Finale Rettungsschüsse im Bundestag und Tagesschau nimmt endgültig Abschied vom Journalismus
von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam
Schäuble behauptet ungeniert: Die Würde des Menschen stehe über dessen Recht auf Leben. Und die Tagesschau, führende Repräsentantin der "Vierten Gewalt" im Staate, unterschlägt diese Informationen(1) und deren unerlässliche Erklärung und Einordnung.(2)
Die indirekte Bankrotterklärung der ARD-aktuell kam in der Tagesschau-Hauptausgabe um 20 Uhr am 26. April:
Bundestagspräsident Schäuble hat angesichts der Einschränkung vieler Grundrechte davor gewarnt, dem Schutz von Leben in der Corona-Krise alles unterzuordnen. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert im Grundgesetz gebe, dann sei es die Würde des Menschen, sagte er dem Tagesspiegel. Diese sei unantastbar, aber sie schließe nicht aus, dass Menschen sterben müssen.(3)
Daniel Popakra, ARD-Hauptstadtstudio, berichtet anschließend über Alltagsaspekte der Kontaktsperre, qualifiziert Schäubles Säure-Attentat auf die Verfassung als "bemerkenswerte Äußerung" und zitiert ihn noch einmal wörtlich:
Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig."(4)
Die Äußerung des Bundestagspräsidenten, protokollarisch der Zweite im Staate (nach dem Bundespräsidenten), ist als offiziöse Handreichung bei behördlichen Entscheidungen über Leben und Tod zu verstehen. Einen
"Durchbruch des Sozialdarwinismus in Zeiten der Corona-Pandemie"(5)
nannte Rüdiger Minow das Schäuble-Interview im Berliner Tagesspiegel.(6) ARD-Mann Popakra berichtete, Schäuble erhalte nicht nur lebhafte Unterstützung von seinem Parteifreund Armin Laschet, dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten, sondern auch von der Bündnis90/Die Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt und von Alexander Gauland, Fraktionschef der AfD. Unisono, frei von Scham und Berührungsängsten, bekundeten die alle:
Schäuble hat recht.(Anm.4)
Hat er nicht. Und das weiß er selbst am besten. Bereits als Bundesinnenminister hatte er vergeblich versucht, sein zynisches Grundrechtsverständnis durchzusetzen. Von der Idee, dass der Staat gegebenenfalls Herr über Leben und Tod seiner Bürger sei, war er schon damals geradezu besessen.(7) Er hatte deshalb ein "Luftfahrtsicherheitsgesetz" auf den Weg gebracht, das die Behörden ermächtigte, von Terroristen entführte zivile Passagierflugzeuge notfalls abzuschießen. Das Bundesverfassungsgericht verwarf das Gesetz und belehrte den Urheber:
Dem Staat ist es im Hinblick auf dieses Verhältnis von Lebensrecht und Menschenwürde einerseits untersagt, durch eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen. Andererseits ist er auch gehalten, jedes menschliche Leben zu schützen.(8)
Die Tagesschau hätte mit Verweis auf dieses höchstrichterliche Urteil zumindest den übelsten Auswüchsen des Streits über das Anti-Pandemie-Regime der Bundesregierung ein rasches Ende machen können. Hat sie aber nicht, und das disqualifiziert sie.
Unabdingbares Recht
Klare Ansage: Der Staat darf nicht über das Lebensrecht seiner Bürger befinden, weder aktiv noch passiv. Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit und Opportunität haben in diesem Zusammenhang nichts verloren. Die Grundrechte "Würde des Menschen" und "Recht auf Leben" beschränken sich nicht gegenseitig, sondern bedingen einander. Sie stehen nicht zur Disposition anderer Freiheitsrechte oder gar zulasten von Wirtschaftsinteressen.
Der Staat hat jedes menschliche Leben zu schützen. Jedes Leben, auch das des 90-jährigen Vorerkrankten – sofern der es nicht selbst enden lassen möchte.
Die Tagesschau-Redaktion hätte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem eigenen Archiv hervorholen und sich vergewissern können.(9) Sie hätte mit angemessen ausführlicher Berichterstattung darüber jene Kontrollfunktion erfüllt, die den Medien als de facto "Vierter Gewalt im Staat" zukommt.
Die Politiker aller Couleur äußerten sich ebenfalls nicht; die bare ethische Selbstverständlichkeit des Karlsruher Urteils war ihnen entweder gar nicht bewusst oder völlig egal. Eine rühmliche Ausnahme war nur der so oft herablassend beurteilte SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans. Er wies den bösartigen Vorstoß des Rechtsauslegers Schäuble im Deutschlandfunk entschieden zurück.(10)
Schäubles Infamie hat längst die Vorstellung salonfähig gemacht, es sei besser, "nutzlose" Alte, Erwerbsgeminderte und Schwache zu isolieren und die arbeitsfähigen, kräftigen Jüngeren wieder zur Arbeit zu schicken, vulgo: sie ungeniert auszubeuten. Hoch lebe das Interesse der Wirtschaft und ihrer besserverdienenden Eliten! Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, rechter Frontmann der Grünen, gab denn auch die allerletzten Reste mitmenschlichen Anstands preis:
Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einen halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.(11)
Palmers Grundvorstellung von der Existenz "lebensunwerten Lebens" pflegten schon die Nazis. Die redeten nur nicht lange salbungsvoll drum herum, sondern bauten gleich die Selektionsrampe. Die Grünen teilen sich heute in zwei protofaschistische Flügel: Realos und Brutalos. Was sie eint, ist die lebensverachtende Bereitschaft zum Krieg gegen andere Völker, die nicht auf transatlantisch-ökologischer Linie sind.
Innen hui, außen pfui
Die Verfassungsnormen "Menschenwürde" und "Lebensrecht" werden nicht nur innenpolitisch gegeneinander gestellt, sondern im außenpolitischen Raum komplett ignoriert – und dabei machen die meisten Bundestagabgeordneten mit. Deutschland zeigt immer häufiger Kriegsflagge. Die zynische Kontinuität der Negation des Lebensrechts belegt ein Tagesbefehl der "Verteidigungsministerin" Annegret Kramp-Karrenbauer an unsere Besatzungstruppen in Afghanistan: Dort sei
... sichtbar, dass die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Gefecht auch töten müssen und sterben können ..."(12)
Kontext und militaristische Sprache machen deutlich, dass es um die Durchsetzung geostrategischer und wirtschaftlicher Interessen mittels Krieg und mörderischer Gewalt geht. Diese Interessen haben höheren Kurswert als das Recht des Menschen auf sein Leben. In der politischen Praxis zeigt sich unübersehbar, wie doppelbödig und heuchlerisch das deutsche Idearium von "Würde des Menschen" und "Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" ist.
Im Schatten der Corona-Pandemie schreckte der Bundestag nicht davor zurück, zahlreiche Kriegseinsätze in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten und in Zentralasien zu verlängern und auszuweiten, teils auch gegen den ausdrücklichen Willen der fraglichen Staaten: Im Irak, in Syrien, Afghanistan, vor der Levante, im westlichen Mittelmeer, in der Sahelzone, in Mali haben "unsere Jungs" weiterhin den Finger am Abzug. Die reaktionäre, bellizistische Mehrheit des Parlaments will es so; sie schert sich einen Dreck um den Aufruf des UN-Generalsekretärs Guterres, wenigstens während der Corona-Pandemie einen weltweiten Waffenstillstand zu wahren.(13)
Politiker der Güteklasse B
Heiko Maas, Außenminister der "Güteklasse B, Dutzendware aus der Legebatterie der Parteipolitik"(14), ließ immerhin einen Blick in den Abgrund seiner Unaufrichtigkeit und Heuchelei zu:
…auf der Welt gibt es anscheinend einige, die diese Corona-Krise nutzen wollen, um in dem Konflikt, in dem sie engagiert sind, militärische Vorteile zu erzielen, dann kann man das nicht anders als pervers bezeichnen.(15)
Dem Minister ging es um die Rechtfertigung eines weiteren Bundeswehr-Auslandseinsatzes, diesmal vor Libyen.
Vor vier Monaten erst hatten Kanzlerin Merkel und ihr Ministerdarsteller sich selbst auf der "Berliner Libyen-Konferenz" großsprecherisch zu Vermittlern in diesem blutigen Bürgerkrieg ernannt und das auch über die Wurfgeschütze der ARD-aktuell verbreiten lassen. Um aus der verkrampften deutschen Anmaßung überhaupt etwas "Vermittelndes" zu quetschen, wurde damals ein Waffenembargo beschlossen, obgleich allen Beteiligten bewusst war, dass sich keine der libyschen Kriegsparteien daran halten würde und es auch gar keine Möglichkeit gibt, das zu erzwingen. Die vernagelte "Begründung" des Möchtegern-Geopolitikers Maas dafür, dass die Bundeswehr trotzdem in Libyen mitmischen solle, ist auf Tagesschau.de nachlesbar: Das in Berlin für Libyen beschlossene Waffenembargo werde "nicht so umgesetzt, wie wir uns das wünschen."(16) Ach nein?
Klassischer Verlautbarungsjournalismus der Tagesschau am 22. April, 20 Uhr:
Die EU-Außenminister haben in einer Videokonferenz über die Lage der Flüchtlinge im Bürgerkriegsland Libyen beraten. In der EU gibt es die Sorge, tausende Menschen könnten sich inmitten der Corona-Krise auf den Weg übers Mittelmeer nach Europa machen. Zuvor hatte das Bundeskabinett in Berlin grünes Licht für die deutsche Beteiligung an der EU-Operation Irini gegeben, mit der das Waffenembargo gegen Libyen überwacht werden soll.(17)
Ja, worum geht es denn nun? Um unerwünschte Waffenlieferungen oder unerwünschte Flüchtlinge? Um ausgelatschte, dümmliche Metaphern ("grünes Licht gegeben") ist die Tagesschau-Redaktion nie verlegen, um klare Aussage zu häufig. Im anschließenden Filmbericht sagt Reporter Markus Preiß:
... Die Operation löst den bisherigen EU-Einsatz SOPHIA ab, mit einem großen Unterschied: Die beteiligten Schiffe sollen ausdrücklich keine Flüchtlinge aus Seenot retten. (ebd.)
Es werden also mal ganz nebenbei das Internationale Seerecht und das Völkergewohnheitsrecht gebrochen, das alle Schiffsführer verpflichtet, Menschen in Seenot zu retten(18) – und die Tagesschau weist mit keinem Wort auf diesen verbrecherischen Aspekt des Regierungsbeschlusses hin. Sie lässt aber den inhumanen Angeber Maas zu Wort kommen:
Wir haben die Mission innerhalb kürzester Zeit beschlossen, und damit auch, obwohl uns Viele ja das gar nicht zugetraut haben, als Europäische Union gezeigt, wir sind bereit, Verantwortung zu gehen. (Anm.17)
Welch ein gewissenloses Gestammel. Doch juckt das die Tagesschau-Qualitätsjournalisten?
In den libyschen Flüchtlingslagern vegetieren mehr als 700.000 Menschen in unbeschreiblichem Elend. Es herrscht der blanke Terror.(19) Korrupte Milizen, von der EU toleriert und teilweise sogar finanziert, begehen unvorstellbar brutale Menschenrechtsverletzungen. Einheiten aus diesen Verbrecherbanden sollen nun im Rahmen der EU-Mission IRINI "für Polizeiaufgaben" geschult werden. Nicht zu fassen? Niederträchtig? Es gäbe zahlreiche treffende Begriffe für die menschenverachtende, aber systematisch betriebene deutsche Außenpolitik.
Idiotisch und widersprüchlich
Maas möchte angeblich das UN-Waffenembargo durchsetzen. Wäre dem tatsächlich so, dann würde sich sein Bestreben gegen die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar richten, allesamt Großkunden der deutschen Rüstungskonzerne. Die haben im vorigen Jahr Waffen für 1,3 Milliarden Euro dorthin exportiert. Waffen, die nun auch in Libyen eingesetzt werden.(20) Deutsche Waffenverkäufe an die Kriegsparteien einerseits und deutsche Aufmandelei für ein Waffenembargo andererseits: Der Hirnriss dieser Außenpolitik ist unübersehbar.
Der Bundestag debattierte das Libyen-Mandat für die Bundeswehr am Tag nach dem Kabinettsbeschluss. Doch was das allein entscheidungsbefugte Parlament zu sagen hatte, fand die Tagesschau schon nicht mehr berichtenswert. Deshalb hier ein Schlaglicht darauf, der Kommentar der Linke-Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen:
Herr Maas, Ihr sogenannter Friedenseinsatz ist so lange nichts anderes als eine Showveranstaltung, wie Sie an beide Seiten der jeweiligen Kriegskoalition weiter Waffen liefern ... gemeinsam mit Italien und Frankreich ... die, weil es um die Interessen ihrer Ölkonzerne ENI und TOTAL geht, die jeweils andere Seite im libyschen Bürgerkrieg unterstützen... (21)
Das Libyen-Mandat soll vorerst bis Ende April 2021 gelten. Seine Kosten sind mit rund 45,6 Millionen Euro veranschlagt. Für Lumpenpolitik ist seit jeher genug Geld da.
Bleibt anzumerken: 61 Prozent der Bundesbürger lehnen solche Auslandseinsätze ab, nur 30 Prozent sind eindeutig dafür.(22) Im Bundestag verhält sich das allerdings genau umgekehrt: Nur rund ein Drittel ist dagegen, zwei Drittel sind dafür. Soviel zum Thema "Volksvertretung".
Zurück zu Maas, dem Angeber, dem Heuchler: Noch im Januar hatte er in Anne Wills unsäglich mieser Talkshow behauptet, dass er mit den libyschen Milizionären und kriminellen Finsterlingen ganz gewiss nichts im Sinne habe:
Nein, das können wir nicht, das wollen wir auch nicht.(23)
Oh doch, "wir" können. Und "wir" wollen auch. "Wir" bewegen uns dabei ganz im ideellen Rahmen der Wert-des-Lebens-Debatte, wie eingangs beschrieben.
Der Bundesregierung ist das Leben von Afrikanern nämlich vollkommen wurscht. Noch mehr wurscht als den Schäubles und Palmers, die das Leben tausender alt oder krank und verletzlich gewordener Deutscher dem vorzeitigen COVID-19-Tod überlassen wollen.
Leben und andere sterben lassen, heißt ihre Devise.
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Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) https://augengeradeaus.net/tag/eunavfor-med/
(3) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-36791.html
(4) https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-693091.html
(5) https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8261/
(7) https://www.sueddeutsche.de/politik/luftsicherheitsgesetz-schaeuble-ist-besessen-1.434443
(15) https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/maas-bundestag-irini/2336740
(16) https://www.tagesschau.de/ausland/libyen-konflikt-coronavirus-101.html
(17) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-36741.html
(18) https://de.wikipedia.org/wiki/Seenotrettung
(21) https://www.sevimdagdelen.de/libyen-einsatz-der-bundeswehr-abenteuerlich-absurd-und-aberwitzig/
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