Sechster Jahrestag der Maidan-Proteste: Steinmeiers Putsch
von Dagmar Henn
Vor sechs Jahren, in der Nacht auf den 22. Februar 2014, endete der Maidan, die Dauerbelagerung des gleichnamigen Platzes in Kiew, mit einem Putsch. Wochenlang war die Berichterstattung angefüllt mit 'friedlichen Demonstranten', die unbedingt den Assoziierungsvertrag mit der EU unterzeichnet haben wollten. Die Ukrainer, so wurde betont, wollten unbedingt in die EU, wozu dieser Vertrag ein erster Schritt sei; schon an diesem Punkt kann man erkennen, wie viel sich in diesen sechs Jahren geändert hat, inzwischen lautet das Thema vielerorts eher: Wie kommt man aus dieser EU wieder raus?
Man musste ein wenig suchen, um andere Bilder dieser Demonstrationen zu finden, aber nicht so lang, dass es sämtlichen bundesdeutschen Redaktionen unmöglich gewesen wäre. Ich fing erst wenige Tage vor dem Putsch an, danach zu suchen, aber brauchte nicht länger als eine Viertelstunde, um auf Aufnahmen zu stoßen, die so eindeutig wie unschön waren. Der Bericht über einen Fackelzug für den Nazi-Kollaborateur Bandera kam gar noch von Euronews; die Bilder fanatisierter Schulkinder, die begeistert hüpfend Mordparolen rufen, schafften es leider nie in die Tagesschau. Es war dieses zweite Video, das mir wirklich kalte Schauer über den Rücken jagte.
Ich hatte ja nur angefangen zu suchen, weil im Münchner Stadtrat, dem ich damals angehörte, ein Antrag behandelt werden sollte, der beide Seiten gleichermaßen zur Gewaltlosigkeit aufrief (dabei aber in Wirklichkeit vor allem auf die Regierung Janukowitsch zielte).
Irgendwas lag mir dabei schief im Magen, und ich bohrte ein wenig. Neben den eindeutigen Bildern stieß ich auf Dokumente über bundesdeutsche Unterstützung für die damalige ukrainische Opposition; die Konrad-Adenauer-Stiftung beispielsweise förderte die (eindeutig faschistische) Partei Swoboda, eben jene, die den Fackelzug für Bandera veranstaltete, über den Euronews berichtet hatte. Und es war weder mühsam, die Verherrlichung der SS durch Swoboda zu entdecken, noch, den Aufruf zu finden, in dem diese Partei ihre Mitglieder aufforderte, zum Maidan mit Waffen zu kommen.
Steinmeier muss das alles gewusst haben. Als Außenminister stand ihm ja nicht nur das Internet zur Verfügung, auch die Erkenntnisse deutscher Nachrichtendienste. Die sind, gerade was Bandera und seine Anhänger betrifft, durchaus profund; schließlich hatte der BND über Jahrzehnte enge Verbindungen zu diesen Organisationen. Er wird sicher auch die wirklichen Bilder vom Maidan gesehen haben, von Demonstranten, die Armbinden mit Wolfsangeln tragen und die Polizei, die das Parlamentsgebäude bewacht, mit ganz besonderen Molotow-Cocktails bewerfen, aus aufgelöstem Styropor, verheerend wie Napalm. Und dennoch öffnete er dem Faschisten Tjagnibok von Swoboda die Tür zu den Verhandlungen und ließ sich hinterher mit ihm ablichten.
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Bei den Verhandlungen wurden unter anderem vorgezogene Neuwahlen vereinbart, die, so war damals zu vermuten, eine Mehrheit für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens ergeben hätten. Der andere Partner dieses Abkommens, die EU, und die drei garantierenden Außenminister hätten es in der Hand gehabt, die Einhaltung dieser Vereinbarung zu erzwingen; sie hätten sich nur weigern müssen, die Truppe, die sich nach Erstürmung des Parlaments zur Regierung ernannte, anzuerkennen. Dass Steinmeier keinen Ton mehr hören ließ und sein Verhandlungsergebnis schnellstens verdrängte, deutet an, dass die gewaltsame Machtübernahme kein versehentliches Nebenprodukt, sondern das gewünschte Ergebnis des ganzen Manövers war, und der einzige Punkt, zu dem das diplomatische Theater dienen sollte, der Abzug der Polizei von Parlament und Präsidentensitz war.
Ein Jahr später erzählte Putin in einer russischen Dokumentation über die Wiedervereinigung mit der Krim, der Wagenkonvoi des legitimen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch sei am 22. Februar unter Beschuss geraten und sollte auf dem Weg zur Krim in eine tödliche Falle gelockt werden. Janukowitsch hat das später öffentlich bestätigt. Ende 2016 schilderte er in einer Fernanhörung einem ukrainischen Gericht, wie nach seiner Kurzreise zur Krisensitzung seiner Partei ins das ostukrainische Charkow Jagd auf ihn gemacht wurde.
Auch dieses Detail wurde hierzulande nicht aufgegriffen. Warum auch? Schließlich hätten die Putschisten so kurz nach ihrem Griff nach der Macht einen solchen Angriff kaum organisieren können, eine Beteiligung ausländischer Dienste liegt also nahe. Ein Mord an Janukowitsch hätte das Problem beseitigt, dass seine Absetzung und sämtliche danach erfolgten Wahlen gegen die ukrainische Verfassung verstießen, die ein Ende einer Präsidentschaft nur durch reguläre Wahlen, formellen Absetzungsprozess oder Tod vorsieht. Seine Rettung durch russisches Eingreifen hat das Verhalten Steinmeiers wie auch der EU nach dem Putsch jeder Legitimität beraubt, aber zum Glück, wen interessiert die ukrainische Verfassung?
Sechs Jahre nach dem Putsch sind nicht nur die Schüsse auf dem Maidan nach wie vor nicht aufgeklärt; die Übergriffe auf Anti-Maidan-Aktivisten von der Krim bei Korsun zwei Tage vor dem Putsch, die viel zu der folgenden Entwicklung dort beigetragen haben, im Westen immer noch unbekannt. Damals haben Maidan-Nationalisten Straßenblockaden eingerichtet, um die Rückkehr von Bussen mit Anti-Maidan-Aktivisten zu verhindern, die dann bedroht, erniedrigt und geschlagen wurden. Auch die Auftritte in SA-Manier, die sich nach dem Putsch häuften, sind nie in die westliche Berichterstattung durchgedrungen.
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Einzig die BBC öffnete kurz einmal die Augen und zeigte, was sie wirklich vorfand; aber das war ein einmaliger Ausrutscher, der sich nicht wiederholen sollte. Alles, was danach geschah, von Odessa über den Beschuss der Donbass-Städte bis zum beständigen Bruch der Waffenruhe durch Kiew, verschwand im selben schwarzen Loch. Es hat nie stattgefunden. Lieber fuhr man auf Pressetour zu den Nazis von Asow, die im Sommer 2014 gleich in drei bundesdeutschen Presseorganen als ganz lieb und nützlich dargestellt wurden (in der FAZ, in der FR und im Focus), unsere Schweinehunde eben. Die Welle propagandistisch ausgerichteter Berichterstattung ist seit dem Maidan nie mehr abgeebbt, obwohl sie den Ruf der deutschen Presselandschaft nachhaltig beschädigt.
Die unheimlichste Frage im Zusammenhang mit dem damaligen Putsch ist die, warum er überhaupt noch stattfand, nachdem die öffentlich vorgetragenen Ziele der Opposition bereits erreicht waren, und vor allem, warum die Bundesregierung so tat, als wäre dem nicht so gewesen. Weil man angesichts der Abfolge der Ereignisse zu dem Schluss kommen muss, es sei nicht einfach irgendein Machtwechsel gewünscht gewesen, um das Assoziierungsabkommen durchzusetzen, sondern genau dieser, mit genau diesem abscheulichen Personal, das nur für eines zu gebrauchen ist: um einen Krieg mit Russland vom Zaun zu brechen. Denn genau das wäre die Konsequenz gewesen, hätten nicht das Referendum auf der Krim und der Aufstand im Donbass die Pläne durcheinandergebracht...
Könnte es schiere Dummheit gewesen sein? Das ist sicher die angenehmere Vorstellung, denn man möchte nicht gern von Leuten regiert werden, die verblendet genug sind, gezielt auf eine Aggression gegen Russland zuzusteuern. Allerdings hätte ein Irrtum schon längst korrigiert werden können; in sechs Jahren kann man eine Erzählung wenden, wenn man will; das Unfehlbarkeitsdogma gilt nur für Päpste. Stattdessen wird bei jeder Gelegenheit noch einmal nachgelegt. Ich fürchte, Dummheit kann man als Motiv ausschließen.
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Die Folgen der damaligen bösen Absichten tragen seit sechs Jahren die Menschen im Donbass. Sie bezahlen dafür, dass wir immer noch im Frieden leben und uns den Luxus leisten können, selbst bei einer Provokation wie Defender 2020 nicht den Hintern aus dem Sessel zu heben, um sie zu verhindern. Sie bezahlen dafür, dass wir nicht in die Abgründe der deutschen Machtpolitik blicken wollen, die kein bisschen weniger gierig, perfide und aggressiv ist wie die des großen US-amerikanischen Vorbilds; nur eben kleiner. Sie bezahlen mit Häusern und Schulen, mit Kinderleben und Gliedmaßen, während Steinmeier gelassen den Bundespräsidenten geben kann, weil seine Rolle in diesem Spiel längst vergessen ist.
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