Corona-Krise: Regiert von einem Kabinett in der Dunkelkammer
von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam
Es graut die politischen Verantwortlichen und deren Hofberichterstattern anscheinend nicht wirklich vor der Corona-Pandemie, sondern vor einem Wähler, dem dämmert, welch hochgradige Gefahr sie selbst in dieser Krise darstellen. Nichtskönner, "führend in den Disziplinen Inkompetenz, Aussitzen und Beschwichtigen". (1)
Dieser Elite dürfte das ZDF-"Politbarometer" am 27. März gerade recht gekommen sein: 89 Prozent der Befragten meinen demnach, "Die Bundesregierung macht ihre Arbeit in der Corona-Krise gut."(2) Das ist der Wirkungsnachweis regierungsfrommer Informationspolitik von ARD-Tagesschau und ZDF-heute, den am häufigsten genutzten Nachrichtenquellen der Republik.
Gleich eingangs zwei krasse Fälle von politischem Missmanagement und redaktioneller Selbstzensur:
1. Krankenhäuser und Ärzteorganisationen beklagen seit Anfang Februar den Mangel an medizinischer Schutzkleidung und appellieren an die Bundesregierung, mit allen verfügbaren Mitteln Abhilfe zu schaffen. (3) Chinas Präsident Xi Jinping lässt Bundeskanzlerin Merkel wissen, die Volksrepublik sei "bei Bedarf bereit, im Rahmen unserer Fähigkeiten Hilfe zu leisten", – und Deutschland nimmt als einziges Land in Europa dieses Hilfeangebot nicht an. (4)
2. Das chinesische Gesundheitsministerium teilt schon am 22. Januar auf einer Pressekonferenz mit: "Der Mundschutz hilft, sich selbst und andere zu schützen." Gleich danach macht Beijing das Tragen der Atemschutzmasken zur Pflicht. Es erweist sich als äußerst erfolgreich gegen die Weiterverbreitung des Coronavirus. Das Ende der Epidemie in Hongkong unterstreicht das vor aller Welt. In Deutschland jedoch sind die Masken und generell Schutzanzüge bereits Anfang Februar Mangelware. Folgerichtig denkt kein politisch Verantwortlicher daran, eine allgemeine Tragepflicht zu verfügen. Wochen später sieht sich schließlich der Präsident der Bundesärztekammer veranlasst, zur Eigeninitiative aufzurufen. (5)
Grausige Realsatire
Im ZDF ist das ein Thema für Oliver Welkes Comedy: "Ein Einwegprodukt! Unsere Krankenhäuser kämpfen verzweifelt... und zahlen dabei Wucherpreise. Da werden bis zu 30 Euro für Masken verlangt, die vor der Krise 69 Cent gekostet haben." (6) Er untertreibt: Die Verbraucherzentrale Hamburg berichtet von Betrugsversuchen und Wucherpreisen sogar bis 999.99 Euro. Auch mit Desinfektionsmitteln blühe ein schwunghafter Schwarzhandel. (7)
Die Berliner Verantwortlichen gucken diesem Treiben tatenlos zu, von einem Einschreiten der Behörden keine Rede. Wucherpreise unter Strafe zu stellen und das Gesundheitswesen gegen den kriminellen "freien Markt" zu unterstützen und besonders den ärmeren Teil der Bevölkerung vor den Profitmachern und Beutejägern zu schützen? Kein Gedanke daran.
Die Hamsterkäufe hören nicht auf. Die zuständige Ministerin, Julia Klöckner, appelliert nur, statt zu handeln:
Aber bei den Grundnahrungsmitteln sind wir sehr gut aufgestellt (sic!). ...Wir werden nicht verhungern. Da sollten wir jetzt die Kirche im Dorf lassen… In der jetzigen Lage hat die Aufrechterhaltung der Lebensmittelversorgung eine hohe Bedeutung. (8, 9)
Ach bitte, nehmen Sie doch wieder Platz, Frau Ministerin! Zur unmissverständlichen Aussage, dass Hamstern asozial, ein maßloser Egoismus sei, der die Versorgung der Mitmenschen beeinträchtigt, können Sie sich nicht entschließen? Sie machen lieber auf sympathisch und lächeln? Nun denn. Also kein Nachdenken darüber, welche Rechtsmittel gegen den Ellenbogeneinsatz im Supermarkt und seine preistreibenden Folgen dienlich wären.
Stattdessen Klöckners Gerede:
Verbraucher sollten nur das kaufen, was sie wirklich brauchen. In Deutschland werden genug Grundnahrungsmittel erzeugt und verarbeitet. (ebd.)
Das wird die Ärmsten der Armen in unserem Land aber freuen! Millionen Bedürftige, die Hartzer, Rentner, Obdachlose bekommen seit Anfang März nichts mehr von der "Tafel", dieser Einrichtung zur Selbsthilfe, die unseren Reichen-Staat ohnehin schon so beschämte. Sie ist ja auch infolge des Versammlungsverbots nun bundesweit geschlossen. Sogar die übrig gebliebenen Nahrungsreste der Wegwerfgesellschaft werden diesen Mitmenschen jetzt vorenthalten.
Die Bundesregierung hat diese Ärmsten bei Beschluss und großartiger Verkündung ihres 156-Milliarden-Euro-Nachtragshaushalts ignoriert. Gäbe es nicht inzwischen ungezählte kleine, individuelle Initiativen, was wäre dann wohl das jetzige Los der Verelendeten? Wie lange reicht es noch zum Überleben?
Arbeitsdienst zu Felde
Julia Klöckner, Ministerin für Ernährung und Landwirtschaft, denkt an ihre Bauern – großes Wählerreservoir, starke Lobby von Agrarindustriellen und Krautbaronen – und plädiert für Neuzufuhr zum Ausbeutermarkt für Feldarbeiter. Weil infolge der Grenzschließungen keine Billigkräfte aus dem (süd-)östlichen Nachbarländern mehr kommen dürfen, sollen Kurzarbeiter, Arbeitslose und Asylsuchende als Erntehelfer ran:
In der Landwirtschaft zu arbeiten, ist eine Ehre und keine Degradierung. (10)
Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds, DGB, platzt angesichts der Haltung dieser ständig angetütert wirkenden Ex-Weinkönigin im Regierungsamt der Kragen:
In der Landwirtschaft rächt sich jetzt, dass das gesamte System seit Jahrzehnten auf Billiglohn, Sozialdumping, unzumutbare Bedingungen und Ausbeutung osteuropäischer Arbeitskräfte ausgelegt ist. (11)
Die Landwirtschaft müsse für diese schwere Arbeit endlich anständige, angemessene Lohn-, Arbeits- und Unterkunftsbedingungen bieten, dann ließen sich auch ausreichend Arbeitskräfte gewinnen. (ebd.)
Es gibt Gründe zuhauf, dass uns das Lachen im Halse stecken bleibt. Wie so oft zeigt sich aber, dass Politsatire leider informativer ist, als es die Fernseh-Nachrichten sind. "Lesen gefährdet die Dummheit": Wer in unseren Krisenzeiten nicht auch dieses Risiko noch eingehen und deshalb hier nicht weiterlesen möchte, dem empfehlen wir neben der schon zitierten ZDF-heute-show (Anm. 6) besonders die ZDF-Sendung "Die Anstalt" vom 23. März. (12) Da ist ein akzeptabler Ersatz für eigenes Nachdenken zu bekommen.
Gackernder Hühnerhaufen
Aus den Rohren von ARD-aktuell strömt hingegen nur die Struktur- und Perspektivlosigkeit der führenden Politakteure per O-Ton. Keine Spur von kritischer, beharrlicher, notfalls bohrender Nachfrage – einem Wesensmerkmal des Journalistenhandwerks. Die Redaktion fasste nicht einmal dann nach, als die Widersprüche auf der politischen Bühne im Fortissimo dröhnten: Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), Verwalter des Bundeslandes mit den bisher meisten Corona-Infizierten und -Toten, hatte am 26. März deklariert, das Ende der gegenwärtigen Grundrechtseinschränkung müsse beraten werden:
Wir können nicht ein halbes oder dreiviertel Jahr mit einer solchen Art Notstandsgesetzgebung leben. (13)
Bundeskanzlerin Merkel hatte zeitgleich dekretiert:
Ich will sehr klar sagen, dass im Augenblick nicht der Zeitpunkt ist, über die Lockerung dieser Maßnahmen zu sprechen. (14)
Was den Laschet-Kompagnon und Gesundheitsminister Jens Spahn jedoch nicht an seinem Kommentar hinderte, man könne sehr wohl über eine Lockerung der Einschränkungen reden, "wenn wir bis Ostern alle konsequent sind." (15)
Die einen "hüh!", die anderen "hott!". Ein passender Spruch an dieser Stelle, wir waren ja eben noch bei Angelegenheiten der Landwirtschaft. Gegacker wie auf dem Hühnerhof statt parlamentarisch kontrollierter, entschiedener Regierungspolitik. Bar jeglicher journalistischen Eigenständigkeit und kritischer Aufbereitung von der Tagesschau zusammengestellt und ins Publikum geblasen. (16) Ergebnis dieser Kakophonie ist, dass verständlicherweise selbst an sich irrationale Ängste in der Bevölkerung zunehmen.
Fast sechs Wochen verplemperte das politische Funktionspersonal in der Bundeshauptstadt und in den Bundesländern, obwohl in Bayern schon am 28. Januar die ersten Infektionsfälle bekannt geworden waren. Denn "man war entweder zu ignorant, Fachtexte zu lesen, oder zu arrogant, von den asiatischen Ländern zu lernen. ... Die Medien assistieren dabei wie gewohnt, allen voran Claus Kleber mit seinem China-Bashing. Die Marschrichtung lautet offenbar, das Staatsversagen zu kaschieren, noch bevor die ganze Bandbreite der Folgen sichtbar wird", meint dazu der Physiker und Jurist Alexander Unzicker. (Anm. 1) Noch immer seien die Maßnahmen nicht auf das Wesentliche fokussiert.
Verantwortungslose mit Volksmandat
Für seine Sichtweise spricht eine Menge. Zumindest die Bundesregierung wusste genau – oder hätte sich andernfalls entsprechend unterrichten lassen müssen – welche Gefahren mit einer Viren-Pandemie auf die Bevölkerung zukommen. Eine aussagekräftige Studie dazu hatten die Verantwortlichen selbst erarbeiten lassen und dem Parlament bereits vor sieben Jahren zugeleitet: Die Risiko-Analyse des Robert Koch-Instituts "Pandemie durch Virus Modi-SARS". (17)
Das Szenario der Modellanalyse: Eine von Asien ausgehend weltweite Verbreitung eines hypothetischen neuen Virus mit dem Arbeitsnamen "Modi-SARS-Virus". Die Analyse aus dem Jahr 2012 wirkt geradezu wie die Blaupause für die Corona-Pandemie 2020: Hohe Ansteckungsgefahr, rasante Verbreitung des Virus, bestürzend hohe Todesrate, Todesursache Lungenkollaps, alte Menschen und Vorerkrankte bilden eine besonders gefährdete Risikogruppe. Vorschläge der Analyse: Bereithaltung von Betten für möglicherweise bis zu vier Millionen Kranke, davon über zwei Millionen mit Intensivpflege-Bedarf, Bevorratung und Versorgung mit ausreichender Schutzkleidung, Schutzmasken, medizinisch-technischem Gerät.
Nichts dergleichen wurde seither realisiert, eine Manifestation der Gedanken- und Gewissenlosigkeit. Das ZDF-Magazin Frontal21 berichtete darüber und verwies auf die Versäumnisse der politisch Verantwortlichen. (18) Nichts von diesen finsteren Bewertungen gelangte jedoch ins Rampenlicht der ARD-Tagesschau.
Zu bedauern ist, dass so viele vermeintliche und tatsächliche "Experten" gegensätzliche Informationen und Einschätzungen verbreiten, ein wahrer Jahrmarkt der Eitelkeiten und der Sucht zur Selbstdarstellung. Epidemiologisch inkompetente Schreiber zuhauf meinten beispielsweise unter Hinweis auf ungleich höhere Opferzahlen einer Grippe-Pandemie, die Gefahr der Corona-Infektion relativieren zu dürfen und eine sofortige Aufhebung der Grundrechtsrestriktionen verlangen zu müssen; ihr Vorwurf: Unverhältnismäßig! An COVID-19 stürben ohnehin nur wenige Vorerkrankte und Alte. (19)
Selbst dem "Faktenfinder" der ARD wurde dieses Treiben zu bunt. Auf tagesschau.de wurde jenen "Medizynikern" aller Schattierungen nachgewiesen, dass nicht alles, was hinkt, schon ein Vergleich ist. (20)
Was die Statistik sagt
Das Durcheinander kontroverser Meinungsäußerungen trägt nicht die Bohne zur besseren Klärung bei und erst recht nicht zur Vertrauensbildung bei der Bevölkerung. Konkret und halbwegs verlässlich scheinen ihr allenfalls die regelmäßig aktualisierten statistischen Daten. Der Vergleich zwischen den rasant weiter steigenden Zahlen von positiv Getesteten und am Virus Gestorbenen in der "Westlichen Wertegemeinschaft" mit jenen in den asiatischen "Erfolgsländern" VR China und Südkorea ist allerdings erschütternd:
In den USA, Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland insgesamt:
350.000 Infizierte, Tendenz steil ansteigend.
In der Volksrepublik China und Südkorea insgesamt:
90.000 Infizierte, (vorerst) keine Zunahme mehr.
Der Westen hat fünfmal mehr Infizierte als der Ferne Osten. Noch schlimmer der Vergleich der Sterberegister:
In den USA, Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland insgesamt:
20.000 Tote, Tendenz rasch steigend.
In der Volksrepublik China und Südkorea insgesamt:
3.500 Tote, (vorerst) keine neuen Virus-Todesfälle mehr.
Sechsmal mehr Tote im Westen als im Fernen Osten. Für den Westen ähnlich ungünstig sieht der Statistik-Vergleich hinsichtlich der bereits (vorerst?) wieder Genesenen aus. (21, 22) (Alle Daten vom 28. März 2020.)
Die den Vergleichen zu entnehmende Quintessenz: Die rigorose Eindämmung der Pandemie nach dem Vorbild der VR China und Südkoreas sowie deren asiatischer Nachbarn (absolute Quarantäne, Atemschutzpflicht, massive Bereitstellung von Desinfektionsmitteln mit entsprechendem Einsatz in allen Verkehrsmitteln und öffentlichen Gebäuden, freiwillige elektronische Ortung von Infektionsträgern per Handy-GPS u.a.) ist rational geboten, die laschen Verzögerungsmaßnahmen bei uns im Westen sind es hingegen nicht. Oder mit Alexander Unzickers Worten: Die Strategie "Stoppen" ist angezeigt, nicht die Strategie "Verlangsamen". Sein Kommentar:
Die westlichen Regierungen gleichen einer Feuerwehr, die erwägt, ob sie lieber löschen soll und die verbleibenden Funken austreten oder den Brand doch 'kontrolliert' weiterqualmen lässt, bis er in der Ruine von selbst ausgeht. (Anm. 1)
Seiner Logik stehen der Dilettantismus von Regierung und Parlament entgegen – und die nicht ganz grundlose Sorge vieler Bürger, die derzeitige Einschränkung ihrer Grundrechte könne auch noch einer anderen Agenda folgen als nur dem Kampf gegen die Pandemie. (23)
Ignorante Staatsschauspieler
Was sich auf der Reichstagsbühne und hinter deren Kulissen abspielt, trägt zunehmend zur allgemeinen Beunruhigung und Empörung bei. Regierungsstil: Harmonie vortäuschen, ablenken, sich ignorant (oder wenigstens resistent) gegenüber Interessen großer Teile der Bevölkerung zeigen, den wirtschaftlichen Eliten bedingungslos dienen, von Solidarität reden, aber die Schwachen im Stich lassen. Ein paar bezeichnende Beispiele:
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble lobt zu Beginn der Plenarsitzung am 25. März die aufopferungsvolle Arbeit vieler Menschen, die bei uns "das Rad am Laufen halten". Die versammelten Volksvertreter klatschen stehend Beifall, auf Neudeutsch standing ovations. (24) Kaum wieder im Sessel, lehnen dieselben Leute einen Antrag ab, den Beschäftigten in besonders belasteten Arbeitsbereichen einen Sonderzuschlag zu gewähren und die Krankenhäuser vom der ruinösen Profitorientierung abzukoppeln, an das sie in unserem Wirtschaftssystem gekettet wurden.
Den Geboten einer humanitär orientierten Politik der allgemeinen Daseinsvorsorge sehen sich diese Volksvertreter nur dem Schein nach verpflichtet. Auf die Idee, beispielsweise einen gesetzlichen Mindestlohn für fertig ausgebildete Krankenschwestern und -pfleger von 4.000 Euro zu beschließen, Vergleichbares für alle "systemrelevanten Lohnabhängigen" einzuführen, kommen sie nicht. Den Reichen per Gesetz etwas nehmen, um damit das Elend der "Prekären" und Armen generell zu beenden? Nicht denkbar mit dieser Besatzung im Reichstagsgebäude.
Hier eine Kostprobe der "Großzügigkeit" des Finanzministers, entnommen vom Silbertablett "Niemand muss Zukunftsangst haben, es ist für alle gesorgt und genug Geld da": Die von Kündigung bedrohten Arbeitnehmer müssen mit erheblichen Einkommenseinbußen leben und rutschen nach sechs Wochen mit Kurzarbeitergeld unweigerlich in die Arbeitslosigkeit. Die großspurig propagierten Kinderzuschläge machen nur 200 Millionen Euro aus und begünstigen lediglich solche Eltern, die bereits jetzt am untersten Rand der Einkommenstabelle liegen: Nämlich bei monatlichem Einkommen von 900 Euro. (25)
Auf die Hartz IV-Bezieher kommen absehbar ebenfalls noch härtere Zeiten zu, und nicht nur, weil regierungsseitig nichts gegen Preistreiberei und Wucher der Grundversorgungsmittel-Anbieter unternommen wird. Der Antrag, höhere Aufwendungen für diesen Personenkreis vorzusehen, fand jedoch ebenfalls keine Mehrheit im Bundestag. Der Kreis der auf "Stütze" Angewiesenen wird sich zwangsläufig erheblich erweitern. Es kommen nicht nur zahlreiche und bisweilen unvorhergesehene Verlierer ihres Arbeitsplatzes) hinzu, sondern auch viele Selbständige, deren kleine Unternehmen kraft der Regierungsbeschlüsse ruiniert wurden. Gerechnet wird aber nur mit zusätzlichen Hartz-IV-Beziehern in einer "maximalen Größenordnung von 1,2 Millionen zugehenden Bedarfsgemeinschaften". (26)
Die maximalen Mehrausgaben für sechs Monate werden außerdem nur mit 9,6 Milliarden Euro veranschlagt. Mit anderen Worten: Nicht einmal zwei Prozent des staatlichen Krisenhilfepakets von insgesamt 560 Milliarden Euro sind für die mindestens 1,2 Millionen neuen Hartz IV-Abhängigen vorgesehen.
Die Reichen sahnen wieder ab
Hauptnutznießer der staatlichen Hilfe sind – wie immer im kapitalistischen Profitmachersystem – fast ausschließlich Unternehmer und die Vermögenden dieser Gesellschaft. Firmen wie die Handelskette C&A und der Sportartikelhersteller Adidas kassieren jetzt ihre Anteile am Kurzarbeitergelt, ungeachtet ihrer jahrelangen prächtigen Einnahmeüberschüsse, brauchen aber gleichzeitig für ihre Läden keine Mieten mehr zahlen, weil die vorerst von Amts wegen geschlossen sind. (27) "Die Messer sind gewetzt", betitelt Stephan Erdmann seinen ebenso kurzen wie knackigen Kommentar dazu. (28) Die Unternehmen können, was der Kleine Mann nicht kann: Existenzrisiken minimieren – und das an allen Ecken und Kanten und weit jenseits der Grenzen hanseatischer Kaufmannsehre.
Die Begüterten nutzen weidlich aus, dass die Bundesregierung ihre Corona-Gesetze mit heißer Nadel gestrickt und die Abgeordneten das ganze Abenteuer einfach und einstimmig durchgewinkt haben. Das Ganze ist ein schmählicher Akt der parlamentarischen Selbstkastration im Eilverfahren.
Die Aussichten, die gigantischen Staatsausgaben jemals von der Wirtschaft zurückzubekommen, gehen gegen null. War der Einsatz erfolglos, tragen wieder die Steuerzahler insgesamt das Risiko. War er hilfreich, küren sich Politik und Wirtschaft zu Helden – und von Helden verlangt man nun mal kein Geld zurück.
Die Medien? Spenden Beifall in blinder Gefolgschaftstreue, die Tagesschau vorneweg. (29)
Gesammelte Null-Informationen
Hier eine kleine Zusammenstellung von weiteren brisanten und deshalb vom Bildschirm verbannten Informationen:
Ausgerechnet der vormalige Chef des Münchner ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, obwohl ein bekannt erzkonservativer Wirtschaftsfachmann, lehnte die Hilfezahlungen an Unternehmen nachdrücklich ab. Er plädierte vielmehr dafür, Italien als Soforthilfe 20 Milliarden Euro zu schenken. (30) Dem folgte die Regierung nicht – kluge Großzügigkeit gegenüber den europäischen Nachbarn ist einfach nicht der Regierungsstil in Berlin.
Kanzlerin Merkels prägendes Defizit: Unfähigkeit zu europaweiter Solidarität, kleinkarierte Engstirnigkeit, wo strategischer Weitblick nötig wäre. Ihre Weigerung, den Italienern, Spaniern und Franzosen mehr finanziellen Spielraum zur Krisenbewältigung zu gewähren, kann sich als weiterer Sargnagel für die EU erweisen. (31, 32)
Wie Hilfsbereitschaft aussieht, bewies hingegen die Regierung der Volksrepublik China. Sie schickte 100.000 Kisten vom Corona-Virenhemmer Lianhua Qingwen. (33) Dieses Produkt der chinesischen Medizin wurde von dem 84-jährigen Mediziner Zhong Nanshan entwickelt, dem bekanntesten Arzt im Anti-Corona-Kampf in China. Er belegte, dass sein Team bei 400 Patienten dieses Medikament angewandt hat, und das mit einer Erfolgsquote bei 91Prozent. Seitdem ist das Mittel in China ständig vergriffen.
Mit dem bösen Blick darauf, dass Italien und viele andere Länder systematische Unterstützung aus der VR China erhalten, während EU und Bundesregierung Hilfeleistungen verweigerten, haben sich die Hartleibigen in Berlin und Brüssel politisch in Stellung gebracht, berichtet das Magazin German Foreign Policy. (34) Laut Verteidigungsministerium stünden "kontroverse Debatten zum Umgang mit China" bevor. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell diagnostiziert eine "globale Schlacht der Narrative": Beijing führe einen "Kampf um Einfluss" mit einer "Politik der Großzügigkeit"; dem müsse die Union nun entgegentreten. Experten prognostizierten für die Zeit nach dem Ende der Pandemie eine "veränderte Weltordnung" mit den Ländern Ostasiens als "neue globale Gesundheitsmächte".
Die Kurzformel für praktizierte Hilfsbereitschaft lautet: Die Chinesen haben medizinisches Fachpersonal und komplette Krankenhaus-Ausrüstung nach Italien gebracht. Einsatzorte: Rom und Städte weiter nördlich. In Cremona bauten sie ein Zeltkrankenhaus vor dem Spital auf. In Mailand richteten sie ein Lazarett in den Messehallen ein, ebenso in Bergamo. In Crema (Lombardei) sind die Kubaner mit Ärzten und Ausrüstung aktiv, in Brescia die Russen – die kamen mit Frachtflugzeugen und Armeelastwagen voller Ausrüstung.
Derweil zeigt der Westen seine Amoral und Schäbigkeit. Der Senatspräsident von Texas forderte ältere Amerikaner zum Opfertod für die Wirtschaft und den "American Way of Life" auf. (35)
Auf der anderen Seite der Erdkugel meldet der chinesische Bezirk Wuhan von der Corona-Front: "Keine neuen Erkrankungsfälle mehr" und schickt ein bewegendes Video von der Verabschiedung und Abreise der Ärzte und Krankenpfleger, die zur Hilfe in die Infektionszone gekommen waren. (36)
Gevatter Tod die Türe öffnen
Von solchen Szenen und Gegebenheiten sind wir in Deutschland leider gefühlte Lichtjahre entfernt. Hier fährt die Politik "auf Sicht" und ohne Perspektive, was der Epidemiologe Alexander Kerkulé für ein "Riesenproblem" hält. (37) Der frühere Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart zieht aus der innerdeutschen Lage lesenswerte Schlüsse und das Fazit:
Der Staat muss die Ruhe vor dem Sturm nutzen, das deutsche Haus sturmfest zu machen. Die Regierung hat das Mandat, Leben zu retten. Ein Mandat, Gevatter Tod die Tür zu öffnen, hat sie nicht. (38)
Die Corona-Krise macht das deutsche Staatsversagen schlaglichtartig deutlich. Kommentar in der Neuen Züricher Zeitung:
Zu den Kernaufgaben der Regierung gehören die Gesundheitsvorsorge und funktionierende Krisenprogramme – beispielsweise für den Fall einer Pandemie... aber heute wundert sich jeder, warum nicht einmal ausreichend Atemschutzmasken vorhanden sind. (39)
Hierzulande ziehen intellektuelle Kreise es allerdings vor, das Fortschreiten der Pandemie kleinzureden und vor dem Bundeswehreinsatz im Inneren zu warnen, derweil man in Spanien Soldaten dafür benötigt, die COVID-19-Toten wegzukarren, weil die Bestattungsunternehmen nicht mehr nachkommen. (40)
Es scheint allerdings so, als bekämen die Leute allmählich mit, wie wenig die demoskopisch ermittelte Zufriedenheit "mit der Arbeit der Bundesregierung" begründet ist. Vielleicht ist wenigstens die Hoffnung auf einen entsprechenden Erleuchtungsprozess nicht ganz abwegig. Um Glen Ford zu zitieren, den Leitenden Redakteur des linken Internet-Portals (Magazin und Radio) Black Agenda Report:
Die Leute kriegen mit, dass die Oligarchen – ihre Herrscher – die eigentlichen Überträger von Massenunsicherheit, Krankheit und Tod sind. (41)
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Das Autoren-Team:
Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.
Anmerkung der Autoren:
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