Meinung

Der Jahreswirtschaftsbericht: Aufbruch in den Abgrund

Der Jahreswirtschaftsbericht zeigt, dass die Krise der EU im Bundeswirtschaftsministerium nicht verstanden wurde. Die dort vorgeschlagenen Instrumente werden daher auch nicht einer weiteren Integration der EU dienen, sondern das Auseinanderfallen befördern.
Der Jahreswirtschaftsbericht: Aufbruch in den AbgrundQuelle: Reuters © Michele Tantussi

von Gert Ewen Ungar

Ende Januar legte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) den Jahreswirtschaftsbericht vor. Überschrieben ist er mit "Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität stärken – in Deutschland und Europa". Im zweiten Halbjahr des Jahres 2020 übernimmt Deutschland die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union. Es lohnt sich also, im Hinblick auf die weitere Gestaltung der Europäischen Union einen Blick in den Wirtschaftsbericht zu werfen. Hat Deutschland aus der vergangenen Krise gelernt? Wird Deutschland Impulse setzen, die das weitere Zurückfallen insbesondere der Eurozone hinter die weltweite wirtschaftliche Entwicklung bremsen und uns aufholen lassen? 

"Die Europäische Union ist ein politisches und wirtschaftliches Erfolgsprojekt", informiert uns der Jahreswirtschaftsbericht im Kapitel über Europa einleitend. Das wirkt bereits etwas weltfremd. Während die Weltwirtschaft laut IWF 2019 um etwa drei Prozent gewachsen ist, wuchs die Wirtschaft der EU-Länder laut Statistischem Bundesamt um lediglich 1,3 Prozent, und die Währungsunion blieb dahinter noch mal zurück. Ihr Wachstum betrug lediglich 1,1 Prozent. Diese Schwäche hat einen Grund, und der Grund heißt Marktradikalismus.

Aber, so wird man vielleicht anmerken, die Eliten in Wirtschaft und Politik haben aus diesen ernüchternden Zahlen sicherlich die richtigen Schlüsse gezogen und justieren die Stellschrauben neu. Wer das hofft, wird von der weiteren Lektüre des Jahreswirtschaftsberichts enttäuscht sein, denn das ist leider nicht der Fall. 

Der Jahreswirtschaftsbericht setzt darauf, dass immer mehr von der falschen Medizin irgendwann doch die Heilung, sprich Wachstum und Wohlstand bringen wird. So verspricht die Bundesregierung, im Rahmen der Ratspräsidentschaft die Reform des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) voranzutreiben. Ein zentrales Element ist die Änderung in der Ausgestaltung der Staatsschuldtitel, also zum Beispiel von Staatsanleihen und Schatzbriefen. Künftig sollen sie mit einfacher Mehrheit der Gläubiger restrukturiert werden können. Hinter dieser Formulierung verbirgt sich der Staatsbankrott. Es bedeutet: Der Staatsbankrott soll einfacher eingeleitet werden können. Damit wird ein feuchter Traum marktradikaler, neoliberaler Ökonomen Wirklichkeit. Die im Euro versammelten Nationalstaaten werden immer mehr zu gewöhnlichen Marktteilnehmern. Normalerweise können Nationalstaaten in ihrer eigenen Währung niemals pleitegehen. Es ist offensichtlich ein zentrales Anliegen der Bundesregierung, genau dies zu ändern und ein höheres Maß an Unsicherheit zuzulassen. Mit dieser weiteren Erleichterung der Restrukturierung wird die Spekulation gegen Staaten gefördert. Das ist das genaue Gegenteil von Sicherheit und Stabilität. Es ist vor allem das Gegenteil von allgemeinem Wohlstand. 

Während ein Unternehmen, das sich am Markt nicht halten kann und pleitegeht, einfach weg ist und die Beschäftigten im Idealfall woanders eine Arbeit gefunden haben, sieht das bei Staaten anders aus. Wenn ein Staat pleitegeht, verschwindet er nicht von der Landkarte. Auch die Menschen, die den Staat bewohnen, sind immer noch da, nur jetzt großem ökonomischem Druck, hoher Arbeitslosigkeit, dem Zusammenbruch der staatlichen Sozialsysteme und zunehmender Armut ausgesetzt. 

Es ist daher völlig fragwürdig, warum so ein System überhaupt eingeführt und, ist es einmal eingeführt, dann auch noch verstärkt werden sollte. Genau das plant jedoch die Bundesregierung. 

Die Reform des ESM beinhaltet auch, dass künftig Staaten, die Mittel aus dem ESM anfordern müssen, ihre Schuldentragfähigkeit nachweisen müssen. Können sie es nicht, müssen sie zunächst Reformen durchführen, bis Schuldentragfähigkeit erreicht ist. Wer die EU kennt, weiß, was das Wort "Reform" in diesem Zusammenhang bedeutet: Sozialstandards senken, Renten kürzen, Verbrauchssteuern erhöhen. Unternehmenssteuern senken. Die "Reformen" der EU wirken krisenverstärkend und -verlängernd. Sie sind kein Mittel, eine Finanzkrise zu beenden. Künftig werden "Reformen" schon vor jedem Kredit durchzuführen sein. Bisher waren lediglich die Kredite selbst an die Durchführung von "Reformen" gebunden. Auch das ein weiterer Schritt zu mehr Unsicherheit und Instabilität in der Eurozone.

"Schuldentragfähigkeit" ist zudem ein recht vielseitig interpretierbarer Begriff, dem eine genaue Abgrenzung fehlt. Darüber entscheiden, wann Schuldentragfähigkeit erreicht ist, wird vermutlich ein Ministerrat bestehend aus den Finanzministern der Eurozone. Er wird zweifellos auch politisch gegen missliebige Regierungen eingesetzt werden. 

Schon hier wird deutlich: Die Währungsunion wird nicht stabiler und widerstandsfähiger. Im Gegenteil setzt sich Deutschland für Maßnahmen ein, die zukünftig Spekulationen gegen einzelne Mitgliedsländer der Eurozone fördern. Das, wodurch die Krise von 2008 ausgelöst wurde und Euroländer in die Zahlungsunfähigkeit getrieben wurden, soll nicht verhindert, sondern noch einmal verstärkt werden. 

Deutschland, so wird bei der Lektüre des Jahreswirtschaftsberichts deutlich, hat, was die EU angeht, nichts aus der Krise gelernt. Vielmehr lässt sich sogar sagen, Deutschland hat die Krise noch nicht einmal befriedigend analysiert und verstanden. Einer der grundlegenden Fehler in der Konstruktion des Euro ist, dass die im Euro versammelten Nationalstaaten zueinander in Konkurrenz gebracht werden. Allerdings sind Nationen keine Unternehmen. Sie produzieren nichts, das sich als Produkt oder im Herstellungsprozess optimieren lässt und wodurch sie dann einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren Konkurrenten hätten. Entsprechend ist zu erwarten, dass die Eurozone mit den von Deutschland geforderten und unterstützten Maßnahmen weiter destabilisiert wird. Die Verwerfungen werden zunehmen.
Aber zum Glück will sich Deutschland laut Jahreswirtschaftsbericht auch für die EU-weite Umsetzung der "Europäischen Säule sozialer Rechte" (ESSR) starkmachen.

Der Absatz zu den sozialen Rechten in Europa ist recht kurz geraten. Das hat einen Grund, denn die ESSR ist das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt wird. Wer dabei an so etwas wie einen Sozialstaat auf EU-Ebene denkt, wird nämlich erneut enttäuscht. Nach der ESSR gibt es ein Recht auf lebenslanges Lernen, um Übergänge im Arbeitsmarkt bewältigen zu können. Es geht um Gleichstellung und Chancengleichheit. Es geht um Unterstützung bei der Arbeitssuche. Es geht um "angemessene Entlohnung", ohne dabei festzulegen, was das ist. Es geht um das Recht, über die Rechte und Pflichten einer aufgenommenen Arbeit schriftlich informiert zu werden. In diesem Stil geht es weiter. 

Mit anderen Worten: Der Jahreswirtschaftsbericht macht deutlich, dass die Bundesregierung in Bezug auf die EU den eingeschlagenen Kurs beibehalten und den Marktradikalismus weiter vertiefen will und nicht gedenkt, die zwangsläufig daraus entstehenden Härten für die Bürger der EU in irgendeiner Weise sozial abzufangen. Der Jahreswirtschaftsbericht zeigt damit auch die Lernresistenz der deutschen Politik, die einen einmal eingeschlagenen Weg gegen jede Vernunft beibehält. Und das auch dann, wenn die Zeichen des Zerfalls deutlich sichtbar werden. So lässt sich auch formulieren: Deutschland wird sich in der Zeit seiner EU-Ratspräsidentschaft für einen weiteren ökonomischen und politischen Zerfall der EU und der Eurozone starkmachen. Das trifft den Kern viel besser als die beschwörenden Durchhalteformeln, mit denen der Jahreswirtschaftsbericht durchsetzt ist.

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