Meinung

Hanau: Wut, Paranoia, Hass – eine neue Bluttat erschüttert die Republik

Ein neuer Massenmord erschüttert die Bundesrepublik. Bei der Bluttat im hessischen Hanau, ob man sie nun Amoklauf oder Terroranschlag nennen möchte, lag offenbar ein fremdenfeindliches Motiv vor. So viel lässt sich aus dem Bekennervideo und Bekennerschreiben erschließen.
Hanau: Wut, Paranoia, Hass – eine neue Bluttat erschüttert die RepublikQuelle: Reuters © Kai Pfaffenbach/Reuters

von Arkadi Shtaev

Die Verwerfungen der westlichen Welt

Wie immer werden Vereinsamung, psychische Erkrankungen sowie leichter Zugang zu Feuerwaffen (der Täter war Sportschütze) als Gründe benannt. Die explosive Mischung aus politischer Wut, Verschwörungswahn und Paranoia, die mit berechtigter Kritik an politischen Zuständen ihren Anfang nahm, welche solche Attentäter der letzten Jahre, ob in den USA, Norwegen, Neuseeland, Deutschland oder wo auch immer im Laufe der letzten Jahre zur Schau stellten, erscheint heute wie eine frühe Warnung angesichts der politischen Verwerfungen, denen sich die westliche Welt ausgesetzt sieht.

Der Rassismus auf dem Vormarsch? Ganz sicher. Ist das das Ventil für die Frustration Amerikas? Ist die Frustration berechtigt? Wer ist Schuld an dem Chaos? An einem Punkt, an dem die Welt erlebt, dass der Kommunismus als ein unvollkommenes System der Organisation von Menschen strauchelt, scheint auch die Demokratie denselben Weg zu gehen. Niemand sieht das große Bild.

Die Zeilen wurden nicht von einen Sozialwissenschaftler formuliert, diese Zeilen wurden auch nicht in den letzten Jahren formuliert. Diese Worte entstammen einem Artikel, erschienen bereits vor einem Vierteljahrhundert, im Jahr 1992, in einer amerikanischen Kleinstadt, irgendwo im Nirgendwo, in den daher sogenannten "Fly over States" – wie die Ost- und Westküsten-Eliten den Mittleren Westen ihrer von kontinentalen Ausmaßen geprägten Heimat allgemein bezeichnen. Geschrieben hatte sie ein junger Veteran des ersten Irakkrieges, der drei Jahre später weltweit eine schaurige Berühmtheit erlangen sollte, indem er am 19. April 1995 in Oklahoma City 168 seiner Landsleute ermordete. Die Rede ist von Timothy McVeigh.

Wut, Paranoia, Hass

Die leichte Zugänglichkeit zu Schusswaffen in den Vereinigten Staaten von Amerika trug dort schon immer zu einer Privatisierung jeglicher Gewalt bei, wie die regelmäßigen Massaker dort bis heute bedauerlicherweise demonstrieren. McVeigh entfaltete vor seiner Tat, nach der Rückkehr von den Schlachtfeldern am Persischen Golf, eine rege publizistische Aktivität in Form von kleinen Artikeln und Leserbriefen, das Internet war damals noch kein Massenmedium.

Seine Zeit als Soldat während des Golfkrieges, einer Phase, in der die USA wieder als große Sieger auf der Bühne der Weltgeschichte stolzierten, in welcher der US-Politologe Fukuyama vom "Ende der Geschichte" schwärmte, auf dass nur noch Demokratie und Marktwirtschaft den Lauf der Welt bestimmen würden, führte bei McVeigh zu einen Denkprozess, der einige seiner Analysen – das ist das Erstaunliche daran – klüger klingen lassen, als viele von gefeierten Experten, weil die sich heute längst als Fehlprognosen erwiesen haben.

Börsenkapitalismus und seine Folgen

McVeigh analysierte das Schicksal einer Mittelschicht in den USA, deren Einkommen stagniert und die sukzessive, ungewollt auf die "falsche" Seite einer neuen, in den USA ebenso wie Europa immer breiter werdenden sozialen Kluft rutschen, der Kluft zwischen den wohlhabenden Eliten und der breiten Masse.

1992 schrieb der spätere Massenmörder:

Der amerikanische Traum der Mittelklasse ist vollständig verschwunden, an seine Stelle sind Menschen getreten, die nur darum kämpfen, die Lebensmittel für die nächste Woche kaufen zu können. Und der Himmel möge verhindern, dass der Wagen kaputtgeht. Politiker untergraben den 'amerikanischen Traum' noch weiter, indem sie Gesetzte verabschieden, die eine rasche Reparatur bringen, in Wirklichkeit aber nur die Wiederwahl sichern.

McVeigh fehlten die analytischen Kenntnisse, um diese Phänomene mit dem Aufstieg des Turbokapitalismus in Verbindung zu bringen, der nach dem Untergang der Sowjetunion versuchte, die Welt nach seiner Nützlichkeit zu formen. Das beschleunigte eine Entwicklung, die die Bevölkerung von ihren Eliten entfremdete und die in der Wahl Donald Trumps, der sich als Anti-Establishment-Kandidat inszenierte, ohne es zu sein, ihren bisherigen Höhepunkt fand.

Er glitt schließlich ab, in die Fieberwelt der rechtsextremen Gruppierungen Amerikas, angereichert mit Phantasien von einem Leben in den amerikanischen Wäldern, wo das Leben einen endlosen Kampf darstellt, mit wilden Tieren und wilden Menschen, bis er sein Massaker begann. Über dieses Vorhaben schrieb er:

Die Zahl der Opfer müsste so hoch sein, dass die Regierung sie niemals vergessen würde. Es war dieselbe Taktik, die auch die amerikanische Regierung in bewaffneten internationalen Konflikten einsetzte, wenn sie eine Botschaft an Tyrannen und Despoten schicken wollte.

2001 begann ein neuer Lauf der Weltgeschichte

McVeigh wurde 2001 hingerichtet, just in jenem Jahr, in dem auch die Weltgeschichte in ein neues Fahrwasser gespült wurde. In jenem Jahr begann die US-Regierung den "War on Terror", nach den Terror-Anschlägen in Manhattan.

Die damals begonnene Entwicklung hat die globale Strahlkraft des "westlichen Modells" eingetrübt und in den Ländern des Westens selbst zu einer Revolte an den Wahlurnen geführt, die von Washington bis Prag die traditionellen politischen Systeme zertrümmert und neue Akteure an die Hebel in den Zentren der Macht setzte. Ihre Anziehungskraft verdanken Dschihadisten wie auch andere Demagogen einer tief empfunden Widersprüchlichkeit von Konzepten wie "Demokratie" und "Meinungsfreiheit", ein Gefühl, das sich in den letzten Jahren wahrlich global ausgebreitet hat.

Die Widersprüche und die Kosten eines entfesselten Turbokapitalismus, der die Dominanz des Geldes in allen gesellschaftlichen Bereichen diktiert, flankiert von der Kluft zwischen einer Elite, die von den Entwicklungen profitiert, und den Massen, die sich von den Versprechungen des Systems ausgeschlossen sehen, zeigen sich in Populismus und im Rückzug in eine verbitterte Brutalität. Dadurch entsteht eine Stimmung, flankiert von den ultramodernen Kommunikationsmitteln, die gefährlicher sein kann, als wir dies jemals erlebt haben.

Die westlichen Gesellschaften werden solchen tragischen Tendenzen nur entgegentreten können, wenn endlich wieder das Primat der Politik über die Wirtschaft errichtet wird und nicht umgekehrt, wie es heute leider Alltag ist.

Nein, Mordtaten wie die von Hanau sollten nicht politisch ausgeschlachtet werden. "Das ist die wahnhafte Tat eines Irren. Jede Form politischer Instrumentalisierung dieser schrecklichen Tat ist ein zynischer Fehlgriff", schrieb der AfD-Bundesprecher Jörg Meuthen. Damit hat er zweifelsohne Recht. Es wäre aber wünschenswert, wenn er selbst und seine Partei sich zukünftig daran halten würden.

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