
Die Neuausrichtung der Weltordnung

Von Thomas Graham
Die Beweise dafür sind überall zu finden: Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine, eskalierende Konflikte im Nahen Osten, wachsende Spannungen in Ostasien um Taiwan und im Südchinesischen Meer, Kriege auf dem afrikanischen Kontinent, das Wiederaufleben gewalttätiger terroristischer Organisationen, immer mächtigere kriminelle Kartelle in Mexiko – diese Aufzählung ist nicht abschließend. Nach der mit dem Ende des Kalten Krieges begonnenen Periode internationaler Kameradschaft und Zusammenarbeit nimmt der Wettbewerb zwischen den Großmächten wieder Fahrt auf und zwingt die USA, mit zwei großen revisionistischen Staaten – China und Russland – zu konkurrieren. Zugleich stören regionale Akteure im Bündnis mit den Großmächten oder auf eigene Faust das Gleichgewicht in einigen Regionen – man denke nur an die Aktivitäten Irans im Nahen Osten oder Nordkoreas in Nordostasien.

Obwohl das politische US-Establishment die Vereinigten Staaten immer noch als Anführer der liberalen Weltordnung verortet, hat es den Niedergang dieser Ordnung inzwischen implizit anerkannt. Bereits im Jahre 2018 wies die Regierung von US-Präsident Donald Trump in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie auf die Wiederaufnahme des Wettbewerbs der Großmächte hin, während die Regierung unter US-Präsident Joe Biden diese Behauptung in ihrer Version der Nationalen Sicherheitsstrategie nur noch bekräftigte. Nach Ansicht dieser US-Regierungen stellen Amerikas Gegner die Grundlagen der liberalen Weltordnung in Frage, einschließlich der ihr zugrunde liegenden demokratischen Werte und der damit verbundenen Macht der USA.
Während die amerikanische Vormachtstellung gegenüber anderen Großmächten abnimmt, gewinnen neue, überwiegend nicht-liberale Zentren des globalen Einflusses – darunter eindeutig China, mit einigen Vorbehalten Indien und möglicherweise Russland – an Autorität und Gewicht. Im Großen und Ganzen schwächt sich die euro-atlantische Gemeinschaft als Kern der liberalen Ordnung allmählich ab und verliert ihre frühere Stärke und Dynamik.
Auch wenn Washington sich dieser Entwicklung mit voller Kraft widersetzt, bewegt sich die Welt doch auf eine nicht-liberale – wenn auch nicht unbedingt anti-liberale – Multipolarität zu.
Was bedeutet eine multipolare Welt für die Position der Vereinigten Staaten auf internationaler Ebene? Wie sollten sie sich verhalten, um ihre nationalen Interessen bestmöglich zu schützen und zu fördern? Wie gut sind die USA darauf vorbereitet, mit den Rhythmen der Multipolarität umzugehen? Gibt es etwas in der US-amerikanischen außenpolitischen Tradition, das in dieser Zeit des Wandels Orientierung bieten könnte? Und, was vielleicht am wichtigsten ist: Können die USA im Alleingang oder in Zusammenarbeit mit anderen Großmächten eine Ordnung im Rahmen der Multipolarität schaffen, die mit ihren Werten und Interessen vereinbar ist?
Die Vermeidung von Multipolarität als große US-amerikanische Tradition
Obwohl die USA schon früher mit einer multipolaren Welt konfrontiert waren, nahmen sie nur selten aktiv als Machtpol daran teil. Zwar nutzten sie seit der Erlangung ihrer Unabhängigkeit bis ins späte 19. Jahrhundert die Rivalitäten zwischen den europäischen Mächten, um ihre Interessen durchzusetzen. Den Empfehlungen George Washingtons und Thomas Jeffersons folgend, versuchten die Amerikaner jedoch, eine Einmischung in europäische Angelegenheiten auf jede erdenkliche Weise zu vermeiden und Neutralität zu wahren: Sie weigerten sich also, an dem multipolaren Wettbewerb teilzunehmen. Die Vereinigten Staaten waren sogar bereit, zur Verteidigung ihrer Neutralität zu den Waffen zu greifen – man erinnere sich nur an den Krieg mit Großbritannien im Jahr 1812.
Im Vorfeld des 20. Jahrhunderts – als sich die geopolitischen Ambitionen der USA ausweiteten und den Ozean überquerten – sah sich das Land mit einer Herausforderung konfrontiert: Auf der Suche nach einem Kräftegleichgewicht mussten die Vereinigten Staaten einen Weg zum Umgang mit einer multipolaren Welt finden, der mit ihrem festen Glauben an ihre eigene Ausnahmestellung als einzigartige moralische Kraft in der Weltpolitik vereinbar wäre. Die Amerikaner lehnten die von Theodore Roosevelt propagierte "Realpolitik" bzw. den politischen Pragmatismus – also eine zynische Gewaltpolitik in Ostasien und in geringerem Maße auch in Europa – als Bedrohung der demokratischen Grundlagen und des Selbstvertrauens ab. Sie missbilligten die Bestrebungen von US-Präsident Woodrow Wilson am Ende des Ersten Weltkriegs, über die Politik des Kräftegleichgewichts hinauszugehen und ein Weltsystem zu schaffen, das auf Recht und kollektivem Handeln gegen aggressive Staaten beruht. Wilson formulierte ein moralisches Ziel, um die ständige Beteiligung der USA an der Politik der ganzen Welt zu rechtfertigen. Es gelang ihm jedoch nicht, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass ihr Land in einem von mehreren Großmächten geprägten Umfeld, das die USA nicht dominierten, unangetastet bleiben würde. Die Bürger lehnten daher Wilsons Ansatz zugunsten der traditionellen Neutralität und der Nichtbeteiligung an den Weltproblemen ab.
Gescheitert war auch der Versuch von US-Präsident Franklin Roosevelt, über die von US-Präsident Wilson entwickelten Prinzipien hinauszugehen, als die Große Allianz des Zweiten Weltkriegs aufgrund interner Widersprüche zerbrach. Der Krieg erschütterte aber auch die multipolare Ordnung, führte zur Bipolarität und ermöglichte den USA eine ständige Einmischung in fremde Angelegenheiten. Die militärische Niederlage Deutschlands und Japans und die Schwächung Großbritanniens und Frankreichs machten die USA und die Sowjetunion zu den einzigen Großmächten mit globalem Einfluss. Angesichts der Tatsache, dass die Sowjetunion ein totalitärer kommunistischer Staat war, der die liberale Demokratie Amerikas völlig ablehnte und gleichzeitig eine ernsthafte Bedrohung für sie darstellte, gelang es US-Präsident Harry Truman und seinen Nachfolgern, ihre Mitbürger von der Wichtigkeit eines kontinuierlichen Engagements in der Weltpolitik als Anführer der "Freien Welt" gegen den Sowjetblock zu überzeugen.
Die moralischen Ziele und die Führungsrolle der USA im Kampf gegen das sowjetische Übel brachten die Idee des US-Exzeptionalismus mit einem ständigen Engagement in auswärtigen Angelegenheiten in Einklang.
Im Gegensatz zur Multipolarität bot die Bipolarität während des Kalten Krieges die Grundlage für ein kontinuierliches Engagement der Vereinigten Staaten in den internationalen Beziehungen.
Sie sicherte die Beteiligung Washingtons an der Weltpolitik, bis der Kalte Krieg mit dem Triumph der USA sein Ende fand und zur Entstehung einer unipolaren Welt führte. Dadurch konnten die USA weiterhin ihr hohes moralisches Ziel in Verbindung mit ihrer Rolle als globale Führungsmacht zu dem Zwecke einsetzen, die Vorteile der liberalen Demokratie in der ganzen Welt zu verbreiten und die Grundlagen einer liberalen regelbasierten Ordnung zu stärken, die die amerikanische Vormachtstellung auch in Zukunft aufrechterhalten sollte.
Wie man mit der multipolaren Welt nicht umgehen sollte: Rückschrittler und Restauratoren
Die heutige unipolare Welt wurde Opfer der globalen Finanzkrise von 2008–2009 und der erfolgslosen US-Interventionen im Irak und in Afghanistan. Dies führte dazu, dass viele am amerikanischen Kapitalismus und an der Macht der Vereinigten Staaten zweifeln. Es entstehen neue Machtzentren. Heute steht Washington vor der Frage: Wie soll es auf die entstehende Multipolarität reagieren? Die Debatte wird von zwei Denkschulen beherrscht, deren Vertreter als "Rückschrittler" und "Restauratoren" bezeichnet werden können.
Beide Denkschulen orientieren sich an der Vergangenheit und beziehen sich auf unterschiedliche Elemente der US-amerikanischen außenpolitischen Tradition. Die Rückschrittler wollen das Engagement der USA gegenüber der Außenwelt einschränken und zur Außenpolitik aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurückkehren. Die Restauratoren hingegen streben eine bipolare Struktur als Grundlage für das Engagement mit der Außenwelt an und wenden sich einem politischen Ansatz aus der Nachkriegszeit zu.
Keine dieser beiden Denkschulen kann die Vereinigten Staaten indes auf eine aktive Teilnahme an einer wirklich multipolaren Welt vorbereiten.
Aus diesem Grund sind sie nicht geeignet, um die Ziele der USA zu erreichen. Den Rückschrittlern ist insofern zuzustimmen, als die USA aufgrund ihrer geopolitischen Lage und ihres Machtpotenzials im Prinzip ein sicheres Land sind. Aber – im Gegensatz zu ihrer Auffassung – können es sich die USA nicht leisten, sich aus der Geopolitik zurückzuziehen und sich nur dann zu engagieren, wenn sich die regionalen Gleichgewichte in Schlüsselregionen wie Europa, dem Nahen Osten und Ostasien in einer mit amerikanischen Interessen unvereinbaren Weise zu verändern drohen.
In der heutigen miteinander verflochtenen Welt, in der die Großmächte miteinander in Konkurrenz stehen, ist es unerlässlich, das Kräftegleichgewicht in verschiedenen Regionen ständig im Auge zu behalten. Dabei müssen die Amerikaner nicht überall präsent sein; sie können und sollten Prioritäten setzen. Dennoch müssen sie an vielen Orten im Ausland aktiv vertreten sein, insbesondere an der Peripherie des riesigen eurasischen Superkontinents: in Europa, im Nahen Osten, in Südostasien, in Nordostasien und in der Arktis.
Die Restauratoren hingegen sind der festen Überzeugung, dass eine aktive US-Präsenz im Ausland unerlässlich ist. Sie fordern jedoch, dass sich die USA an der Förderung und Verteidigung liberal-demokratischer Werte in der ganzen Welt beteiligen, und nicht nur in Regionen, die für Amerikas Sicherheit lebenswichtig sind. In dieser Hinsicht versuchen sie, die entstehende Multipolarität auf eine bipolare Ordnung zu reduzieren – also auf einen Kampf zwischen der von den USA geförderten Freiheit und der von China unterstützten Autokratie, oder, einfacher ausgedrückt, zwischen Demokratie und Autoritarismus. Die derzeitigen Versuche vieler Restauratoren, eine "Widerstandsachse" gegen China, Russland, Iran und Nordkorea zu bilden, sind ein deutlicher Ausdruck dieser Tendenz – wobei sie allerdings die Reibungen zwischen diesen Ländern und die eindeutige Präferenz jedes dieser Länder, mit den anderen bilateral und nicht als Teil einer breiteren Koalition umzugehen, übersehen. Doch der Rest der Welt – vor allem die Verbündeten der USA in Europa und Ostasien – lehnt das bipolare Konzept ab. Und im Gegensatz zu der Situation während des Kalten Krieges haben viele dieser Länder die Kraft und die Ressourcen, dem amerikanischen Druck zu widerstehen, sich für eine der beiden Parteien zu entscheiden zu müssen. Kurz gesagt: Trotz der Vorstellungen der Restauratoren setzt sich der Rest der Welt hartnäckig für die Multipolarität ein.
Die Entwicklung einer multipolaren Weltordnung
Anstatt zu versuchen, den Herausforderungen der Multipolarität auszuweichen oder eine bipolare Welt zu schaffen, sollte Washington die Tatsache einer sich entwickelnden multipolaren Ordnung akzeptieren und versuchen, sie in Übereinstimmung mit den amerikanischen Interessen zu gestalten. Die amerikanische Führungsrolle wird sich nicht dadurch manifestieren, dass sie der Welt eine Ordnung aufzwingt, sondern durch den sorgfältigen und durchdachten Aufbau regionaler Machtgleichgewichte, die zusammen ein globales Gleichgewicht schaffen, das die Interessen und Werte der USA in der ganzen Welt schützt und fördert.
Um dieses Gleichgewicht in den verschiedenen Regionen zu erreichen, brauchen die USA konstruktive Beziehungen zu allen Großmächten sowie zu den wichtigsten Regionalstaaten.
Das Gleichgewicht muss flexibel sein und auf Veränderungen der relativen Machtverhältnisse und das Entstehen neuer Herausforderungen reagieren. Zu vermeiden ist eine verhärtete oder kompetitive Großmachtrivalität in Form starrer konkurrierender Blöcke. In dieser Hinsicht können die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg als lehrreiches Beispiel dienen.
Eine noch dringendere Aufgabe ist jedoch die Stärkung der Grundlagen einer multipolaren Ordnungsstruktur. Heute gibt es neben den Vereinigten Staaten vier potenzielle Großmächte: China, Indien, Russland und Europa. Jede von ihnen stellt eine Herausforderung für die USA dar. Für Washington besteht die Aufgabe darin, für jedes dieser Machtzentren mit ihren einzigartigen Merkmalen geeignete Ansätze zu entwickeln, die sich zu einem gemeinsamen weltpolitischen Konzept zusammenfügen. Kurz gesagt: Es wird notwendig sein, China als Großmacht einzudämmen, Indien zu fördern und in eine solche Macht zu verwandeln, Russland als einheitliches Gebilde zu erhalten und Europa in ein solches Gebilde zu transformieren.
China
Der Nationalen Sicherheitsstrategie der Regierung unter US-Präsident Biden zufolge handelt es sich bei China um das einzige Land, "das sowohl die Absicht hat, die Weltordnung umzugestalten, als auch in zunehmendem Maße über die wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht verfügt, um dieses Ziel zu erreichen." Präsident Xi Jinping propagiert den "chinesischen Traum", wonach sein Land bis 2049 – also bis zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China – die dominierende Weltmacht werden solle.
Um ihren technologischen Vorsprung und ihre Vormachtstellung aufrechtzuerhalten, müssen die USA Chinas geopolitische Ambitionen eindämmen und alle Aspekte ihrer eigenen Nationalmacht stärken, und zwar zunächst im Technologiesektor. Darüber hinaus müssen sie die Komplexität der wirtschaftlichen Verflechtung in den Griff bekommen, um ihre Lieferketten – vor allem in Zeiten angespannter Beziehungen zu Peking – zu schützen und sicherzustellen, dass China keinen ungehinderten Zugang zu fortschrittlichen US-Technologien erhält.
In dieser Hinsicht stellt eine innenpolitische Renaissance ein Schlüsselelement jeder Politik gegenüber China dar. Die Vereinigten Staaten müssen ihre wachsende Staatsverschuldung in den Griff bekommen, die stagnierenden Bildungs- und Gesundheitsstandards anheben, ihr Innovationsökosystem stärken und die politische Polarisierung überwinden, um sich zu festigen und auf einen harten Wettbewerb mit China vorzubereiten.
Indien
Indiens Potenziale bleiben schon lange hinter seinen Ambitionen zurück. Der indische Premierminister Narendra Modi ist entschlossen, diesen Status quo zu ändern. Damit beschreitet er den Weg für sein Land, um auf der Weltbühne eine größere Rolle spielen zu können, und fängt dabei mit der Indischen Ozeanregion an.
Dabei sollte die kontinuierliche amerikanische Unterstützung dem Premierminister Modi und Indien die Stärkung seiner Position als Global Player erleichtern. Als besonders sensibler Bereich erweist sich in diesem Zusammenhang die Rüstungsindustrie. Die Vereinigten Staaten sind zu Recht bestrebt, Indiens Abhängigkeit von russischen Rüstungsgütern zu verringern. Dieses Ziel sollte sich jedoch nicht darauf beschränken, die russischen Waffen im Laufe der Zeit durch westliche – vor allem amerikanische – Waffen zu ersetzen. Vielmehr sollten die USA Neu-Delhi dabei helfen, seine eigene Verteidigungsindustrie zu entwickeln, auszubauen und zu modernisieren. Dies ist notwendig, um Indiens Großmachtambitionen langfristig aufrechtzuerhalten: Keine Großmacht darf sich in Bezug auf ihre militärische Stärke auf andere Länder verlassen.
Russland
Ohne Zweifel strebt Russland danach, eine Großmacht zu sein. Die Großmachtstellung und die Forderung, von anderen Großmächten als solche respektiert zu werden, ist ein Kernelement der nationalen Identität Russlands. Heute steht Russland vor der Herausforderung, seine strategische Autonomie aufrechtzuerhalten, insbesondere angesichts der zunehmenden Annäherung an China als Folge der westlichen Sanktionen und Russlands eigener Ablehnung des Westens. Trotz allen Geredes über eine gleichberechtigte Partnerschaft mit China ist das Verhältnis der beiden Länder zutiefst asymmetrisch zugunsten Chinas. Die chinesische Wirtschaft ist sechs- bis zehnmal größer als die russische, je nachdem, wie man das BIP berechnet, und diese Kluft vergrößert sich immer mehr zugunsten Chinas. Die Volksrepublik ist gegenüber Russland technologisch führend, auch wenn Russland nach wie vor über einige militärische Technologien verfügt, die den chinesischen überlegen sind.
Die russische Staatsführung ist sich darüber im Klaren, dass sie in Zukunft einige Maßnahmen zur Aufrechterhaltung ihrer Autonomie und Unabhängigkeit ergreifen muss, um nicht unter den noch stärkeren Einfluss Chinas zu geraten. Eine dieser Maßnahmen besteht in dem Versuch, eine Koalition aus eurasischen Staaten und dem Globalen Süden aufzubauen. Auf diese Weise versucht Moskau, Chinas Einfluss durch multilaterale Organisationen wie BRICS+ und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit einzudämmen. Die bittere Wahrheit besteht jedoch darin, dass man das angestrebte Gegengewicht nur im Westen – insbesondere in den USA – finden kann.
So kann Washington Russland dabei helfen, seine strategische Autonomie zu bewahren und eine Partnerschaft mit den USA im Interesse Amerikas zu entwickeln. Dabei muss jedoch mit Bedacht vorgegangen werden. Die USA sind nicht in der Lage, die derzeitige strategische Allianz zwischen China und Russland zu untergraben, da diese beiden Länder starke strategische Beweggründe für enge Beziehungen zueinander haben. Allerdings ist Washington imstande, die russisch-chinesischen Beziehungen zu schwächen – vor allem, indem es Moskau Alternativen zu China bietet, die dem Land derzeit fehlen. Die Wiederherstellung normaler diplomatischer Beziehungen könnte eine Option sein, um Russlands Potenzial zu erweitern. Durch die Lockerung von Sanktionsmaßnahmen könnte die Zusammenarbeit russischer und westlicher Unternehmen in Regionen wie Zentralasien und der Arktis gefördert werden, um dem wachsenden chinesischen Einfluss in diesen Regionen entgegenzuwirken. Eine andere Option wäre die vorsichtige Wiederherstellung der Energiebeziehungen zwischen Russland und der EU, allerdings so, dass Europa eine übermäßige Abhängigkeit von russischen Energielieferungen vermeiden könnte. Das Ziel besteht jedoch nicht in einer Entfremdung zwischen Moskau und Peking, sondern darin, dafür zu sorgen, dass die diplomatischen und handelspolitischen Beziehungen zwischen Russland und China nicht so stark zugunsten Chinas tendieren, wie dies gegenwärtig der Fall ist.
Europa
Für die USA wird Europa die größte Herausforderung darstellen. Es verfügt über alle wirtschaftlichen und technologischen Ressourcen, um eine Großmacht zu werden, aber es fehlt ihm an politischem Willen und Zusammenhalt. Nach dem Kalten Krieg haben die europäischen Länder ihre Verteidigungskapazitäten vernachlässigt: Zwar konnten sie die "Dividenden" der Friedenzeiten genießen, um ihren sozialen und wirtschaftlichen Wohlstand auszubauen und zu vertiefen, doch in Sachen Sicherheit haben sie sich ganz auf Amerika verlassen. Selbst angesichts der aktuellen russischen Bedrohung sind die führenden europäischen Länder nicht bereit, die Verteidigungsausgaben auf das erforderliche Niveau zu erhöhen. Es besteht keine Bereitschaft der europäischen Bevölkerung, ihren Wohlstand für die Steigerung der Verteidigungskapazitäten zu opfern. Darüber hinaus zeigen sich die europäischen Länder unwillig, sich gegenseitig ihre Sicherheit anzuvertrauen: Polen und die baltischen Staaten zum Beispiel werden sich eher an die USA wenden, um Sicherheitsgarantien zu erhalten, als an die großen europäischen Länder oder Europa als Ganzes.
Für diese Situation sind die USA mitverantwortlich. Denn seit der NATO-Gründung 1949 bietet sie den europäischen Staaten ein Höchstmaß an Sicherheitsgarantien. Auch die USA demonstrierten ihre Entschlossenheit, eine führende Rolle in diesem Bündnis zu spielen. Jetzt fordern die USA zwar, dass Europa seinen Anteil an den Sicherheitsausgaben erhöht, und sprechen gelegentlich von einem europäischen NATO-Rückgrat, doch die Position Washingtons bleibt widersprüchlich. Darüber hinaus nutzen die USA Meinungsverschiedenheiten zwischen ihren Verbündeten aus, um ihre beherrschende Stellung in dem Bündnis aufrechtzuerhalten.
Damit Europa die mit einer Großmachtstellung verbundene Verantwortung übernimmt, müssen die US-Politiker ihre Mentalität ändern. Sie werden mit ihren Verbündeten zusammenarbeiten müssen, um einen handlungsfähigen europäischen Pfeiler aufzubauen, der über die nötige Schlagkraft verfügt, um die meisten Sicherheitsrisiken auf dem Kontinent zu bewältigen. Dies setzt die Kooperation zwischen den USA und ihren Verbündeten voraus, um einen effektiven europäischen Verteidigungsindustriekomplex aufzubauen, ein gemeinsames Verständnis für die sicherheitspolitischen Herausforderungen auf dem Kontinent zu entwickeln und eine schlagkräftige Militärmacht zu formieren, die Europa in einer Vielzahl von unvorhergesehenen Situationen einsetzen könnte.
Neufindung der amerikanischen Führungsrolle
Um in einer multipolaren Weltordnung erfolgreich zu sein, wird Washington sein Verhalten überdenken müssen. Zunächst einmal wird es akzeptieren müssen, dass Großmächte per definitionem strategische Autonomie besitzen. Selbst diejenigen, die die Werte der USA teilen – wie Europa und in gewissem Maße auch Indien – werden bisweilen Interessen verfolgen, die den amerikanischen zuwiderlaufen. Washington wird auch akzeptieren müssen, dass seine eigene Macht ihre Grenzen hat; andere Großmächte können – ob einzeln oder gemeinsam – die amerikanische Macht eindämmen. Das bedeutet aber nicht unbedingt etwas Schlechtes: Wenn Europa mächtiger gewesen wäre und den USA hätte die Stirn bieten können, hätte es Washington davon abhalten können, den strategischen Fehler der Irak-Invasion im Jahr 2003 zu begehen. Aufgrund dieser tatsächlichen Zwänge müssen sich die USA stärker als bisher auf eine begrenzte Anzahl von Prioritäten konzentrieren, um ihre lebenswichtigen Interessen zu schützen und voranzubringen.
Gleichzeitig wird Amerika gezwungen sein, die Existenz einer Wertevielfalt in der modernen Welt anzuerkennen, zumal diese die innenpolitische Struktur der anderen Großmächte prägen. Es kann in einer multipolaren Welt aber kein Gleichgewicht erreicht werden, wenn die USA weiterhin die Legitimität der autoritären Führer einer anderen Großmacht in Frage zu stellen versuchen.
Durch den Wertekonflikt wird die Flexibilität eingeschränkt, die erforderlich ist, um das Gleichgewicht an veränderte Bedingungen anzupassen; der Wettbewerb um geopolitische und wirtschaftliche Vorteile kann hingegen auf pragmatischere Weise geführt werden.
Damit ist nicht gemeint, dass Washington nicht mehr seine Werte propagieren sollte oder dass die Grundsätze einer regelbasierten Ordnung in einer multipolaren Welt keinen Platz mehr haben werden. Aber man sollte es vorziehen, die amerikanischen Werte durch eigenes Verhalten und nicht durch Missionierung oder Proselytenmacherei zu fördern. Eine regelbasierte Ordnung wird nur für diejenigen Länder und Regionen gelten, die bereit sind, sie zu akzeptieren.
Schließlich müssen die USA ihre Führungsrolle anders als in der Vergangenheit wahrnehmen. In der sich entwickelnden multipolaren Weltordnung sind die USA gegenüber anderen Großmächten nicht mehr so überlegen, dass sie ihnen ihren Willen aufzwingen können: Sollten die weniger bedeutenden Mächte mit etwas nicht einverstanden sein, stehen ihnen nun Alternativen zur Verfügung. Die Führungsrolle wird eher darin bestehen, unterschiedliche und oft konkurrierende Interessen unter einem System zusammenzubringen, das die amerikanischen Interessen begünstigt: Es geht also darum, die Multipolarität geschickter und selbstbewusster zu manipulieren als andere Großmächte. So könnten die USA beispielsweise eine Führungsrolle bei der Koalitionsbildung übernehmen – unter Einbeziehung zumindest einiger anderer Großmächte –, um drängende globale Herausforderungen wie Klimawandel, Pandemien, grenzüberschreitende Kriminalität, internationalen Terrorismus und viele andere anzugehen.
Entgegen der in den USA weit verbreiteten Meinung müssen effektive Aktivitäten in einer multipolaren Welt nicht unbedingt eine zynische Manipulation anderer Länder und geschickte diplomatische Manöver beinhalten. Vielmehr sollte man eine moralische Führungsrolle übernehmen, insbesondere als Großmacht, die auf der Weltbühne die Rolle des Ersten unter Gleichen einnimmt. Dies ist die Rolle, die Amerika anstreben sollte: Nur so kann es seine Ausnahmestellung bewahren und sie mit der Notwendigkeit einer ständigen Interaktion mit der Außenwelt in Einklang bringen. Dies ist erforderlich, um nationale Interessen in einer miteinander vernetzten multipolaren Welt zu schützen, die keine Dominanz zulässt.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel wurde zuerst auf der Homepage von "Russia in Global Affairs" veröffentlicht.
Thomas Graham ist Verdienter Wissenschaftler des Rates für auswärtige Beziehungen (USA).
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