US-Kongress: Ausstieg aus INF-Vertrag war verfassungswidrig - Daher kein Geld für neue US-Raketen
Im US-Repräsentantenhaus ist man mit der aktuellen Politik des Landes bezüglich Nuklearwaffen allgemein unzufrieden. Dies zeigt sich im Haushaltsentwurf des Verteidigungsministeriums für das kommende Jahr, der kürzlich im US-Kongress verabschiedet wurde – zunächst nur im Repräsentantenhaus, dem Unterhaus des US-Parlaments.
Verfassungswidriger INF-Austritt
Wichtige Punkte des Dokuments betreffen den Ausstieg Washingtons aus dem INF-Vertrag, der den Unterzeichnerstaaten Russland und USA jegliche Aktivitäten in Bezug auf bodengestützte Raketen und Marschflugkörper mittlerer und kleinerer Reichweite (500 bis 5.500 Kilometer) verbot.
Im betreffenden Abschnitt 1270J wird zuallererst die Verkündung des Austritts der USA aus dem INF-Vertrag durch US-Außenminister Mike Pompeo im Februar 2019 als verfassungswidrig gebrandmarkt. Dies sei ohne Absprache mit dem Kongress erfolgt und missachte daher die Rolle des US-Parlaments als ebenbürtigen Arm der US-Regierung neben dem Präsidenten und dem Minister-Kabinett. Ähnlich seien die Rolle und die Bedenken anderer Mitgliedsstaaten der NATO bei der einseitigen Entscheidung über den Austritt der USA aus dem Vertrag nicht bedacht worden, besagt das Dokument.
Dies schwäche den Zusammenhalt in der Allianz, heißt es. Die USA hätten sich lieber darauf konzentrieren sollen, bestehende Abrüstungsverträge auszubauen und sie vor allem auf andere Staaten wie China auszuweiten.
Internationale Sicherheit gefährdet
Neben innen- und außenpolitischen Bedenken machen sich die Abgeordneten des Unterhauses auch ernsthaft Sorgen bezüglich der globalen Sicherheit. Bei einem endgültigen US-Ausstieg aus dem INF-Vertrag laufe man Gefahr, dass Russland landgestützte Flugkörper mittlerer Reichweite in größerer Zahl in Bereitschaft nehme. Im Haushaltsentwurf wird als Beispiel der Marschflugkörper 9M729 mit 480 Kilometern Reichweite angeführt, der zur Typenreihe des mobilen Systems Iskander gehört. Dieser Waffe wird vom Westen eine deutlich größere Reichweite nachgesagt – womit sie einen Verstoß gegen den INF-Vertrag darstellen würde.
Mehr zum Thema – Militäranalyst: Wahrheit über angebliche russische INF-Abkommensverstöße interessiert USA nicht
Obwohl Russland die Einhaltung des INF-Vertrages speziell im Falle dieses Systems bei mehreren Vorführungen demonstrierte, sowie auch nach Ableben des INF-Vertrags ein einseitiges Moratorium auf die Stationierung von bodengestützten Systemen mittlerer Reichweite verhängte, ist das Argument des Unterhauses nicht ganz von der Hand zu weisen: Auf mittlere Sicht würde eine Wiederaufrüstung der US-Landstreitkräfte mit solchen Systemen in der Tat eine analoge Aufrüstung vonseiten Russlands provozieren – wenn auch sehr wahrscheinlich nicht mit weiteren Flugkörpern der Iskander-Reihe, sondern mit "gelandeten" Versionen seegestützter Flugkörper mittlerer Reichweite. Dass dies weder den USA noch deren Verbündeten besonders gut schmecken dürfte, liegt klar auf der Hand.
Von alldem ausgehend sieht der Haushaltsentwurf des Unterhauses für das Verteidigungsministerium, der noch durch den US-Senat und dem Präsidenten abgesegnet werden muss, ein komplettes Verbot von Systemen vor, die unter den INF-Vertrag fallen würden. Dies betrifft das ganze Spektrum an denkbaren Aktivitäten im Haushaltsjahr 2020: Forschung, Entwicklung, Teststarts, Evaluierung, Beschaffung und Inbereitschaftnahme. Sie sollen im betreffenden Zeitraum so lange von einer Finanzierung aus dem Militärbudget ausgeschlossen sein, bis das US-Verteidigungsministerium, das Außenministerium und der Leiter der Nationalen Nachrichtendienste gemeinsam folgende Punkte erfüllen:
- Einen diplomatischen Entwurf zur Aushandlung eines neuen Abrüstungsvertrages vorlegen, der die strategische Stabilität mindestens in denselben Punkten garantieren würde, wie sie zuvor durch den INF-Vertrag gegeben war.
- Eine Abschätzung der Folgen einer breit angelegten Aufrüstung der russischen Landstreitkräfte mit vom INF-Vertrag regulierten Waffensystemen für die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten vorlegen.
- Technologien und Programme skizzieren, mit denen die USA diese Folgen wieder wettmachen könnten – und die Ausgaben dafür abschätzen.
- Die möglichen Folgen des Zusammenbruchs des INF-Vertrages durch den einseitigen US-Austritt für den Nichtverbreitungsvertrag einerseits und für den Zusammenhalt innerhalb der NATO andererseits abschätzen.
Pompeos Wild-West-Rowdytum
Lässt man sich Obiges auf der Zunge zergehen, so stehen einem sofort die Haare zu Berge. Man braucht keine Ahnung von der Politik oder vom Militärwesen, sondern lediglich ein Fitzelchen gesunden Menschenverstandes, um dennoch einsehen zu können: Diese Punkte hätten vor einem US-Austritt aus dem INF-Vertrag erfüllt sein müssen, und zwar möglicherweise sogar jeweils doppelt und dreifach von unabhängig agierenden gemeinsamen Ausschüssen. Dass dies nicht geschehen ist, zeugt von einem aktuellen Wild-West-Rowdytum in Teilen der höchsten Ebenen der US-Politik, wie man es selbst dort nur selten zu Gesicht bekommt – zumindest im Hinblick auf die nukleare Sicherheit auf dieser unserer Erde.
Wacht das US-Establishment langsam auf?
Dass zumindest die Abgeordneten im Unterhaus des US-Kongresses durchaus gesunden Menschenverstand (sowie Ahnung von internationaler Politik und vom Militärwesen) ihr Eigen nennen, davon zeugen weitere im Entwurf für den Haushaltsplan enthaltenen Punkte. Ein Beispiel ist ein Verbot für die Inbereitschaftnahme des Wasserstoffsprengkopfes W76-2 mit der geringen Sprengkraft von lediglich fünf bis sechs Kilotonnen im Trotyl-Äquivalent für das kommende Haushaltsjahr gemäß Abschnitt 1646 des Entwurfs. Mit diesen Sprengköpfen sollte ursprünglich schon ab dem Jahr 2019 ein Teil der interkontinentalen ballistischen Raketen UGM 133A Trident II (D5) nachgerüstet werden.
Anhand der bereits angeführten Punkte kann man vermuten, dass das Unterhaus im Großen und Ganzen die Ansicht Russlands teilt, wonach die Ausrüstung strategischer Raketen mit "nicht-strategischen" nuklearen Sprengköpfen nicht zu einem Mehr an Abschreckung beiträgt, sondern im Gegenteil, durch ein Absenken der Schwelle eines Einsatzes, die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Auseinandersetzung erhöht. Möglicherweise will man aber auch schlicht Kosten sparen, um Mittel für militärisch dringlichere Dinge ausgeben zu können.
Noch deutlich handfester ist der direkt darauf folgende Abschnitt 1647. Darin wird vom US-Verteidigungsminister verlangt, in Absprache mit dem Außenminister einen Bericht vorzulegen, worin die Notwendigkeit, Vorteile und Kosten einer "Diskussion" im Format "Militär zu Militär" zwischen den USA einerseits und Russland, Iran, China und Nordkorea andererseits abgeschätzt werden sollen. Thema einer solchen Diskussion sollen die Risiken einer nuklearen Auseinandersetzung und eine Minimierung dieser Risiken werden.
Alles in allem scheint dem US-Establishment zu dämmern, welch eine Büchse der Pandora US-Außenminister Mike Pompeo mit dem einseitigen Austritt aus dem INF-Vertrag Anfang des Jahres öffnete. Bleibt nur zu hoffen, dass auch der Senat und US-Präsident Donald Trump die Sorgen des Repräsentantenhauses verstehen, teilen und dementsprechend handeln werden.
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