Meinung

Hanau, Idlib, Washington: Ein Wochenrückblick auf den medialen Abgrund

Die Morde von Hanau und die moralischen Appelle, der mediale Kampf um die Befreiung des syrischen Idlib sowie "russische Einmischung" im US-Wahlkampf: Vor allem diese Themen boten den Mainstream-Medien in dieser Woche Anlass für verzerrende Berichterstattung.
Hanau, Idlib, Washington: Ein Wochenrückblick auf den medialen AbgrundQuelle: www.globallookpress.com

von Thomas Schwarz

Wer hat die gesellschaftlichen, politischen und atmosphärischen Vorbedingungen für die Morde von Hanau geschaffen? Diese Frage wurde in dieser Woche von einer Koalition aus Politikern und Redakteuren so eindeutig wie falsch beantwortet: Folgt man diesem dominanten Chor, so sind verantwortlich: die AfD und die Hetze aus "dem Internet". Dass sowohl der Erfolg der Partei als auch fragwürdige Äußerungen in "sozialen" Medien eher Symptome und nicht zuerst Ursachen gesellschaftlicher Entwicklungen darstellen, das fällt in den Statements führender Politiker und Redakteure unter den Tisch. Dieses Vorgehen ist nachvollziehbar, denn die Ursachen für die sich in einem Rechtsruck äußernden gesellschaftlichen Erschütterungen liegen erheblich tiefer als rassistische Wutausbrüche in Kommentarspalten.

Billige Moralpredigten statt teurer Investitionen

Diese Ursachen für "den Hass" wurden von eben jenen Politikern und Redakteuren in den vergangenen Jahrzehnten gelegt – in Form einer staats- und bürgerfeindlichen Wirtschaftspolitik: Durch Kürzungen wurden gesellschaftliche Ängste vor Abstieg und einem handlungsunfähigen Staat verstärkt. Dass diese Ängste teils irrational sind, ändert nichts an ihrer Wirkung. Darum ist das Rezept gegen den Rechtsruck auch nicht (zuerst) eine Kontrolle des Internets. Stattdessen müssten Investitionen in Infrastruktur, Strafverfolgung, Sozialstaat und Bildung sowie eine Abkehr von Lohndumping und Armutsrenten vollzogen werden. Während jedoch der moralische "Kampf gegen Hasstiraden" relativ preiswert zu haben ist, wären solche Investitionen teuer.

Auch diese (langfristigen) Investitionen werden "die Rechten" nicht verschwinden lassen – aber die so erreichbare gesellschaftliche Beruhigung erscheint erheblich vielversprechender im "Kampf gegen Rassismus" als die nun landauf, landab zu ertragenden, fast wortgleichen moralischen Appelle: Diese Handlungsaufforderungen an "die Bürger" zu einem ominösen "demokratischen Grundkonsens" ignorieren das Soziale und überbetonen ersatzweise eine sprachliche Hygiene. Zudem kommt der Eindruck auf, dass sich die Politiker und Redakteure durch ihren Fingerzeig auf "die Bürger" selber weißwaschen möchten.

Die NachDenkSeiten schreiben zu diesem Aspekt unter dem Titel "Die Spalter rufen zur Einheit auf":

Die Hetze durch AfD-Personal ist zweifellos zu bekämpfen. Sie ist jedoch (noch) eher als Symptom denn als Ursache zu beschreiben. Im Vergleich zu diesen verbalen AfD-Ausfällen sind die tiefgreifenden und massenhaften gesellschaftlichen Erschütterungen, die das neoliberale Politik- und Medien-Personal in den letzten Jahrzehnten angerichtet hat, als erheblich dramatischer einzuschätzen.

Das Medium prophezeite vor einigen Tagen, dass man in den nächsten Tagen noch eine Fülle an wohlfeilen moralischen Aufforderungen an "die Bürger" zu hören bekommen würde, doch endlich "aufzustehen". Es fragte auch: Wie viele dieser Appelle werden die soziale Spaltung anprangern? Und die Heuchelei der Spalter? Werden sich Gewerkschaften und "Zivilgesellschaft" auch nach Hanau auf die wohlklingenden, aber völlig ungenügenden Floskeln von "Unteilbar" zurückziehen?

Gewinne werden privatisiert – gesellschaftliche Spaltungen werden sozialisiert

Die Vermutung bezüglich der moralischen Appelle ist eingetroffen: Die Berichterstattung der großen öffentlich-rechtlichen und privaten Medien über die Untaten von Hanau erscheinen wie ein einziger großer Appell an die Bürger, nun "dem Rassismus entschieden entgegenzutreten". Aber welche Mittel haben die Bürger, um eine jahrzehntelange neoliberale Politik zu korrigieren? Auf Demos zu gehen und "Nazis raus!" zu rufen?

Von jenem Personal, das die Spaltungen vor allem zu verantworten hat, wird nun durch die moralischen Aufforderungen an die Bürger ein kapitalistischer Grundsatz umgesetzt: Die Gewinne aus den bürgerfeindlichen Kürzungen wurden unter Mithilfe des Staates privatisiert, die gesellschaftlichen Folgen in Form von Spaltung, Verunsicherung und Rechtsruck werden sozialisiert – indem der "Kampf gegen rechts" jetzt als eine rein moralisch-sprachliche Aufgabe der Bevölkerung dargestellt wird, die entkoppelt von den materiellen Realitäten vollzogen werden könne.

Man muss in dieser Woche zu diesem Thema daher gar nicht mehr aus den großen Medien zitieren. Schuld an den Morden von Hanau sind einhellig nach einem sehr weit verbreiteten Tenor die AfD und vor allem "das Internet". Auch kleinere Zeitungen verbreiten überwiegend diese schwachen und zu kurz greifenden Thesen.

Das ist, laut NachDenkSeiten, schlüssig, denn die Moral bekomme man umsonst, im Gegensatz zu Investitionen in die Infrastruktur und in den Sozialstaat. Zusätzlich wälze man durch die moralischen Aufforderungen die eigene Verantwortung für gesellschaftliche Spaltungen auf die Bürger ab, die sich angeblich weigern, beim Kampf gegen rechts "endlich aus der Komfort-Zone herauszukommen". Die Rheinpfalz erklärt die symptomatischen Äußerungen im Netz zur Ursache:

Die schreckliche Tat eines Einzeltäters macht erneut deutlich, dass das Internet als Brandbeschleuniger für rechtsextremistische Taten dient.

Auch die Rhein-Neckar-Zeitung sieht die Verantwortung weniger in einer langjährigen Politik als beim "ganz normalen Troll": 

Das Bundeskabinett verabschiedete am Mittwoch ein Gesetz, das Hass und Hetze, Beleidigungen und Bedrohung schärfer bestraft. Was jetzt noch fehlt, sind mehr und zugleich qualifizierte Ermittler, die die Quellen des Hasses aufspüren. Dabei geht es auch um den ganz normalen ‚Troll‘, um die vielen kleinen Hasskommentare.

Die Verantwortlichen wollen "die Bürger" in die Pflicht nehmen

Die Bürger in die Pflicht nehmen will die Heilbronner Stimme:

Deutschland hat ein Problem mit rechtsextremistischer Gewalt. Deshalb ist jeder, dem etwas an dieser Demokratie liegt, aufgefordert, in seinem Bereich Extremismus und Fremdenfeindlichkeit entschieden zu bekämpfen.

Die Märkische Oderzeitung beginnt mit einer treffenden Analyse, kommt aber zu den falschen Schlüssen: 

In rasendem Tempo schwindet das Vertrauen in Politik, Demokratie und die Institutionen, die dieses Land ausmachen – dazu gehören auch seriöse Medien. Wer sich von all dem abwendet, kann sich rasch in einem Sumpf aus Lügen, Fake News und Verschwörungswahn verirren – und landet in einer Parallelwelt, die sich im Krieg befindet.

Die "oppositionellen Aktivisten" von Idlib

Die Berichterstattung zu den Kämpfen um das syrische Idlib machte in dieser Woche nochmals deutlich, warum sich zahlreiche Menschen bei relevanten Themen von den Medien betrogen fühlen und sich darum folgerichtig von ihnen abwenden. Die "demokratische Revolution" in Syrien war von Anbeginn ein Medien-Mythos, mittlerweile muss er als endgültig enttarnt bezeichnet werden.

Dennoch nehmen viele große Medien keinen Abstand von ihrer verzerrten und verkürzten Berichterstattung zu Syrien: Noch immer ist von "oppositionellen Aktivisten" die Rede, wenn es doch eigentlich um islamistische Söldner geht. Noch immer werden deren Charakter und Unterstützer nicht hinterfragt – und vor allem wird nicht von ihnen verlangt, dass sie endlich bedingungslos ihre Waffen niederlegen. Noch immer setzt die Berichterstattung nicht mit der westlichen Einmischung, sondern erst mit der Reaktion der syrischen Regierung ein. Dadurch soll die Kriegsschuld umgekehrt werden: Der sich souverän verteidigende syrische Staat wird als der Aggressor im eigenen Land diskreditiert.

Diese falsche Darstellung ist nichts Neues – das Bemerkenswerte ist eher das unfassbare Hochhalten dieser Legende, die nun seit 2011 massiv verbreitet wurde und wird. Medienzitate aus dieser Woche belegen weiter unten im Text dieses skrupellose Festhalten an einer umfangreichen Kampagne, gegen die sogenannte "Fake-News" aus "dem Internet" zu einer Petitesse schrumpfen.

Rückkehr der Propaganda-Zombies: "Weißhelme" und "Stelle für Menschenrechte"

Neben instrumentalisiertem Leiden von Kindern und den Phrasen vom "Assad-Regime" und von den "Assad-Schergen" wurden dabei auch längst entlarvte "Institutionen" als "normale" Quellen dargestellt und weiter benutzt: etwa dubiose Einrichtungen wie die "Syrische Stelle für Menschenrechte" und enttarnte Propagandisten wie die "Weißhelme".  In diesem Zusammenhang sei nochmals auf den peinlichen Zwischenruf von Ulrike Simon auf horizont.net  verwiesen, in dem sie der Berliner Zeitung das Zitieren der staatlichen russischen Agentur TASS ankreidet, wie RT Deutsch beschrieben hat:

Auf die Idee muss man aber erst einmal kommen, in Interviews vom Streben nach 'faktenbasiertem Journalismus' zu palavern und dann die TASS als ganz normale Informationsquelle zu handhaben – und das auch noch ausgerechnet beim Thema Syrien.

Die Frage ist angesichts der Nutzung von "Bellingcat" oder den "Weißhelmen" durch große westliche Medien (etwa durch die Tagesthemen auch am Mittwoch wieder) viel eher, wie Ulrike Simon auf die Idee kommen kann, dass in diesen Medien "ausgerechnet beim Thema Syrien" seriös berichtet würde. Denn das ist ganz offensichtlich nicht der Fall, wie zahlreiche Beiträge aus dieser Woche erneut belegen, in der im ZDF, in der Rheinischen Post, im Stern oder bei n-TV die "bislang schlimmste Flüchtlingskrise" in Syrien beschworen wurde – als Reaktion auf das "Vorrücken" der syrischen Armee. Focus schreibt gar von "Syriens Zombie-Regime" und kündigt in einem weiteren Artikel an:

Wenn das Assad-Regime kommt, bedeutet das ein Massaker.

Auch in der Zeit wird bang gefragt: "Wird Assad sie alle umbringen lassen?"

Laut Bild-Zeitung plündern "Assad-Schergen Häuser der Vertriebenen" und "Aktivisten" dürfen dort "die Raubzüge der syrischen Soldaten" erklären. Und die Deutsche Welle behauptet:

Das syrische Regime, unterstützt durch russische Flugzeuge und pro-iranische Milizen, verfolgt in Idlib eine Strategie der verbrannten Erde. Hubschrauber werfen Fassbomben auf Krankenhäuser und Schulen, Märkte und Wohnhäuser. Große Siedlungen sind entvölkert und wurden zu Geisterstädten. Die unmissverständliche Botschaft lautet: Hier soll es künftig kein Leben mehr geben! Wie eine Walze treibt die syrische Kriegsmaschine Hunderttausende wehrlose Menschen vor sich her.

USA: Die große Verwirrung

Die Berichterstattungen über die USA sind ein steter Quell der Verzerrungen. Nach Jahrzehnten der monolithischen pro-transatlantischen Propaganda in (west-)deutschen Medien herrscht aktuell ein weniger übersichtlicher Zustand, der jedoch nicht vor Meinungsmache schützt. Versucht wird das mediale Kunststück, Donald Trump zu diffamieren, ohne dabei die transatlantischen Brücken nachhaltig zu beschädigen. Verbunden ist das mit einer ganz offenen Instrumentalisierung vieler Institutionen wie auch der Geheimdienste selbst. Dazu kommen bizarre Kampagnen wie jene zur "russischen Einmischung" in die US-Wahlen.

Zum letzten Punkt waren in dieser Woche widersprüchliche Berichte in großen deutschen Medien zu finden. Allerdings ziehen beide Sichtweisen eine russische Einmischung nicht in Zweifel – Uneinigkeit besteht nur darin, was oder wer die Ziele der angeblichen russischen Intrigen sein sollen. Die Süddeutsche Zeitung wischt alle Zweifel an einer "Einmischung" durch Russland zugunsten Donald Trumps in die letzte Wahl beiseite und stellt sie – ebenso wie eine künftige Einmischung – als einen Fakt dar:

Einem Bericht der New York Times zufolge mischt sich Russland auch 2020 wieder zu Gunsten Donald Trumps in den US-Wahlkampf ein. (…) Demnach wolle Russland sowohl in den Vorwahlen der Demokraten, als auch bei der Wahl im Herbst eine Rolle spielen. Dazu nutze das Land Kampagnen unter anderem auf Facebook und auf anderen Social-Media-Kanälen. Wegen der geänderten Regeln auf Facebook würden die Russen dieses Mal jedoch nicht vorgeben, US-Amerikaner zu sein, um ihre Botschaften unter die US-Bürger zu bringen.

Einen anderen Schwerpunkt legt die Zeit, die schreibt, Russland wolle durch eine Unterstützung für den  Demokraten Bernie Sanders Verwirrung stiften:

Russland will sich nach einem Medienbericht auch in den Wettbewerb der Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen Partei in den USA einmischen. Die Washington Post berichtet, US-Behördenvertreter hätten Senator Bernie Sanders darüber informiert, dass Russland versuche, seine Bewerbung zu unterstützen. Ziel sei es, den Wettbewerb der Demokraten zu stören.

Die "Kontaktschuld" der "russischen Agenten"

Naheliegend ist, dass die Medienberichte darauf abzielen, beide unliebsamen Kandidaten beider Seiten (Trump und Sanders) durch eine "Kontaktschuld" mit Russland gleichermaßen zu diskreditieren. Denn die Kriegspartei in den USA ist überparteilich – in beiden Parteien gibt es Kandidaten, denen das Establishment aus neoliberalen Falken gewogen ist. Trump und vor allem Sanders gehören anscheinend nicht zu diesem Kreis.

Sanders hat nun mit befremdlichen Äußerungen in Richtung Russland reagiert. Auch wenn man ihm unterstellen möchte, dass er damit nicht zuerst seine Meinung äußert, sondern sich eher wahltaktisch gegen eine Kampagne stellt, die ihn als "russischen Agenten" zeichnen will, so unterstreichen diese Einlassungen von Sanders doch den zwanghaften Charakter der politischen Landschaft in den USA. 

Und sie sollten zusätzliches Misstrauen auch gegenüber den teils schönen Worten von Politikern der Demokraten schüren. Das ist auch die Botschaft eines empfehlenswerten Interviews auf Consortium News, in dem ein Ex-Berater von Barack Obama, James Carden, etwa zur überparteilichen Kriegspartei sagt:

Zwischen den Neokonservativen und den liberalen Falken – das ist eine Unterscheidung ohne Unterschied. Und Sie sehen, dass die beiden kriegsfreudigen Flügel beider Parteien unsere Politik in der Trump-Ära geprägt haben. Die Neocons sehen in ihrem Spiegelbild liberale Falken wie Samantha Power und Susan Rice, und vor allem Hillary Clinton. Sie sind einfach verschiedene Seiten derselben Münze.

Auch der sich auf vielen Politikfeldern richtig äußernde Sanders ist nicht frei von diesen Zwängen, wie jüngste und frühere Äußerungen zu Russland zeigen. Carden ordnet das folgendermaßen ein:

Ich denke, ein Teil des Grundes, warum Sanders die Wir-gegen-die-Mentalität angenommen hat, liegt an seinen Beratern, die aus dem progressiven Aktivismus hervorgegangen sind, und wie wir gesehen haben, ist es im Moment bei diesen Leuten sehr in Mode  zu sagen: 'Nun, wir sind nicht für Kriege zum Regimewechsel, aber wir werden eine harte Linie gegen die globalen autoritären Führer wie Putin, Orbán und Xi einnehmen, weil sie unsere aufgeklärte Politik nicht teilen'. Es ist eine Art 'ernstes' Auftreten vor dem festgefügten außenpolitischen Establishment, von dem sie natürlich verzweifelt ein Teil sein wollen, das sie aber ihren Kollegen gegenüber auf Twitter nie zugeben werden.

Liberale Falken durch die Hintertür?

Aus diesem Grund wäre ein Sieg der Demokraten, auch unter der Führung eines zwar gutwilligen, aber wahrscheinlich höchst isolierten Sanders, laut Carden auch mit erheblichen Risiken verbunden:

Ich würde sagen, das ist es, was mich am meisten beunruhigt, wenn es um eine mögliche Präsidentschaft von Sanders geht. Es ist ein Weg, der es den liberalen Falken erlaubt, durch die Hintertür einzutreten.

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