Dr. Gniffkes Macht um acht: Der voll aufgedrehte Regierungslautsprecher zum Thema Straßburg
von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam
Was ein rechter Staatsfunk ist, zeigt die ARD-aktuell-Redaktion einmal mehr, inhaltlich wie sprachlich, in ihrem Bericht über die Straßburger Tragödie: Der (mutmaßliche) Mörder ist tot / Die Ordnung ist wiederhergestellt / Der Weihnachtsmarkt hat wieder geöffnet / Jetzt aber Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! – Nicht die Spur kritischer Distanz. Blankes Nachbeten der behördlichen Darstellung. Verzicht auf Nachdenken und eigenständige Prüfung. Den politischen Kontext des Geschehens ignorierend. Journalistische Grundsätze missachtend, zu denen auch der Respekt vor rechtsstaatlichen Prinzipien gehört. Im vorliegenden Fall: Die grundsätzliche Pflicht zur Unschuldsvermutung im Hinblick auf den "mutmaßlichen" Attentäter.
Was fordert die Europäischen Menschenrechtskonvention?
Jedermann hat solange als unschuldig zu gelten, bis in einem allgemeinen, gesetzlich bestimmten Verfahren rechtskräftig seine Schuld festgestellt wurde.
Sind der Tote und der Attentäter überhaupt identisch? Die Tagesschau stellt es nicht infrage. Wenn die Polizei das erklärt, muss es die Tagesschau glauben? Es wird schon stimmen... Irreführende, falsche Behördenauskünfte gibt es nämlich gar nicht. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, nicht wahr?
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Also servierte die Tagesschau in ihrer Hauptausgabe um 20 Uhr am 14. Dezember reichlich vage, der mutmaßliche Attentäter sei "getötet worden":
Nach dem Tod des mutmaßlichen Attentäters von Straßburg fahnden die Ermittler nach möglichen Komplizen. Der Franzose mit algerischen Wurzeln war gestern abend bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötet worden. Der 29jährige wurde im Stadtteil Neudorf aufgespürt, in der Rue du Lazaret.
Im darauf folgenden Video, einem Zusammenschnitt aus Nachrichtenfilm und Reporterbericht, wird weiter mitgeteilt, Präsident Macron sei zu einem Trauerzeremoniell nach Straßburg gekommen und habe den französischen und deutschen Polizisten gedankt.
Wie schön von dem Mann. Die Tagesschau vergisst auch nicht, einen ganz entscheidenden Satz anzufügen, den Macron allerdings nicht in Straßburg, sondern woanders geäußert hatte. In Brüssel, beim EU-Gipfel:
Unser Land muss zu Ruhe und Ordnung zurückkehren.
Die unausgesprochene, aber deutliche Botschaft an die revoltierenden "Gelbwesten": Kuscht endlich, oder es geht euch genauso wie dem Kerl in Straßburg.
Davon durften sich auch - vermittels Tagesschau - all jene deutschen Mitbürger angesprochen fühlen, die in den vergangenen Wochen zu der Überzeugung gelangt waren, hierzulande sei es ebenfalls längst an der Zeit, die gelben Westen überzustreifen. Doch dazu später noch ein paar Bemerkungen.
Die Nachricht in der Tagesschau-Hauptausgabe hatte den gleichen Tenor und Stil, wie schon die Internet-Version auf tagesschau.de. Dort hieß es:
Der Attentäter hatte am Dienstagabend das Feuer in der Straßburger Innenstadt eröffnet und Menschen auch mit einem Messer angegriffen. Zeugen haben ihn nach Angaben des Chefermittlers Rémy Heitz "Allahu Akbar" rufen hören. Anschließend war er auf der Flucht vor der Polizei von Soldaten verletzt worden und zunächst spurlos verschwunden.
Das wirkt sachlich und stimmig. Es fehlt nur der Hinweis, dass Zeugenaussagen, weil immer subjektiv gefärbt, mit Vorsicht zu genießen sind, wie jeder Kriminologe und jeder Strafrechtler weiß. Kann man wirklich einen arabischen Ausruf wahrnehmen und verstehen, während der Knall von Pistolenschüssen aufs Trommelfell schlägt? Aber weiter im Text auf tagesschau.de:
Am Donnerstagabend hatten Spezialeinheiten den 29-Jährigen mutmaßlichen Attentäter Chérif Chekatt im Straßburger Stadtteil Neudorf erschossen. Nach Angaben von Innenminister Christophe Castaner hatte sich Chekatt seiner Festnahme widersetzt und das Feuer auf die Polizisten eröffnet.
Der Tote ist doch nicht erwiesenermaßen identisch mit dem Attentäter. Und noch eine Unregelmäßigkeit fällt auf: In der Internet-Version heißt es, "Spezialeinheiten" hätten den Mann erschossen. In den TV-Berichten hingegen, drei einfache Streifenpolizisten hätten ihn aufgespürt und getötet. Ja was denn nun?
Den Widerspruch löst die Tagesschau nicht auf. Und erst recht interessiert sich die Redaktion nicht für die äußerst fragwürdige Darstellung der französischen Behörden: Chérif Chekatt, der vermeintliche Attentäter, sei vor einem geschlossenen Hauseingang in der Rue Lazaret gestellt worden. Die Polizeibeamten hätten ihn angesprochen und festnehmen wollen, er aber habe sofort geschossen. Die Polizisten hätten zurückgeschossen und ihn getötet.
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Mit Verlaub, diese Darstellung weckt heftige Zweifel. Genauer: den Verdacht, dass da kurzer Prozess gemacht wurde, eine extralegale Hinrichtung. Weitere Fragen stellen sich uns. Nicht aber unseren Qualitätsjournalisten.
Der Mann war schon am Tag zuvor auf dem Weihnachtsmarkt angeschossen worden. Wie schwerwiegend und hinderlich war diese Verletzung? Beeinträchtigte sie Reaktions- und Handlungsfähigkeit des Flüchtigen? Wie wahrscheinlich ist es, dass ein von (mindestens) drei Polizisten gestellter, verletzter Mann:
/ nach seiner Waffe greift / und schießt / und nichts trifft / obwohl seine Ziele direkt vor ihm stehen?
Wie wahrscheinlich ist es, dass die Polizisten ihn zunächst mal schießen lassen und erst danach zurückschießen?
Wie groß war die Distanz zwischen Flüchtigem und Polizisten? Wie viele (Fehl-)Schüsse hat er abgegeben? Wo sind deren Projektile in der geschlossenen Bebauung der Rue Lazaret eingeschlagen? Wieviel Munition hatte der Flüchtige überhaupt noch bei sich?
Wie viele Schüsse haben die Polizisten abgefeuert? Wie viele haben den Flüchtigen getroffen, und wo? War es zwingend, den Mann zu töten? War es ausgeschlossen, ihn lediglich zu "stellen", auf Verstärkung zu warten und auch darauf, dass er sich lebendig ergibt? Warum war es ausgeschlossen, ihn per Schusswaffengebrauch zwar außer Gefecht zu setzen, aber sein Leben zu schonen?
Wurde der Ort des Geschehens kriminaltechnisch untersucht? Spuren, Ergebnisse? Bestätigen sie die offizielle Version des Geschehens?
Und eine sarkastische Frage: Sind sich die Polizisten ganz sicher, dass der Mann nicht noch einmal "Allahu akbar!" geschrien haben könnte, ehe er sich endlich erschießen ließ?
Ist den Qualitätsjournalisten der ARD-aktuell tatsächlich nicht aufgefallen, wie verdächtig glatt und rund sich der ganze Bericht präsentiert?
Da die Chose in Frankreich spielt, sei die Frage erlaubt: Wirkte die Story auf die ARD-aktuell-Redaktion nicht wie ein déjà-vu, kam da kein "Aha-Gefühl" auf? Ist den werten Kollegen nicht die vollkommene Parallelität zum Attentat auf dem Berliner Weihnachtsmarkt aufgefallen? Oder, falls doch: Hielten sie es für unnötig, auf diese Analogien hinzuweisen? In Straßburg wie in Berlin standen die mutmaßlichen Täter schon zuvor unter enger Überwachung von Staatsschutz und Polizei. Beide sollten – "Gefahr im Verzug" – kurz vor den Attentaten festgenommen werden. Beide konnten sich aber dünne machen, trotz der engen Überwachung. Beide hatten ein Netz von Komplizen, wahrscheinlich auch weit in die Geheimdienste hinein. Beide wurden kurz nach der Tat gesehen, verfolgt und schließlich "auf der Flucht erschossen".
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Und es können nun beide leider nicht mehr aussagen. Über sich, über die Motive ihrer Tat, über ihre Hintermänner und sonstigen Unterstützer. Wie praktisch, nicht?
Die Umstände des Berliner Zwillingsfalles sind bis heute nicht aufgeklärt, sind immer noch Gegenstand von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Die Tagesschau hielt es nicht für nötig, auf die frappierende Ähnlichkeit in den Abläufen beider Ereignisse aufmerksam zu machen. Als ob diese Qualitätsjournalisten noch nie den Begriff "Tiefer Staat", "Staat im Staate" gehört hätten.
Ja, wenn man selbst zu dicht dran ist an der Staatsmacht, fast Teil derselben, dann sieht man eben nicht mehr, was dahinter steckt, hinter soviel obszöner Zufälligkeit.
Ein Querverweis auf die Gelbwesten war ebenfalls angebracht. Der Tagesschau erschien das allerdings nicht so. Kam das Attentat in Straßburg dem französischen Präsidenten Macron nicht wie gerufen? Wirkt es nicht "wie bestellt"? Die Gelbwesten hatten Macron und seine antisoziale Politik bereits an den Rand des Scheiterns gebracht. Jetzt kann er aufatmen; nach Straßburg herrscht landesweit Angst. Der Ruf nach dem Starken Staat erschallte, und schon ist die geballte Staatsmacht zur Stelle.
Die Gelbwesten-Akteure wissen jetzt, was Sache ist. Sie wollen "trotzdem" weiter protestieren. Mal sehen, wie lange sie noch durchhalten, bis ihr Protest erstickt. Erste Anzeichen für die Schwächung des Widerstands gab es schon:
Sie waren nicht mehr ganz so zahlreich wie am vergangenen Samstag - und es ging auch nicht mehr so hoch her bei den "Gelbwesten". An diesem fünften Protest-Samstag in Folge zählten die Sicherheitskräfte gegen Mittag etwa 3.000 Demonstranten in Paris. Die meisten protestierten friedlich.
Was Wunder, bei 69.000 landesweit mobilisierten Polizisten. Allein in Paris 8.000 Mann, mit 14 Panzerfahrzeugen der Gendarmerie ausgestattet. Auf Verständnis für sich und ihre grundlegenden sozialen Anliegen dürfen die Gelbwesten ohnehin nicht hoffen. Jedenfalls nicht auf das Verständnis der Staats- und der Konzernmedien. Schon gar nicht der deutschen.
Wie dieses Verständnis aussehen könnte, zeigte Pamela Anderson am 3. Dezember in einem Offenen Brief an Präsident Macron:
... was ist die Gewalt dieser Menschen und was sind brennende Luxusautos verglichen mit der strukturellen Gewalt der französischen – und globalen – Elite? ... Sie kommt von den zunehmenden Spannungen zwischen der städtischen Elite und der armen Landbevölkerung, zwischen den Politikern und den 99 Prozent, die genug von Ungleichheit haben – nicht nur in Frankreich, sondern auch auf der ganzen Welt.
Pamela Anderson war bisher nur als sexy Model bekannt. Sie hat ersichtlich mehr vorzuweisen als einen Prachtbusen: Nachdenklichkeit, analytische Kritikfähigkeit. Und deutlich mehr Stil als des Chefredakteurs Dr. Gniffkes Qualitätsjournalisten.
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Das Autoren-Team:
Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 - 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Journalist. 1975 - 1996 im NDR, zunächst in der ARD-Tagesschau, nach 1991 in der NDR-Hauptabteilung Kultur. Danach Lehr- und Forschungsauftrag an der Fu-Jen-Uni Taipeh.
Anmerkung der Autoren:
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