Meinung

MH17: Wie JIT auf den ukrainischen Geheimdienst und "verdeckte Operationen" setzte

Die niederländische Staatsanwaltschaft erhebt beim Strafprozess zum MH17-Unglück massive Vorwürfe gegen Russland und russische Geheimdienste. Dabei setzte ausgerechnet das internationale Untersuchungsteam JIT proaktiv auf die Mitarbeit des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU.
MH17: Wie JIT auf den ukrainischen Geheimdienst und "verdeckte Operationen" setzteQuelle: AFP © ROBIN VAN LONKHUIJSEN

von Wladislaw Sankin

Die ersten Sitzungen des Haager Gerichts zum Strafprozess um den Abschuss der Boeing 777 im ostukrainischen Kampfgebiet Donbass fanden letzte Woche statt. Dabei sind die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen. Es wird weiterhin noch nach Zeugen des Abschusses und des BUK-Transports aus Russland gesucht.

Die bisher bekannten Beweise gegen die vier Angeklagten sind nach wie vor Videos und Fotos aus dem Internet, vom ukrainischem Geheimdienst SBU abgehörte Telefonate und Postings in den sozialen Netzwerken. Hinzu kommen angeblich noch 13 anonyme Zeugen, die in den Jahren 2018 und 2019 vernommen wurden. Die Schuld für den Abschuss wird klar bei Russland gesehen.

Dabei wirft die niederländische Staatsanwaltschaft der russischen Regierung vor, durch Hacken versucht zu haben, an Informationen heranzukommen. Die Agenten des russischen Militärgeheimdienstes GRU sollen in den Niederlanden und in Malaysia versucht haben, in die Systeme der Ermittlungsbehörden einzudringen. Zeugen würden bedroht und müssten um ihr Leben fürchten, weswegen sie anonym bleiben sollten.

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Außerdem beschuldigt die Staatsanwältin Dedy Woei-a-Tsoi Russland, eine Desinformationskampagne zu betreiben. Überhaupt wird Russland vorgeworfen, nicht aktiv bei den Ermittlungen kooperiert zu haben. Russische Vertreter kritisieren dagegen die Niederlande scharf, eine erneute antirussische Medienkampagne gestartet zu haben. Sie weisen darauf hin, dass Russland im Unterschied zur Ukraine Primärradardaten und andere objektive Informationen geliefert habe. Laut diesen sei die Abschussrakete im ukrainischen Besitz gewesen. Die Authentizität der bislang vom internationalen Untersuchungsteam JIT (Joint Investigation Team) vorgestellten Beweise sei hingegen anzuzweifeln.

Viele dieser Beweise wurden vom ukrainischen Geheimdienst SBU geliefert. Er vereint den Sicherheitsdienst für Inneres und den Militärgeheimdienst. Es gibt innerhalb des Dienstes viele Spezialeinheiten, die unmittelbar dem Präsidenten untergeordnet sind. Somit kann er durchaus auch mit den russischen Militäraufklärern der GRU, die im Westen als berüchtigt gelten, gleichgesetzt werden.

Keinem Geheimdienst der Welt sollte grundsätzlich getraut werden, denn das Täuschen gehört zu deren Geschäft. Umso mehr gilt dies für die Militärgeheimdienste der Staaten, deren Territorien vom Krieg erfasst sind. Nach dem Putsch im Februar 2014 haben die nationalistischen Kader die Schlüsselpositionen beim SBU besetzt und sich dem Kampf gegen die sogenannten "Terroristen" verschrieben – so wurden die prorussischen Rebellen in der Ostukraine bezeichnet.

Die SBU-Tonbänder

Es war ausgerechnet der SBU, der die ersten Tonbänder der "Terroristen" direkt am Tag des Abschusses bei Youtube hochgeladen hat. Das Video mit vier abgehörten Telefonaten der Feldkommandeure der Rebellen ist mit über eine Million Aufrufen bis jetzt auf dem Youtube-Kanal des SBU verfügbar. Sie sollen die Verantwortung der Rebellen für den Abschuss belegen. Nur wenige Tage danach hat ein Audio-Fachmann mithilfe des Adobe-Programms gezeigt, dass die Mitschnitte eine grobe Montage waren.

Erst Jahre später hat die unabhängige Journalistenplattform Bonanza Media den malaysischen Audioforensiker Akash Rosen beauftragt, die Mitschnitte zu bewerten. In einer 143-seitigen Studie hat er zahlreiche Manipulationen bei den Aufnahmen festgestellt. Laut des russischen Medienanalysten Wladimir Kornilow wurden diese Aufnahmen letztendlich aus dem Beweisfundus genommen. Jedenfalls ließ JIT den Verdacht gegen einen der abgehörten Feldkommandeure, Igor Besler, fallen, wie dieser auf seinem Facebook-Account mitteilte. Er wurde von den Ermittlern vernommen, wobei die Niederländer über die grobe Fälschung des SBU "tolerant und bescheiden" schwiegen, so Besler. 

In einem anderen Post schrieb Besler von einer weiteren Fälschung des SBU – die, wie er behauptet, das JIT in die Ermittlung aufgenommen hat und untermalte dies durch ein Video und mehrere Screenshots. Der Chef der Abteilung für Gegenaufklärung des SBU, Witali Najda, berichtete in einem BBC-Interview seine Version der Geschichte des Abschusses der malaysischen Boeing 777. Selbiges berichtete er der CCN nur wenige Tage nach dem Abschuss. Als Beleg für die Präsenz der russischen Buk-Rakete in der Ostukraine lieferte er jedoch Bilder einer ukrainischen Buk – aufgenommen im März 2014, also vier Monaten vor dem Abschuss.

JIT: Auf SBU angewiesen

Kurz vor Prozessbeginn präsentierte die Bonanza Media bei einer Pressekonferenz neue Dokumente des JIT – seit einigen Wochen werden schubweise immer mehr neue geheime Dokumente durch die Journalistenplattform publik gemacht. Die neuesten Leaks zeigen, dass das internationale Ermittlungsteam grundsätzlich keinerlei Bedenken hat, mit dem SBU zusammenzuarbeiten. Im Gegenteil, bei einer Sitzung am 25. Januar 2018 unter der Teilnahme der Ermittler aus den Niederlanden, Belgien, Australien und der Ukraine flehten die niederländischen Ermittler den einzigen ukrainischen Teilnehmer buchstäblich an, den SBU zu mehr Mitarbeit bei den Ermittlungen zu bewegen (die Datei ist hier abrufbar):

Es macht uns Sorgen, dass der SBU sich wenig um die Vernehmung der Zeugen und relevanten Personen aus der von uns schon vor langer Zeit erstellten Liste bemüht", sagte der Vorsitzende Maartje Nieuwenhuis von der niederländischen Staatsanwaltschaft.  

Es sei schwer zu beurteilen, was der SBU im Moment für die Ermittlungen macht. Er werde von seinem ukrainischen Kollegen immer wieder vertröstet, aber die Arbeit mit den Zeugen gehe nicht voran. Immer wieder machte Nieuwenhuis die Anwesenden darauf aufmerksam, dass das JIT auf den SBU angewiesen sei.

Der ukrainische Ermittler beschwerte sich über Personalmangel und Auslastung. Sein Kollege, vermutlich ein SBU-Mitarbeiter oder ein Verbindungsmann zum Geheimdienst, der eigentlich bei der Sitzung erscheinen sollte, sei derzeit mit einem anderen Fall beschäftigt. Die Niederländer zeigten sich angesichts der zum damaligen Zeitpunkt bereits dreieinhalb Jahre dauernden Ermittlungen ungeduldig: Der SBU muss mehr liefern. Dafür fassen die Niederländer das Treffen zwischen dem Chef der niederländischen Polizei Ackerboom und dem SBU-Chef Wassili Grizak ins Auge. 

Es wurden auch Vorschläge unterbreitet, wie man am besten an die Zeugen kommt. Eine Aktion bei dem russischen Facebook-Pendant VKontakte sei zu diesem Zweck gestartet. Die Zeugen müssten zur Mitarbeit angelockt werden. Die Ermittler kamen auf ein Problem zu sprechen – viele potenzielle Informanten wohnen in Russland. Man will aber nicht mit den russischen Behörden kooperieren, obwohl eine Vernehmung in Russland ohne Kenntnisnahme der Behörden die Verletzung der russischen Souveränität bedeuten würde.

Schnell waren die Teilnehmer sich einig, dass dies jedoch kein Hindernis sein sollte. Die Zeugen müssten angelockt werden, man sollte aber auch nicht vor "verdeckten Operationen" zurückschrecken. Wenn dies die niederländische Polizei übernehme, sei es weniger problematisch.

Im Jahr 2019 kam es zur Entführung eines mutmaßlichen Zeugen durch den SBU. Wladimir Zemach, der in der Nähe des mutmaßlichen Abschussortes eine kleine Einheit der Luftabwehr leitete, wurde in der Region Donbass gekidnappt. Bei der Entführung aus seiner Wohnung soll er sediert und misshandelt worden sein. Während der Überführung von Zemach in die Ukraine über die militärischen Trennlinien kam einer der Entführer beim Tritt auf eine Landmine ums Leben und ein anderer verlor dabei ein Bein.

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In Kiew wurde Zemach mehrmals vernommen. Später erzählte er, dass ihm durch das Zeugenschutzprogramm ein Haus in den Niederlanden und die niederländische Staatsbürgerschaft angeboten wurden, sollte er mit der Ermittlung "kooperieren". Die ukrainische Staatsanwaltschaft drohte ihm mit lebenslanger Haft. Erst im Zuge einer Tauschaktion "der festgesetzten Personen" kam er im September zurück in seine Heimat.

Babtschenko-Gate

Das Sitzungsprotokoll gibt einen interessanten Einblick in die Arbeitsweise der Ermittler des JIT. Vor allem die Vertreter der niederländischen Staatsanwaltschaft sehen im ukrainischen Geheimdienst einen vertrauenswürdigen Partner. Die Geheimdienste sind also gut, wenn sie dem eigenen Zweck dienen – in diesem Fall, wenn sie die Ermittlungen in eine bestimmte politische Richtlinie tatkräftig unterstützen. Die zweifelhaften SBU-Methoden, inklusive Kidnapping und Fälschungen, stellen dabei kein Problem dar.

Auf der anderen Seite gibt es "böse" Geheimdienste, wie die russische GRU, die versuchen, in die Untersuchung reinzuhacken. Doch derlei unkritischer Umgang mit dem berüchtigten ukrainischen Geheimdienst wirft lange Schatten nicht nur auf die Ermittler, sondern auf die ganze niederländische Justiz und lässt insgesamt stark an den Ergebnissen der Untersuchung und des Prozesses zweifeln. 

Und es ist nicht so, dass in den Niederlanden gänzlich unbekannt wäre, wie der SBU arbeitet. Zumindest ein "Täuschungsmanöver" des SBU machte den ukrainischen Geheimdienst sogar "weltberühmt". Im Mai 2018 vermeldete man in Kiew den Tod eines russischen Staatsbürgers – des "Kremlkritikers" Arkadi Babtschenko. Die Bilder von Babtschenko, in einer Blutlache liegend, gingen um die Welt. Ohne jegliche Aufklärung war es für die westlichen Medien glasklar, dass Russland dahintersteht. Mit Schaum vor dem Mund sagten ukrainische Politiker, das "mörderische Russland" sei Schuld an seinem Tod.

Zwei Tage später erschien Babtschenko, strahlend lächelnd, zusammen mit dem ukrainischen Staatsanwalt Juri Lutzenko und dem SBU-Chef Wassili Grizak auf einer Pressekonferenz. Gritzak war dabei demonstrativ in militärischer Tarnuniform gekleidet. Es war der Grizak, der zwei Monate zuvor, im März 2018 sich mit den niederländischen Ermittlern traf und mit ihnen an einer gemeinsamen Pressekonferenz teilnahm. 

Das Trio erzählte, der Mord sei eine Inszenierung des SBU gewesen – um Russland bei weiteren geplanten "Morden" auf die Schliche zu kommen. RT Deutsch schrieb damals, dass der SBU von der EU Hilfsgelder für Ausbildungszwecke bekam. Wenige Tage später veröffentlichte der Geheimdienst die angebliche russische Abschussliste mit 47 ukrainischen Journalisten und Bloggern. Manche Journalisten verlangten danach sogar staatlichen Schutz, doch die meisten "Betroffenen" nahmen diesen banalen Trick nicht mehr ernst. Die westlichen Medien und Politiker fühlten sich nach der ganzen Affäre veräppelt.

SBU: An vielen Verbrechen beteiligt

Der SBU ist aber nicht nur für vorgetäuschte Morde bekannt. Der SBU beteiligte sich an den Entführungen, wendete Folter an und unterhielt geheime Gefängnisse – was durch internationale Beobachter für die Jahre 2015 und 2016 festgestellt und kritisiert wurde. 

In den Jahren nach dem Maidan errichtete Petro Poroschenko ein Polizeiregime, mit dem die Opposition und Andersdenkende im Landesinneren eingeschüchtert wurden. Dabei genossen nationalistische "Aktivisten" und Schlägertrupps offenbar Rückendeckung vonseiten des Innenministeriums und des SBU. Prozesse mit durch SBU herbeigeführten "Beweisen" gegen Journalisten, Politiker und kritische Geister waren an der Tagesordnung. Über den Prozess gegen den 85-jährigen Wissenschaftler Mechti Logunow hat RT Deutsch berichtet

Und es kam in der Ukraine und im umkämpften Donbass zu einer Vielzahl politischer Morde.

Hinter vielen dieser Verbrechen steht der SBU, der seine schützende Hand auch über einige Formationen rechtsradikaler Schläger hält, wie beispielsweise die Gruppierung S14. In den letzten zwei Jahren meldeten sich immer mehr Opfer, Schläfer oder Aussteiger zu Wort und belasten den ukrainischen Geheimdienst schwer. So erzählte 2018 der Ex-Kämpfer einer paramilitärischen "Asow-Einheit" Sergei Sanowski im schwedischen Asyl, dass er für die Mitarbeit bei illegalen Gruppen für Morde und Einschüchterung der Regimegegner angeworben wurde. Als er das Angebot ablehnte, musste er mit seiner Familie fliehen. Mit der Bildung solcher Gruppen war die bereits genannte Abteilung für Gegenaufklärung des SBU betraut.

Der des Mordes an dem ukrainischen Rechtsanwalt Juri Grabowski im Jahr 2016 Verdächtige, Artjom Jakowenko, sagte aus, dass er Grabowski im Auftrag des SBU nur in eine Falle gelockt und ihn den SBU-Mitarbeitern übergeben hätte. Der Anwalt war berühmt für seine Erfolge in schwierigen Fällen. Er hatte damals zwei im Donbass festgenommene russische Militärangehörige verteidigt. Bei der Entführung von Grabowski seien auch Dokumente verschwunden, die für den Erfolg im Prozess entscheidend hätten sein könnten.

Vor kurzem erzählte der ehemalige SBU-Mitarbeiter Oleg Sugerej detailliert, wie es zu dem Mord an dem bekannten Donezker Rebellenkommandeur Michal Toslstych (Giwi) im Februar 2017 kam. Ein weiblicher Lockvogel soll in seinem Kabinett einen Sprengsatz gelegt haben. Sugerej habe bei der Operation als "deckender Mann" mitgewirkt. Das Donezker Verteidigungsministerium verurteilte den Mord als Akt des "terroristischen Krieges".  

Der ehemalige SBU-Offizier und spätere Überläufer Wassili Prosorow erzählte, wie der SBU die tödlichen Unfälle bei den Sabotageübungen den Rebellen als Terrorakte in die Schuhe geschoben und mehrere Tötungen der bekannten Rebellenkommandeure geplant habe. MH17 sei bei der ukrainischen Militärführung das Thema gewesen, über das man nur ungern sprach. "Stochere in diesem Thema nicht herum, wenn du keinen Ärger willst", sollen ihm die Offiziere des Generalstabs oder der Hauptleitung des Verteidigungsministeriums für Aufklärung in privaten Gesprächen gesagt haben. 

Ich habe fast 20 Jahre in Staatsorganen und Geheim- und Sicherheitsdiensten der Ukraine gearbeitet und weiß, wie viel Zeit vergeht, bis Informationen bei Entscheidungsträgern ankommen und eine Entscheidung getroffen wird. Das erste, was mich stützig machte, war die phänomenal schelle Reaktion der ukrainischen Führungsriege. Ich gelangte zur der Ansicht, dass Präsident Poroschenko und sein Pressedienst im voraus Bescheid wussten", sagte Prosorow den Journalisten auf einer Pressekonferenz. 

Nur zwei Stunden nach der Katastrophe bezeichnete der ukrainische Präsident Petro Poroschenko während eines Treffens mit den Fraktionsvorsitzenden der Parlamentsparteien sie als "terroristischen Akt", wie sein Pressesekretär Swjatoslaw Zegolko via Twitter kurz nach 19 Uhr Uhr am 17. Juli 2014 mitteilte. Er lud im Namen der Ukraine niederländische Spezialisten ein, um "eine transparente und offene Untersuchung dieses terroristischen Aktes" durchzuführen. 

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