Gaddafis letzte Warnung
von Arkadi Shtaev
"Teneo te, Africa" ("Ich halte dich fest, Afrika") soll Julius Cäsar gesagt haben, als er erstmals seinen Fuß auf heute libyschen Boden setzte. Das war Ausdruck des Machtanspruches der damaligen westlichen Supermacht, des Römischen Reiches. Für den heutigen Westen – vor allem aber für Europa – scheint dieser Ausspruch keine Gültigkeit mehr zu haben. Im Gegenteil, "Ich halte dich von mir fern, Afrika", scheint dort das Motto unserer Tage zu sein. Dabei grenzt der Kontinent Afrika ja fast direkt an die EU, ist also unmittelbarer Bestandteil unseres geopolitischen Schicksals.
Daran ändert auch die sogenannte Libyen-Konferenz nichts, die kürzlich in Berlin abgehalten wurde und deren Verhandlungsergebnisse kaum umzusetzen sein dürften. In der Medienberichterstattung zur Konferenz wurde zumeist außen vor gelassen, wie es zu dem Bürgerkrieg in dem nordafrikanischen Land kommen konnte und welch verhängnisvolle Rolle der Westen dabei spielte.
Vor den Folgen der westlichen Politik hatte der libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi in einem Interview mit dem französischen Journal du Dimanche noch im Februar 2011 gewarnt – einen Monat bevor NATO-Staaten eine militärische Intervention zu seinem Sturz in Gang setzten, die das Land in Chaos und Bürgerkrieg versinken ließ.
Ihr sollt mich recht verstehen. Wenn ihr mich bedrängt und destabilisieren wollt, werdet ihr Verwirrung stiften, [Al-Qaida-Chef Osama] Bin Laden in die Hände spielen und bewaffnete Rebellenhaufen begünstigen. Folgendes wird sich ereignen: Ihr werdet von einer Immigrationswelle aus Afrika überschwemmt werden, die von Libyen aus nach Europa überschwappt. Es wird niemand mehr da sein, um sie aufzuhalten.
Als er diese Worte tätigte, konnte Gaddafi noch nicht ahnen, dass Osama bin Laden am 2. Mai 2011 von einer US-amerikanischen Sondereinheit auf pakistanischem Boden erschossen werden würde. Noch weniger war er sich wohl bewusst, dass er selbst im Oktober des gleichen Jahres als Flüchtling im eigenen Land ein grausames Ende finden würde.
Gaddafi wurde im Westen überschätzt
Das Zitat aus dem Interview soll nicht etwa dazu dienen, diesen Gewaltherrscher nachträglich rundweg zu legitimieren oder ihm gar einen Heiligenschein aufzusetzen, nur weil sich seine Vorhersagen als wahr erwiesen haben. Im Gegenteil: Gaddafi ist im Westen schon immer weit überschätzt worden. Er war nie ein großer arabischer Volksheld, als der er gern gegolten hätte. Ein paar einfältige Sensationsreporter konnte er mit seinen theatralischen Beduinenauftritten beeindrucken.
In den übrigen Staaten der arabisch-islamischen Welt wurde dieser unberechenbare Paranoiker als " mahbûl", als Verrückter, bezeichnet. Gaddafi mag für seine Untertanen ein weniger blutrünstig veranlagter Despot gewesen sein, als es Saddam Hussein im Irak war. Aber harmlos war dieser Autokrat nicht. Im Gegensatz zu Saddam Hussein, der die eigene Bevölkerung drangsalierte und zahllose Morde im Inland befahl, sich aber kaum als internationaler Terrorist betätigt hatte, unterstützte Gaddafi hingegen Verschwörer, Attentäter, Aufständische und Bombenleger weltweit – von Nordirland bis zu den südlichen Philippinen.
Libyen avancierte endgültig zum Schurkenstaat, als im Dezember 1988 über dem schottischen Städtchen Lockerbie eine Pan Am-Maschine explodierte, wobei 270 Menschen den Tod fanden. Ein Jahr später ereilte eine französische Linienmaschine über dem Niger das gleiche Schicksal. In beiden Fällen richtete sich der Verdacht gegen den libyschen Geheimdienst als Urheber der Anschläge. Durch die Zahlung von hohen Entschädigungssummen hatte sich Gaddafi damals noch freikaufen können.
Vom "bad guy" zum "good guy" des Westens im "Krieg gegen den Terror"
Die vom Westen damals verhängten Sanktionen konnten dem Führer der Volks-Dschamahirija, wie er das von ihm gegründete Staatswesens Libyens zu nennen pflegte, aufgrund des vorhandenen Ölreichtums nicht gefährlich werden. Gefährlich wurde es für Gaddafi allerdings, als der damalige US-Präsident George W. Bush seinen "Krieg gegen den Terror" startete. Gaddafi wusste, was ihm blühte, wenn er sich den neuen Weisungen Washingtons nicht unterordnen würde.
Geschickt passte er sich an, gestatte den Amerikanern verdächtige Produktionsstätten zu durchsuchen, um den Vorwurf zu entkräften, Libyen würde heimlich Massenvernichtungswaffen produzieren. Als er sich dann noch gegenüber dem Westen auf dem Gebiet der Erdölförderung äußerst entgegenkommend, gar unterwürfig zeigte, wurde aus dem "bad guy" über Nacht ein "good guy" – obwohl Gaddafi auf die Einführung von Demokratie und Menschenrechte verzichtete.
Dieser plötzliche Schmusekurs des Westens entlarvte nicht zum ersten Mal die heuchlerische Menschenrechtsdiplomatie, welche nur dann die Einhaltung dieser zweifelsohne edlen Prinzipien einfordert, wenn sich die betreffende Regierung den ökonomischen Interessen des Westens widersetzt. Zwischen Washington und Tripolis wurden die diplomatischen Beziehungen wieder etabliert und die Ölkonzerne aus den USA nahmen ihre Tätigkeit auf. Statt über diese Vorgänge den Mantel des Schweigens zu hüllen, entblödete sich die damalige US-Außenministerin Condoleezza Rice nicht zu erklären:
Libyen ist ein wichtiges Vorbild in einer Welt, die von den Regierungen Irans und Nordkoreas eine gründliche Umkehr erwartet.
Die Europäer, in Ermangelung eigener geopolitischer Zielsetzungen, folgten den diplomatischen Vorstößen der USA. Der britische Premierminister Tony Blair lobte Gaddafi als "soliden Partner des Westens". Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy bereitete Gaddafi in Paris einen triumphalen Empfang, was ihn einige Jahre später nicht davon abhalten sollte, bei der Ermordung seines damaligen Gastes, aufgrund der Einflüsterungen des Philosophen Bernard-Henri Lévy, aktiv behilflich zu sein.
Gaddafis Panafrikanismus machte Libyen zum Traumziel für die darbenden Massen der Sahelzone
Bei all diesen Rahmenbedingungen darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass es Gaddafi während seiner über 40-jährigen Herrschaft gelang, das traditionell – in Tripolitanien und die Kyrenaika – gespaltene Libyen zusammenzuhalten sowie den Lebensstandard und das Bildungsniveau seiner Bevölkerung dramatisch zu erhöhen. Gegen die radikalen Strömungen, die man heute als Salafismus bezeichnet und die überwiegend von Saudi-Arabien aus weltweit Verbreitung finden, holte er schon in den 1980er Jahren zu vernichtenden Schlägen aus, während der Westen engste Beziehungen mit Riad pflegte und pflegt.
Im Laufe der Jahre nahm Gaddafi eine geopolitische Neuorientierung vor, und der von ihm in früheren Zeiten gepredigte Panarabismus wich einem ebenso utopisch anmutenden Panafrikanismus. Libyen wurde zu einem Traumziel für die darbenden Massen der Sahelzone sowie zu einem der größten Einwanderungsländer der Welt, gemessen an seiner Bevölkerungszahl. Nach dem Sturz Gaddafis haben in Tripolis nicht Demokratie und Marktwirtschaft Einzug gehalten. Vielmehr hat sich dieses ehemals reichste Land der Region zu einem gescheiterten Staat entwickelt, in dem ein Bürgerkrieg tobt und der entlang seiner uralten Bruch- und Trennlinien zerborsten ist.
Der Sturz Gaddafis hat auch die Konflikte in der Subsahara angeheizt. Während Europas Freiheit angeblich am weit entfernten Hindukusch verteidigt wird, wie es ein deutscher Politiker einmal auszudrücken pflegte, ist in unmittelbarer Nähe unseres Kontinents, an den Ufern des Mittelmeeres ein massiver Krisenherd entstanden, der das Leben der Flüchtlinge gefährdet, die Zukunft Nordafrikas verspielt und Europas Sicherheit in Frage stellt.
Und was macht Bernard-Henri Lévy, der einst seinen Präsidenten zum militärischen Einsatz in Libyen erfolgreich aufforderte? In Libyen wurde er schon lange nicht mehr gesehen. Dafür beglückte er vor einiger Zeit noch die Ukraine mit seinen weltumspannenden Erlösungsideologien.
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