Meinung

Gefahr eines Atomkrieges zwischen USA und Russland so groß wie seit Jahrzehnten nicht mehr

Wenn der Oberkommandierende der NATO-Truppen erklärt, "Fan eines flexiblen Erstschlags mit Nuklearwaffen" zu sein, während die NATO gleichzeitig an der Grenze zu Russland militärisch ihre Muskeln spielen lässt, ist die Gefahr eines unbeabsichtigten Atomkrieges realer denn je.
Gefahr eines Atomkrieges zwischen USA und Russland so groß wie seit Jahrzehnten nicht mehrQuelle: Reuters © Kevin Lamarque/Reuters

von Scott Ritter

Als "ein Fan des flexiblen Erstschlags" outete sich diese Woche der General der US-Luftwaffe Tod D. Wolters vor dem US-Senat in Bezug auf die Atomwaffen der NATO. Damit deckte er den fatalen Irrweg der ganzen NATO auf, die Politik der nuklearen Abschreckung made in the U.S.A. blindlings zu übernehmen.

Es war eines der bemerkenswertesten Gespräche in der jüngsten Geschichte des US-Senats  – und doch bisher längst nicht ausreichend medial beachtet. Anfang dieser Woche führte General Wolters, der Kommandeur des US-Europa-Kommandos und damit gleichzeitig als Oberbefehlshaber der Alliierten in Europa (SACEUR) auch militärischer Chef aller NATO-Streitkräfte, während seiner Anhörung vor dem Senatsausschuss für Streitkräfte einen kurzen, aber aufschlussreichen Dialog mit Senatorin Deb Fischer, einer Republikanerin aus dem Bundesstaat Nebraska. 

Einige Fragen und Antworten konzentrierten sich zu Beginn auf die Ausrichtung der militärischen Strategie der NATO entlang der Nationalen Verteidigungsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika gemäß der redaktionellen Fassung von 2018  (und halten schriftlich eine Definition dessen fest, was Wolters "den bösartigen Einfluss Russlands" auf die europäische Sicherheit nannte). Dann fragte Senatorin Fischer nach der wachsenden Anerkennung der wichtigen Rolle der nuklearen Abschreckung seitens der USA, die dieser Abschreckung bei den Bemühungen der NATO zur Wahrung des Friedens zukämen. "Wir alle verstehen, dass unsere Abschreckung, die nukleare Triade, das Fundament der Sicherheit dieses Landes ist", stellte Fischer fest. "Können Sie uns sagen, was Sie von unseren NATO-Partnern über diese Abschreckung hören?"

Wolters antwortete mit dem Herstellen der Verbindung zwischen der Abschreckung, die Europa durch die nukleare Triade der USA geboten werde, und dem Frieden, der seit sieben Jahrzehnten auf dem europäischen Kontinent überwiegend herrscht. Fischer fragte, ob der US-Nuklearschirm "für die Freiheit der NATO-Mitglieder lebenswichtig" sei; Wolters stimmte dem zu. Bemerkenswerterweise verknüpfte Wolters die Rolle der nuklearen Abschreckung ausgerechnet auch noch mit den NATO-Einsätzen im Irak, in Afghanistan und anderswo außerhalb des europäischen Kontinents. Die Aufgabe der NATO bestehe darin, "dem Abschreckungseffekt zur größtmöglichen Reichweite zu verhelfen, um einen größeren Frieden zu erreichen", wie er das formulierte.

Der SACEUR – ein Fan des "flexiblen" Erstschlages

Nun folgte der Knackpunkt der ganzen Anhörung – eine rhetorische Steilvorlage, gekonnt als eine Frage eine advocatus diaboli getarnt: "Was sind Ihre Ansichten", fragte Senatorin Fischer, "über eine Einführung einer sogenannten Politik des Verzichts auf den Ersteinsatz – glauben Sie, dass dies die Abschreckung verstärken würde?"

Die Antwort von General Wolters brachte es direkt auf den Punkt: "Senatorin, ich bin ein Fan der Politik eines flexiblen Ersteinsatzes."

Die öffentliche Äußerung dieser Akzeptanz einer Politik des "flexiblen Erstschlages" hinsichtlich des Einsatzes von Atomwaffen durch den Obersten Befehlshabers der NATO-Alliierten in Europa sollte wohl unter jedweden Umständen breiteste Aufmerksamkeit erregen. Geradezu explosiv ist Wolters Erklärung jedoch im Zusammenhang mit der jüngsten Umrüstung von U-Boot-gestützten interkontinentalen ballistischen Raketen des Typs Trident auf Nuklearsprengköpfe von verminderter Sprengkraft.

Bedenkt man, dass die USA kürzlich eine Stabsübung durchgeführt haben, bei der laut US-Verteidigungsminister die Verfahren für den Abschuss eben dieser "Waffe mit geringer Sprengkraft" gegen ein russisches Ziel im Verlaufe einer simulierten Auseinandersetzung zwischen Russland und der NATO in Europa geübt wurden, sollte die Stärke der Reaktionen in der Öffentlichkeit normalerweise jede Skala sprengen. Und doch herrschte und herrscht sowohl in der europäischen als auch in der US-amerikanischen Presse "ohrenbetäubendes" Schweigen zu diesem Eingeständnis.

Es gibt jedoch eine Seite, die verständlicherweise sehr genau darauf geachtet hat, was General Wolters zu sagen hatte – nämlich Russland. In einer Presseerklärung vom 25. Februar, dem gleichen Datum wie die Aussage von General Wolters, warnte umgehend der russische Außenminister Sergei Lawrow: "Wir stellen mit Besorgnis fest, dass Washingtons neue doktrinäre Richtlinien die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen erheblich senken." Lawrow fügte hinzu, dass diese Doktrin im Lichte "der dauerhaften Stationierung von US-Nuklearwaffen auf dem Territorium einiger NATO-Verbündeter und der fortgesetzten Praxis der sogenannten Joint Nuclear Missions [(Gemeinsamen Nuklearen Patrouillen)]" betrachtet werden müsse.

Lawrow bot den USA an, dass diese – anstatt sich auf eine Politik des "flexiblen Erstschlages" zu fixieren – besser mit Russland zusammenarbeiten sollten, um "die Gorbatschow-Reagan-Formel zu bestätigen und wieder aufleben zu lassen: "Es kann keine Gewinner in einem Atomkrieg geben, und er sollte nie entfesselt werden." Dieser Vorschlag wurde bereits auch vor 18 Monaten unterbreitet, stellte Lawrow fest, und noch immer haben die USA nicht darauf reagiert.

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Erschwerend kommen die nun in Europa anlaufenden NATO-Militärübungen "US Defender Europe 2020" hinzu, an denen Zehntausende von US-Soldaten in einer der größten Ausbildungsoperationen seit dem Ende des Kalten Krieges teilnehmen. Die Tatsache, dass diese Übungen zu einer Zeit stattfinden, in der das Problem der US-Nuklearwaffen und der NATO-Doktrin bezüglich ihres Einsatzes gegen Russland von hochrangigen russischen Regierungsbeamten und Militärs aktiv verfolgt wird, macht die Gefahr nur noch deutlicher.

Am 6. Februar traf der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow mit General Wolters zusammen, um "Defender 2020" und die in der Nähe und im selben Zeitraum geplanten russischen Militärübungen zu erörtern. Ziel war es, Konflikte zwischen einzelnen jeweiligen Übungsvorgängen der beiden Manöver und daraus erwachsende unvorhergesehene Zwischenfälle zu vermeiden. Dieses Treffen fand jedoch statt, noch bevor die Berichte über ein gegen die russischen Streitkräfte zielendes nukleares Stabsmanöver zwischen den USA und der NATO an die Öffentlichkeit gelangten – und auch bevor General Wolters seine aufschlussreiche Erklärung über den "flexiblen Ersteinsatz" von NATO-Nuklearwaffen abgab.

Angesichts dieser Ereignisse traf sich General Gerassimow nun auch mit dem General François Lecointre, dem Leiter des französischen Verteidigungsstabes, um Russlands Besorgnis über die militärischen Großmanöver der NATO in der Nähe der russischen Grenze zum Ausdruck zu bringen, insbesondere über die Übung "Defender 2020", die "auf der Grundlage antirussischer Szenarien durchgeführt wird und eine Ausbildung für offensive Operationen vorsieht", wie General Gerassimow deutlich anmerkte.

Die Anliegen von General Gerassimow können nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssen im gesamten historischen Kontext der Beziehungen zwischen der NATO und Russland gesehen werden. Bereits 1983 war die damalige Sowjetunion äußerst besorgt über eine Reihe erschreckend realitätsnah ausgelegter NATO-Übungen, die unter dem Namen "Able Archer '83" bekannt wurden und vom Umfang und Ausmaß dem heutigen "US Europe Defender 2020" in vielerlei Hinsicht ähnlich waren. Wie bei "Defender 2020" wurden auch bei der Übung "Able Archer '83" Zehntausende von US-Truppen nach Europa entsandt, wo sie eindeutige Angriffsstellungen bezogen. Anschließend leitete man Able Archer in eine Stabsübung über, bei der NATO-Nuklearwaffen gegen ein sowjetisches Ziel eingesetzt werden sollten.

So besorgt war man in Moskau angesichts dieser Übungen – und die Möglichkeit, dass die NATO dies als Tarnung für einen realen Angriff auf sowjetische Streitkräfte in Ostdeutschland benutzen könnte –, dass auch die sowjetischen Nuklearstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt wurden. Historiker vertreten seither die Ansicht, dass die Gefahr eines Atomkriegs zwischen den USA und der UdSSR damals die höchste war – nach jener während der Kubakrise von 1962.

Vertreter der USA und der NATO täten gut daran, sich in ihrer Beurteilung der heute von General Gerassimow geäußerten Bedenken an die Gefahr für die europäische und weltweite Sicherheit zu erinnern, die von der Übung "Able Archer '83" ausging, vor allem in Bezug auf das Risiko von Fehlkalkulationen damals auf der sowjetischen Seite. Die heutige beispiellose Konzentration der offensiven militärischen Macht der NATO an der Grenze zu Russland in Verbindung mit der rücksichtslosen öffentlichen Apologie einer Nukleardoktrin des "angepassten Erstschlages" für die NATO durch General Wolters ist mehr als nur die Wiederholung der damals von "Able Archer '83" ausgehenden Art der Bedrohung. In diesem Zusammenhang wäre der Schluss nicht weit hergeholt, dass das Risiko eines Atomkrieges zwischen den USA und Russland heute das höchste seit "Able Archer '83" ist.

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Übersetzt aus dem Englischen. Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie. Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen.

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