Zehn Jahre danach – was vom "Arabischen Frühling" geblieben ist
von Karin Leukefeld, Damaskus
"Die Revolution bleibt möglich", "Der arabische Dominoeffekt", "In der Region brodelt es weiter", "Der nächste Sturm zieht auf". So lauten nur einige der Überschriften in deutschen Medien, die sich dieser Tage mit dem sogenannten "Arabischen Frühling" befassen. Österreichische Blätter sind da zurückhaltender. "Der Winter nach dem Arabischen Frühling" oder "Der gescheiterte Frühling" ist da zu lesen. Und im Schweizer Radio heißt es: "Die Revolution wird wiederkommen".
Der britische Guardian hat eine Umfrage veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass die Bevölkerung in neun Staaten der arabischen Welt mehrheitlich sagt, dass sich ihr Leben seitdem verschlechtert hat und die Ungleichheit angestiegen ist.
Vor zehn Jahren protestierte ein junger Gemüseverkäufer in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid gegen Repression und Schikanen. Er zündete sich an, um ein Fanal zu setzen, das war am 17. Dezember 2010. Drei Wochen später, am 4. Januar 2011, starb er an den schweren Verbrennungen.
Anlass der Verzweiflungstat war, dass der junge Mann keine Genehmigung für seinen Gemüsestand hatte und deswegen von der Polizei drangsaliert wurde. Das Gemüse wurde beschlagnahmt, auch die Waage nahm man ihm weg. Seine Beschwerde blieb erfolglos, er wurde von der Polizei misshandelt.
Tatsächlich war es nicht die erste Verzweiflungstat, die von jungen Menschen in der arabischen Welt an sich selber verübt wurde. Doch meist legte sich der Mantel des Schweigens über die zahlreichen Tragödien, mit denen die Familien fertig werden mussten.
Milliardenschwere politische und militärische Unterstützung durch die USA, EU und NATO für die langjährigen Präsidenten in Tunesien und Ägypten – um nur Beispiele zu nennen – hatten den herrschenden Systemen immer wieder Rückendeckung gegeben und damit politische Veränderungen im Keim erstickt. Westliche Medien berichteten kaum über die soziale Lage in den Ländern und auch nicht darüber, als tausende junge Männer aus Tunesien, Libyen, aus den palästinensischen Flüchtlingslagern von "Geschäftsleuten aus den Golfstaaten" für den Dschihad, den "Heiligen Krieg", angeworben wurden. In den 1980er Jahren zogen sie in den Kampf gegen die Sowjetunion in Afghanistan. Nach 2001 war das Land erneut Schauplatz eines erstarkenden Dschihad, der sich über Zentralasien in den Irak und schließlich nach Syrien fortsetzte.
Der Grund, dass die jungen Männer in den Krieg zogen war, dass sie dafür bezahlt wurden und im Falle ihres Todes ihre Familien eine Abfindung erhalten sollten. Diese Männer hatten keine Aussichten auf ein erfolgreiches Berufs- und Familienleben in ihrer Heimat, denn ohne Arbeit war es ihnen unmöglich zu heiraten und einen Hausstand zu gründen. Selbst gut ausgebildete junge Männer fanden in ihren Heimatländern keine Arbeit, Auswanderung war schwierig, ein Visum für Europa zu erhalten war fast unmöglich.
Die Not des Gemüseverkäufers aus dem tunesischen Sidi Bouzid und die entwürdigende Behandlung seines Anliegens durch Behörden und Polizei waren also nicht neu und auch kein Einzelfall. Neu war lediglich, dass die gesammelte Weltpresse darüber berichtete. Tatsächlich war der "Arabische Frühling" nicht die Stunde politischer Veränderungen, es war die Stunde der "sozialen Medien" von Facebook, Twitter, Google und Co.
Der Nachrichtensender Al Jazeera aus dem Golfemirat Katar schrieb in Kairo Geschichte, als er rund um die Uhr vom Tahrir-Platz berichtete und die jungen Demonstranten, darunter viele Frauen, ausgiebig zu Wort kommen ließ. Die Live-Berichterstattung brachte dem Sender weltweit ein Millionenpublikum. Dass dahinter auch politische Interessen der Muslimbruderschaft standen, mit denen das Emirat Katar sympathisiert, ist bis heute vielen nicht bekannt. Die Einseitigkeit der Berichterstattung von Al Jazeera wurde von arabischen Journalisten kritisiert. Der langjährige Korrespondent des Senders in Deutschland, Aktham Suliman, verließ nach zehn Jahren aus Protest im Jahr 2012 den Sender. Für westliche Redaktionen aber wurde die Berichterstattung des Senders so wichtig, als seien dort die eigenen Korrespondenten am Werk. Von der britischen BBC wechselten sogar Sprecher und Journalisten zu Al Jazeera.
Aufstieg der Muslimbrüder
Die rasche Unterstützung der westlichen Großmächte für die in vielen arabischen Ländern verbotene Muslimbruderschaft in Ägypten blieb bei der Fülle der täglichen Meldungen weitgehend unbeachtet. Die Unterstützung kam zunächst aus dem NATO-Land Türkei in Gestalt des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Dessen Partei (Adalet ve Kalkınma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) ist eine Schwesterorganisation der arabischen Muslimbrüder. Für die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz war die Rolle des Militärs in der Türkei ein Beispiel, von dem Ägypten lernen sollte, wie die Autorin damals vor Ort erfuhr. Viel wussten die Menschen über die Türkei nicht.
Im Juni 2011, als sich die ägyptischen Muslimbrüder auf die Parlamentswahlen in Ägypten vorbereiteten, erklärte US-Außenministerin Hillary Clinton gegenüber Journalisten in Budapest, Washington habe seit fünf oder sechs Jahren "begrenzte Kontakte" zu der islamistischen Gruppe. Die USA wollten "mit allen Gruppen in Kontakt stehen", so Clinton.
Die "politische Landkarte ändere sich in Ägypten", so Clinton weiter. Demokratie, Gewaltfreiheit, Respekt von Minderheiten und Gleichstellung der Frauen seien für Washington von großer Bedeutung. Die Muslimbruderschaft zeigte sich erfreut über Clintons Äußerungen. Man werde zu den Wahlen eine neue Partei gründen, die nicht religiös, sondern zivil ausgerichtet sei.
Viele Stimmen in Ägypten und außerhalb warnten schon damals vor dem Islamismus der Organisation, die historische Verbindungen zu radikalen Gruppen habe. Noch im Jahr 2011 zog die Allianz aus USA, Türkei, Katar, Saudi-Arabien und der Muslimbruderschaft zum Krieg gegen Libyen und Syrien.
Mit der Operation "Timber Sycamore" wurden ab 2012 Waffen in das syrische Grenzgebiet transportiert, um die "Rebellen" zu unterstützen. Zuvor waren schon aus Libyen Kämpfer und Waffen über das Mittelmeer in die Türkei und weiter nach Syrien geschmuggelt worden.
Ziel war der Sturz von Präsident Baschar al-Assad, aber der Plan schlug fehl. Die Waffen landeten bei extremistischen Gruppen wie der Nusra-Front oder dem sogenannten "Islamischen Staat" im Irak und in der Levante. Spätestens jetzt wurde deutlich, dass es den USA und deren Verbündeten in Europa und am Golf nicht um gesellschaftliche Veränderungen im Interesse der Bevölkerung in der arabischen Welt ging.
In einer Analyse des US-Militärgeheimdienstes DIA über das Geschehen in Syrien vom 12. August 2012 hieß es: "A. Im Land nimmt die Entwicklung eine deutlich konfessionelle Richtung. B. Salafisten, die Muslimbruderschaft und AQI (Al-Qaida im Irak) sind die wichtigsten Kräfte, die den Aufstand in Syrien vorantreiben. C. Der Westen, die Golfstaaten und die Türkei unterstützen die Opposition; während Russland, China und Iran das Regime unterstützen. (... geschwärzt)". Und weiter:
"Wenn die Lage sich entwirrt, gibt es die Möglichkeit, dass – erklärt oder nicht erklärt – ein salafistisches Fürstentum im Osten Syriens (Hasaka und Deir ez-Zor) etabliert wird. Und das ist genau, was die Mächte, die die Opposition unterstützen, wollen, um das syrische Regime zu isolieren, das als 'strategische Tiefe' der schiitischen Expansion (Irak und Iran) betrachtet wird."
Es ging "dem Westen, den Golfstaaten und der Türkei" also um die Kontrolle der Region gegen "Russland, China und Iran". Nach zehn Jahren ist diese Konfrontation heute deutlich zu sehen. Die arabische Welt – von Marokko bis Irak, von der Golfregion bis Sudan – ist heute Aufmarschgebiet internationaler Armeen und Milizen im Kampf um eine neue Weltordnung. Die umliegenden Meere und Meerengen sind hoch militarisiert. Es geht um das Selbstbestimmungsrecht der Völker der Region, international geht es um Macht und Kontrolle einer geostrategisch wichtigen und an Öl und Gas reichen Region.
Folgen der westlichen Interventionen
Die Unzufriedenheit der Menschen, ihre Armut, ihre Entwürdigung und ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft wurden und werden für westliche politische Pläne in dieser Region ausgenutzt.
Die Folgen sind verheerend:
Libyen ist nach der Invasion von Frankreich, Großbritannien und den USA 2011 verwüstet und zum El Dorado verschiedener Milizen geworden, die von konkurrierenden regionalen und internationalen Staaten unterstützt werden.
Syrien soll nach zehn Jahren Krieg mit einem Wirtschaftskrieg, einseitig verhängten wirtschaftlichen Strafmaßnahmen, Sanktionen und dem US-Caesar-Gesetz in die Knie gezwungen werden.
Der Jemen, schon vor 2011 das Armenhaus der arabischen Welt, wird in einem saudisch geführten Krieg gegen die Huthis in Grund und Boden gebombt.
Der Irak wurde zum Aufmarschgebiet des sogenannten "Islamischen Staats" im Irak und in der Levante, der bis nach Aleppo im Nordosten Syriens vorrückte, bevor er wieder zurückgeschlagen wurde. Der Krieg hinterließ eine Spur des Todes. Mossul im Norden des Iraks wurde bei einer Befreiungsoperation der US-geführten "Anti-IS-Allianz" mit irakischen Truppen und Milizen fast vollständig zerstört.
In Ägypten wurde nach einem kurzen fast freiheitlichen politischen Intermezzo die Muslimbruderschaft an die Macht gewählt, die später von General Abd al-Fattah as-Sisi entmachtet wurde.
Millionen Menschen aus all diesen Ländern sind oder waren auf der Flucht und wurden in alle Welt verstreut. Tausende verloren ihr Leben bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Die Mehrheit von ihnen lebt in Lagern im eigenen Land, in Nachbarländern oder in Europa.
Hoffnungslosigkeit und Entrechtung
Wie eingangs erwähnt hat der Guardian bei "YouGov" zum zehnten Jahrestag des "Arabischen Frühlings" eine Umfrage in Auftrag gegeben, um herauszufinden, was die Menschen in den betroffenen Ländern selber denken. Befragt wurden 5.275 Personen in acht Ländern, die mehrheitlich über Hoffnungslosigkeit und Entrechtung sprachen. Ihre Lage beschrieben sie als schlechter, als es vor dem "Arabischen Frühling" war. In Tunesien, Ägypten, Algerien, Irak und Sudan werden die Proteste demzufolge von mehr als 50 Prozent der Befragten nicht bedauert. In Libyen, Syrien und Jemen allerdings sagte eine Mehrheit von bis zu 75 Prozent, die Proteste hätten besser nicht stattgefunden. Infolge der Proteste sei Krieg ausgebrochen, was zu ausländischen Interventionen geführt und die Länder zerstört habe.
In den meisten Ländern wurde die Befürchtung geäußert, dass die Kinder eine schlechtere Zukunft haben würden, als die Kinder vor 2011. Sozialverträge seien zerrissen, eine kleine Elite bereichere sich auf Kosten einer armen Mehrheit. Damit hat das, was die Menschen in vielen arabischen Ländern auf die Straße brachte, zugenommen. In Syrien sagten 92 Prozent der Befragten, die Ungleichheit in ihrem Land sei größer geworden. Im Jemen waren 87 Prozent dieser Meinung, in Tunesien 84 Prozent. Weit über 50 Prozent sahen das ebenso im Irak, in Algerien und Ägypten.
Über die Meinungsfreiheit waren die Befragten unterschiedlicher Meinung. In Ägypten meinte ein Fünftel, sie könnten heute freier sprechen, während etwa die Hälfte sagte, dass es gegenüber der Zeit vor den Protesten schwieriger geworden sei, seine Meinung frei zu äußern. Die positivste Einstellung diesbezüglich fand sich in Tunesien, wo 86 Prozent angaben, es sei leichter die Regierung zu kritisieren und die Gefahr, willkürlich festgenommen zu werden, sei gesunken. Dennoch sahen auch die befragten Tunesier ihr Leben insgesamt als weniger stabil, als vor den Protesten.
Ein auffälliges Ergebnis der Umfrage war der große Unterschied zwischen den Generationen. In den meisten Ländern waren es die jungen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 24, die die Lage besser einschätzten, als vor 2011. Sie haben nur wenige Erinnerungen an die Zeit vor den Unruhen und Kriegen, sie werden die arabischen Länder in Zukunft prägen.
Unsicherheit, Armut, Perspektivlosigkeit prägen zehn Jahren nach dem "Arabischen Frühling" den Alltag der Menschen in den arabischen Ländern. Die Warnungen, dass die Proteste zu militärischen Konflikten, dem wachsenden Einfluss von Islamisten, zu ausländischer Einmischung, zu Unrecht und größerer Ungleichheit führen könnten, haben sich bewahrheitet.
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