüchtlinge in Europa, in Brasilien, in den USA machen. "Die Beziehung zu Israel legitimiert ihre Politik", so Hever.
Netanjahu befürchte derweil eine zunehmende Isolierung auf der internationalen Bühne. Er wolle "neue Freunde" in der Welt präsentieren, während die bisher befreundeten Regierungen und Parteien sich von ihm und seiner Politik abwendeten. Frühere israelische Regierungen hätten solche Beziehungen abgelehnt, doch für Netanjahu sei dies die Wahlkampfstrategie für die bevorstehenden Parlamentswahlen.
Für die Wahlen am 9. April in Israel sagte Shir Hever "einen Kampf zwischen den populistischen extrem Rechten und der Sicherheitselite, also den Generälen" voraus. Die Generäle verlören ihren Einfluss auf die Öffentlichkeit, das solle gestoppt werden. Der ehemalige Oberkommandierende der Israelischen Streitkräfte, Generalleutnant Benny Gantz trete zu den Wahlen an, um "die Macht wieder zurück in die Hände der alten Sicherheitselite zu bringen", so Hever im Gespräch mit der Autorin.
Sollte das Korruptionsverfahren gegen Benjamin Netanjahu noch vor den Wahlen eröffnet werden, habe Benny Gantz vielleicht eine Chance, Ministerpräsident zu werden. Dennoch werde er die Macht werde nicht erringen, denn "die Macht gehört heute der populistischen extremen Rechten. Dafür steht nicht nur Netanjahu, sondern auch Miri Regev, die Kulturministerin, Gilad Erdan, der Minister für Öffentliche Sicherheit und Strategische Angelegenheiten." Die genannten Politiker seien gefährliche extreme Populisten, betonte Hever und fügte dann hinzu:
Aber ehrlich gesagt sind die Generäle gefährlicher. Sie sagen vielleicht nicht viel, aber sie schießen viel.
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