Meinung

Westen wohin? Unser politisches System benötigt eine Grundsanierung

Bei allen internen Konflikten, von denen der NATO-Gipfel in London zweifelsohne geprägt war, konnten sich die Mitgliedsstaaten in ihrer Abschlusserklärung immerhin darauf einigen, dass China als zukünftige "Herausforderung" gilt. Kein Zeichen der Stärke.
Westen wohin? Unser politisches System benötigt eine GrundsanierungQuelle: Reuters © Jason Lee

von Arkadi Shtaev

Zynisch kann man die Abschlusserklärung der NATO auch so umschreiben, dass die Organisation rund 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges nicht anders kann, als permanent neue Feindbilder zu produzieren, allein schon daher, die eigene Vorgehensweise und Aufrüstung zu rechtfertigen. Beispielsweise lässt sich am Umgang mit der Volksrepublik China dramatisch ablesen, in welchem Ausmaß den Europäern und Amerikanern das geschichtliche Bewusstsein verloren gegangen ist.

Diese an Sinophobie grenzende Abneigung, die immer wieder in der westlichen Berichterstattung über China zu erkennen ist, hängt wohl auch damit zusammen, dass Chinas Aufstieg irritiert und Ängste auslöst.

Westen im Niedergang?

Im Westen gerade auch dadurch, dass die Stärke der virtuellen Medien, aber auch der konventionellen Medien zu einer betrüblichen Nivellierung des Meinungsaustausches und der Informationsvermittlung geführt hat. Unter dem Druck der kollektiven Stimmungsmache, auch als Shitstorm bekannt, die den Politikern häufig mehr Angst einjagt als die wechselnden Stimmungen ihrer Wähler, könnte der klassische Parlamentarismus eines Tages ersticken oder in Formalismus erstarren, falls dieser Tag nicht schon eingetroffen ist. So viel scheint auf jeden Fall sicher: Den Bürgern in den angeblich freien Staaten der Welt wird künftig mit Misstrauen begegnet. Die politische Klasse scheint jene grenzenlose Kommunikation, die das Netz vermeintlich garantierte, heute eher zu fürchten als zu fördern.

Von den Postulaten, wonach sich virtuell Demokratie und Marktwirtschaft westlicher Prägung global verbreiten würden, scheint man inzwischen abgerückt. Aber: Aufgrund der heutigen Kommunikationsmöglichkeiten, von denen unsere unmittelbaren Vorfahren nicht zu träumen wagten, aufgrund einer subkutanen kulturellen Anpassung und Osmose, deren Ausmaß wir noch gar nicht abschätzen können, ist eine totale Kontrolle vonseiten staatlicher Stellen zukünftig nur schwer vorstellbar.

Die Kritik an unserem politischen System ist nicht neu. Schon im Jahr 1968 schrieb Sebastian Haffner, wahrlich kein Autor der extremen Linken oder Rechten, sondern ein Vertreter des bürgerlichen Liberalismus:

Nominell leben wir in einer Demokratie. Das heißt: Das Volk regiert sich selbst. Tatsächlich hat, wie jeder weiß, das Volk nicht den geringsten Einfluss auf die Regierung, weder in der großen Politik noch auch nur in solchen administrativen Alltagsfragen wie Mehrwertsteuer und Fahrpreiserhöhungen. Die Kluft zwischen Regierenden und Regierten, Obrigkeit und Untertan, Macht der wenigen und Ohnmacht der vielen ist in der Bundesrepublik, die sich als Demokratie bezeichnet, heute nicht geringer als etwa im Deutschen Kaiserreich, das sich offen als Obrigkeitsstaat verstand.

Sicherlich muss man dieser Einschätzung nicht zu 100 Prozent folgen, die Haffner vor fast einem halben Jahrhundert zu Papier brachte, aber der Vertrauensverlust bei den Wählern, ob begründet oder nicht, gegenüber den politischen Institutionen ist heute größer als damals. Man muss diese Aussage auf sich wirken lassen, wenn man der Frage nachgeht, ob diese Umstände eher den düsteren Visionen George Orwells ähneln, die er in seinem Werk "1984" entwarf, oder den Prophezeiungen eines Aldous Huxley, gemäß seinem Werk "Schöne neue Welt".

Huxly und/oder Orwell?

Der Soziologe Neil Postman beantwortete 1985, also lange vor dem Anbruch des Internetzeitalters, aber angesichts der damals schon fortschreitenden Spaßgesellschaft des Westens, diese Fragen wie folgt: Bezogen auf die damaligen Zustände in den USA schrieb Postman: "Orwells Prophezeiungen haben für Amerika kaum Bedeutung, diejenigen Huxleys freilich sind nahe daran, Wirklichkeit zu werden." George Orwell fürchtete den Staat, der als großer Bruder Bücher verbrennt, als Wahrheitsministerium die Wahrheit unterdrückt.

Aldous Huxley dagegen beschrieb die "Schöne neue Welt", in der die Menschen mit "Fühlfilmen" und "Zentrifugalbrummball" die Zeit totschlagen, eine Gesellschaft, der das Bücherlesen nicht verboten werden muss, weil sie keine Bücher mehr liest. Weiter heißt es: "An Huxley und nicht an Orwell sollten wir uns deshalb halten, wenn wir verstehen wollen, auf welche Weise das Fernsehen und andere Bildformen die Grundlage der freiheitlichen Demokratie, nämlich die Informationsfreiheit, bedrohen." Und er fragt: "Wer ist bereit, sich gegen den Ansturm der Zerstreuungen aufzulehnen? Bei wem führen wir Klage – wann? Und in welchem Tonfall, wenn sich der ernsthafte Diskurs in Gekicher auflöst? Welche Gegenmittel soll man einer Kultur verschreiben, die vom Gelächter aufgezehrt wird?"

Der belgische Historiker David Engels weist in seinem Buch "Auf dem Weg ins Imperium" darauf hin, dass die gesamte europäische Gesellschaft in eine tödliche Spirale eingetreten ist, in der aus kurzsichtigem Wettbewerbsdenken, Kasino-Kapitalismus und naiv-optimistischer "political correctness" notwendigerweise Frustration, Wirtschaftskrise, Fundamentalismus, Terrorismus, Populismus und schließlich unweigerlich der Sicherheitsstaat entstehen müssen. Hier liegt die Ursache des Problems. Wenn wir gewisse Freiheiten erhalten und ausbauen möchten, müssen wir die Herrschaft der Wirtschaft über die Politik, deren Folgen zu mehr Staat, zu mehr Überwachung führen, beenden. Daher benötigt unser politisches System eine Grundsanierung.

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