"Die Polizei hat nichts getan" - Eltern fassungslos nach Schulschießerei in Texas
Stellen Sie sich vor, Sie schicken Ihr Kind morgens zur Schule, doch zurück kommt nur sein Leichnam. Dies scheint Alltag zu sein – nicht nur in gesetzlosen Kriegsgebieten, sondern auch zunehmend in den USA. Bereits zum 27. Mal in diesem Jahr konnte so ein Blutbad, ausgelöst mit Schusswaffen, stattfinden. Über das Massaker an der Grundschule in Uvalde, einer kleinen, überwiegend von Latinos bewohnten Stadt in Südtexas, ist noch vieles unbekannt. Die Polizei hat noch kein mögliches Motiv für den Angriff von Mittwoch bekannt gegeben, bei dem der 18-jährige Täter Berichten zufolge in Schutzkleidung und mit zwei Gewehren im Militärstil von Klassenzimmer zu Klassenzimmer ging. Fest steht, dass es für mindestens 19 der Grundschulkinder der letzte Schultag war, weil es der letzte Tag in ihrem Leben war, ebenso wie für zwei Lehrkräfte.
Zu der Fasssungslosigkeit über die Tat kommt das Unverständnis hinzu, dass in Uvalde die während der Schießerei anwesenden Polizisten nur teilweise den bedrohten Schülern, teilweise gar nicht oder nur ihren eigenen Kindern zuhilfe gekommen sein sollen. Der Täter konnte somit trotz Anwesenheit von Sicherheitskräften eine Stunde lang in einem Klassenzimmer wüten. Draußen bangten Eltern nicht nur um das Leben ihrer Kinder, sondern wurden gar von der mit Gewehren und Teasern bewaffneten Polizei gewaltsam eingeschüchtert, als sie flehten, dass die Polizei etwas unternehmen solle.
Ein Schüler erlag Berichten zufolge seinen Verletzungen im Krankenhaus – was durch ein früheres Eingreifen hätte verhindert werden können. Beamte des texanischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit (Department of Public Safety, DPS) verstrickten sich derweil in Widersprüche. Zunächst erklärten sie, der 18-jährige Waffenträger sei auf dem Weg in das Gebäude von einem Polizeibeamten des Schulbezirks "angegriffen" worden. Diese Darstellung wurde inzwischen geändert. Victor Escalon, der Regionaldirektor des DPS, stellte am Donnerstag klar, dass der Bewaffnete auf seinem Weg ins Gebäude "von niemandem konfrontiert wurde".
Sobald er das Gebäude betreten hatte, verbarrikadierte sich der Täter demnach in einem Klassenzimmer und begann auf die Kinder und Lehrer zu schießen. Obwohl die Polizei innerhalb weniger Minuten am Tatort eintraf, bestätigte auch Escalon bei einer Pressekonferenz, dass die Beamten eine Stunde lang nicht in der Lage waren, in das Klassenzimmer einzudringen und die Bedrohung zu neutralisieren.
Auf die Frage, warum die Polizei nicht direkt versucht habe, in den Klassenraum einzudringen, sagte Escalon, es hätte den Polizisten an Spezialausrüstung gefehlt. Die Tür sei "verbarrikadiert" gewesen. Die Polizei hatte dann Verstärkung angefordert und Schulkinder und Lehrkräfte in Sicherheit gebracht. Außerdem hätte sie versucht, mit dem Schützen zu verhandeln. Bei einer Pressekonferenz am Donnerstag gerieten die Behörden unter Rechtfertigungsdruck. "Warum klären Sie das nicht auf und erklären uns, wie es sein kann, dass Ihre Beamten eine Stunde lang drin waren (...), aber niemand in der Lage war, in diesen Raum zu gelangen?", fragte ein Journalist. Mehrere Eltern aus Uvalde werfen der Polizei vor, zu zögerlich gehandelt zu haben.
"Die Polizei hat nichts getan", äußerte sich Angeli Rose Gomez, die zwei Kinder in der Robb-Grundschule hat, im Wall Street Journal anklagend. "Sie standen einfach vor dem Zaun. Sie sind nicht hineingegangen oder irgendwo hingelaufen."
Gomez sagte, in den 40 Minuten, die sie brauchte, um von der Schießerei zu erfahren und zur Schule zu fahren, hätten die Beamten das Schulgebäude nicht betreten. Als sie ihre Bedenken gegenüber den Polizisten äußerte, wurde sie in Handschellen abgeführt und mit der Begründung verhaftet, dass sie sich in eine laufende Untersuchung eingemischt hätte. Nachdem sie durch die Überzeugungskraft lokaler Beamter frei gelassen wurde, sprang Gomez nach eigenen Angaben über den Zaun der Schule und rettete ihre beiden Kinder.
*BREAKING* Robb Elementary School shooting. Uvalde Texas. This video shows the chaos outside of the school where parents were trying to find their children.#Uvalde#RobbElementary#SchoolShootingpic.twitter.com/yx97i6Bh9w
— TheFamily'sSoup TV (@FamilysSoupTV) May 25, 2022
Auf Videos in den sozialen Medien waren weitere Eltern wie Gomez zu sehen, die die Beamten anflehten, die Schule zu betreten und ihre Kinder zu retten, dabei aber von den Polizisten bedroht wurden.
Wie das Wall Street Journal berichtete, baten die drei Grenzschutzbeamten, als sie schließlich die Schule betraten, den Schuldirektor einfach um einen Generalschlüssel und schlossen die Zimmertür auf. Einem Ordnungshüter wurde sein Schild zerschossen, ein anderer wurde durch ein Schrapnell verwundet, und der dritte tötete den Verdächtigen, war in der Zeitung zu lesen.
Nur drei Tage nach dem Schulmassaker in Uvalde begann im gleichen US-Bundesstaat in der Stadt Houston am Freitag das Jahrestreffen der US-Waffenlobby National Rifle Association (NRA). Die NRA – eine der mächtigsten Lobbygruppen der USA – unternimmt seit Jahren allerhand gegen die immer wieder geforderte Verschärfungen des Waffenrechts. Die Zahl der Mitglieder geht in die Millionen. Die NRA pumpt große Summen in Wahlkämpfe und benotet etwa Abgeordnete mit Blick auf deren Haltung zu Waffen-Themen – quasi als Handreichung an ihre Mitglieder, wen diese wählen sollten und wen nicht. So hat die NRA schon politische Karrieren beendet.
Laut der Organisation OpenSecrets.org, die der Frage nachgeht, wer welche Geldzuwendungen in der Politik bekommt, sind texanische Politiker Spitzenreiter bei der Annahme von Geldern der Waffenlobby. Senatoren und Abgeordnete, die Texas vertreten – zumeist durch Überhangmandate als durch die wirkliche Wahl von Bürgern – haben im Laufe ihrer Karriere mehr als 14 Millionen US-Dollar an Beiträgen von Waffenlobbyisten erhalten, einen Großteil von der National Rifle Association.
Beim Jahrestreffen der NRA, nur wenige Stunden vom Tatort der Grundschule entfernt, treten deshalb auch texanische Politiker als Hauptredner auf, bei denen die NRA besonders spendabel war, darunter der republikanische Senator aus Texas, Ted Cruz und der Generalstaatsanwalt Ken Paxton. Geladen war auch der Gouverneur Greg Abbott, der allerdings angesichts der nunmehr veränderten Stimmung in dem Bundesstaat abgesagt haben soll. Seine Haltung hatte Abbott bereits kurz nach dem Schulmassaker kundgetan: strengere Gesetze seien nicht die Lösung, um Taten wie in Uvalde zu verhindern.
Dass auch Ted Cruz nicht die Waffenpolitik als Wurzel des Problems sieht, könnte damit zusammenhängen, dass er in seiner politischen Karriere immense Summen, laut OpenSecrets etwa 749.000 US-Dollar, von Waffenlobbyisten erhalten hat und weitere Summen aus der gleichen Ecke in externe Ausgaben flossen, um den Kandidaten Cruz zu unterstützen. Vor diesem Hintergrund lässt sich womöglich erklären, warum US-Politiker wie Ted Cruz auf Fragen von Journalisten bezüglich der Waffenpolitik, die damit auch die Sorgen vieler Eltern nicht nur in Texas transportieren, ausweichend, aggressiv und mit Diffamierungen reagieren. Gemäß dem Republikaner war auch dieser Täter eben ein Psychopath – eine Lösung für das Problem der Waffengewalt bietet er nicht an.
Selbst wenn der Täter an der Grundschule 21 Leben auslöschte, einfach, weil er ein Psychopath war, wie Cruz behauptet, so konnte er sich ohne Weiteres schwere Waffen besorgen und damit in einer Schule, trotz eines bewaffneten Sicherheitsdienstes, zahlreiche unbewaffnete, unschuldige Menschen terrorisieren, verletzen und töten. Der Schütze von Uvalde in Texas durfte im "Land der unbegrenzten Freiheit" mit 18 Jahren noch keinen Schnaps kaufen, konnte aber kurz in ein Waffengeschäft gehen und zwei Sturmgewehre erstehen.
Während in vielen Ländern ein aufwändiges Prozedere nötig ist, um an eine Waffe zu kommen – Trainings, Lizenzen und Unmengen an Papierkram – ist es in vielen Bundesstaaten der USA sehr leicht, sich eine Waffe zu beschaffen. Vielerorts reicht es aus, direkt im Geschäft ein Formular auszufüllen. Dann werden bei einem "Sofort-Check" kurz ein paar Daten mit den Behörden zu einem möglichen kriminellen Hintergrund abgeglichen. "Leave no one behind" hat hier eine ganz andere Bedeutung: Die Quote derjenigen, die es nicht schaffen, sich eine Waffe zuzulegen, liegt bei 0,5 Prozent. Auf den Waffenmessen, die quer durch das Land jedes Wochenende stattfinden, geht das Waffen-Shopping sogar noch leichter.
Uvalde ist alles andere als ein Einzelfall. Der Vergleich mit zahlreichen Ländern zeigt, dass die Politik dies hätte verhindern können. Denn es ist ein trauriges Alleinstellungsmerkmal der USA, dass die Schusswaffenpolitik derart lax ist und es zu den "Grundrechten" der Einwohner zählt, sich mit für militärische Konflikte entwickelten schweren Waffen auszustatten, wie anderswo mit Schuhen.
In keinem anderen Land auf der Welt gibt es mehr Waffen und mehr Waffengewalt. Amokläufe und Schießereien gehören zum Alltag. Andere Länder, beispielsweise Schottland oder auch Neuseeland haben ihre Waffengesetze geändert, nachdem es zu Schießereien gekommen war, weshalb es seither solche Vorfälle nicht mehr gab.
Doch in dem nach eigener Vorstellung freiesten Land der Welt gilt einerseits die Schulpflicht und andererseits die politisch ermöglichte Freiheit, dass sich jeder ab dem 18. Lebensjahr nahezu ungeprüft eine schwere Waffe zulegen und damit spazieren gehen kann – auch in Schulen, die bereits mit Sicherheitskräften ausgestattet sind. Rund ein Jahrzehnt verging seit dem Blutbad an der Sandy Hook Grundschule im Jahr 2012, bei dem ein 20-Jähriger 27 Menschen tötete, darunter 20 Erstklässler im Alter zwischen sechs und sieben, bevor er sich selbst erschoss. Trotz zahlreicher Schulmassaker und entsprechender Kritik an der Politik sorgen die übermächtige Waffenlobby wie auch Waffen befürwortende Politiker seit langem dafür, dass sich an dieser"Freiheit" nichts ändert.
Laut Daten des Forschungsprojekts Small Arms Survey gibt es kein anderes Land mit einer so hohen Pro-Kopf-Zahl von Waffen im Besitz von Zivilisten: Es gibt mehr Schusswaffen als Bürger in den USA, 120 Stück pro 100 Einwohner. Auf Rang zwei folgt weit abgeschlagen das Kriegsland Jemen mit rund 52 Waffen pro 100 Einwohner. Die Vereinigten Staaten stellen etwa 4 Prozent der Weltbevölkerung, den Daten nach finden sich aber 40 Prozent aller Waffen auf der Welt, die in ziviler Hand sind, in US-amerikanischen Haushalten.
Dass sich daran etwas ändern sollte, ist auch nach Auskunft von Politikern wie Tommy Tuberville, Parteikollege von Ted Cruz, nicht der Fall. Auf die Frage von Reportern, was der Senator aus dem Bundesstaat Alabama jenen Eltern zu sagen habe, die gerade in Uvalde ihr Kind verloren hätten, antwortete er: "Ich bin bereit zu sagen, dass es mir sehr leid tut, was passiert ist. Aber Schusswaffen sind nicht das Problem, okay? Die Menschen sind das Problem." Weiter berief er sich auf die offenbar ur-amerikanische Tradition: "Wir haben schon immer Waffen gehabt. Und wir werden auch weiterhin Waffen haben."
Auch der ehemalige US-Präsident Trump ist als Redner bei der NRA-Tagung geladen. Sorgen um eine mögliche Schießerei muss man sich dort nicht machen. Denn ausgerechnet bei der NRA-Veranstaltung wurde aus Sicherheitsgründen vorab ein Waffenverbot verhängt.
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