Meinung

Wolf frisst Wall Street – Wachsende Ungleichheit bedroht US-Wirtschaft

Die US-Wirtschaft boomt. Die Wall Street feiert Gewinnrekorde. Neue Jobs, niedrige Arbeitslosigkeit, prall gefüllte Konzernkassen. So die gängigen Kennzahlen. Die Kehrseite: Miese Arbeit und Entlohnung, die gesundheitsschädigend sind – für Wirtschaft und Gesellschaft.
Wolf frisst Wall Street – Wachsende Ungleichheit bedroht US-WirtschaftQuelle: AFP © Johannes EISELE

von Robert Bridge

Während die US-Börse weiterhin Rekorde setzt und die Wirtschaft Millionen neuer Arbeitsplätze schafft, sind viele US-Amerikaner gezwungen, sich mit schlecht bezahlten Arbeiten und mageren Beihilfen zufrieden zu geben. Wie lange kann eine solche Ungleichheit fortdauern?

Der Klang knallender Champagnerkorken wird zu dieser Weihnachtszeit in Manhattan widerhallen, da die US-Konzerne in ausgesprochener Feierlaune sind. Und das aus gutem Grund. Die Wall Street hat eine ihrer kräftigsten Gewinnphasen erlebt. Die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit 50 Jahren, während viele Unternehmen im Geld schwimmen. Doch, wie so oft in der zwielichtigen Welt der Wirtschaft und der Märkte, ist nicht alles so, wie es scheint.

Direkt unter der glänzenden Oberfläche der epischen Erfolgsgeschichte der Wall Street spielt sich eine nicht minder epische Tragödie ab: Millionen von Arbeitern hangeln sich im Stillen von einem Gehaltsscheck zum nächsten und tun, was sie können, um über die Runden zu kommen und ihre Familien durchzubringen. Die Zahlen sind alarmierend.

Nach Angaben der Brookings Institution fallen 53 Millionen US-Amerikaner im Alter von 18 bis 64 Jahren unter die Kategorie "Niedriglöhner". Ihr Stundenlohn beläuft sich auf rund 10,22 US-Dollar, während der mittlere Jahresverdienst 18.000 US-Dollar beträgt. Am erschreckendsten ist jedoch, dass diese Gruppe von Lohnempfängern satte 44 Prozent der gesamten US-Arbeitskräfte ausmacht.

Mit anderen Worten, es könnte etwas verfrüht sein, die Champagnerkorken ausgerechnet jetzt knallen zu lassen. Und es kommt noch dicker. Viele dieser Niedriglohnarbeiter sind nicht die klischeetypischen Teenager, die bei McDonald's Hamburger wenden, um sich Extra-Dollars für ihre Wochenendsausen zu verdienen. Tatsächlich sind die meisten derer, die in diese Kategorie fallen, Erwachsene in ihren "besten Arbeitsjahren", und ist schlecht bezahlte Arbeit die "hauptsächliche Art und Weise, wie sie sich selbst und ihre Familien unterhalten", so der Bericht.

Dies galt für die Mehrheit der Regionen in den Vereinigten Staaten, da die Studie Daten aus fast 400 Metropolregionen analysierte. Andere Untersuchungen stützen das Ergebnis der Studie.

Nach einer neuen Wirtschaftskennzahl namens "Job Quality Index" waren 63 Prozent aller seit 1990 geschaffenen Arbeitsplätze niedrig bezahlte Arbeitsplätze, viele von ihnen in Teilzeit. Heute hat der reale US-Durchschnittslohn, das heißt der nach Berücksichtigung der Inflation verbleibende Lohn, etwa die gleiche Kaufkraft wie vor 40 Jahren. Die Gewinne, die währenddessen von den Unternehmen erzielt wurden, gingen meist an die am höchsten bezahlten Führungskräfte.

Es gibt viele Gründe für diese extreme Ungleichheit, nicht zuletzt den Zusammenbruch der Gewerkschaften, die den Beschäftigten einst eine echte demokratische Stimme am Arbeitsplatz verliehen hatten. Schuld daran ist auch der jahrzehntelange Exodus von US-Unternehmen in andere Länder auf der ewigen Suche nach billigen Arbeitskräften und hohen Gewinnen.

Kurzum, es war diese Sorge über den Aderlass gut bezahlter Fertigungsjobs, von denen viele nach China und Mexiko entschwanden, die Donald Trump 2016 maßgeblich ins Weiße Haus beförderte. Als starker Mann der USA hat er versprochen, den Kurs der Globalisierung umzukehren und hierzulande wieder für die hohen Löhne von gestern zu sorgen. Der spezielle Populismus der Marke Trump ist dabei allerdings eine flüchtige Mischung aus Semi-Isolationismus und Brandstifter-Nationalismus, der darauf abzielt, "Amerika wieder groß zu machen". Der Art und Weise nach zu urteilen, wie sich der gegenwärtige Handelskrieg mit China entwickelt, kann es dem Manhattan-Tycoon freilich nur gelingen, die US-Wirtschaft zu versenken und so gleichzeitig den Rest der Weltwirtschaft mit nach unten zu reißen.

Im Hinblick auf die sinkenden US-Gehälter für immer unattraktivere Arbeitsplätze besteht hier – abgesehen von dem sehr realen Risiko zukünftiger sozialer Unruhen – die Gefahr, dass, wenn die Zahl der "Habenichtse" eine gewisse Größenordnung der Bevölkerung erreicht, die Gesundheit der ganzen Wirtschaft entsprechend zu leiden beginnt. Schließlich sind Arbeitnehmer nicht nur Arbeitnehmer. Sie sind auch Verbraucher, und als solche ein integraler Bestandteil jeder modernen Wirtschaft. Wenn ihre Arbeitsplätze immer weniger an Einkommen abwerfen, werden sie natürlich weniger konsumieren. Sodass sich dann eine veritable Gewitterfront am wirtschaftlichen Horizont zusammenbraut.

Zugleich müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass mehr als nur die Gesundheit der Wirtschaft gefährdet ist. Den jüngsten Daten zufolge scheint ein Überschuss an Niedriglohnarbeitsplätzen unmittelbar negative Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden des durchschnittlichen US-Amerikaners zu haben.

Laut einem Bericht, der diesen Monat vom National Center for Health Statistics veröffentlicht wurde, sank die Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten zwischen 2016 und 2017, maßgeblich infolge vorzeitiger Todesfälle durch Drogenkonsum und Selbstmorde. Der Abwärtstrend der letzten drei Jahre setzt sich damit fort. Heute können die US-Amerikaner damit rechnen, im Durchschnitt 78,6 Jahre zu leben. Das entspricht einem Rückgang von drei Zehntel eines Jahres seit 2014.

Wir leben in einem entwickelten Land mit einem ziemlich fortschrittlichen Gesundheitssystem und vielen Ressourcen, (...) und jetzt scheint es sich plötzlich umgekehrt zu haben", sagte Robert Anderson, Chef der Abteilung für Sterblichkeit am National Center for Health Statistics, gegenüber US News und World Report und nannte den Rückgang "beunruhigend".

Es lässt sich kaum glaubhaft argumentieren, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem psychischen und physischen Gesundheitszustand der Menschen und dem Geldbetrag gibt, den sie verdienen, um sich selbst und ihre Familien zu finanzieren. Die steigende Last dieser Kosten scheint zumindest teilweise für das Hereinbrechen von Drogenmissbrauch, häuslicher Gewalt und sogar Selbstmord in den USA verantwortlich zu sein.

Wie man diesen Niedriglohntrend in den Vereinigten Staaten umkehren kann, ist eine weitere Frage. Trump hat zwar recht, wenn es darum geht, US-amerikanische Produktionsstätten wiederzubeleben. Doch das ist ein riesiges Unterfangen, das nicht über Nacht oder möglicherweise gar nicht gelingen wird. In der Zwischenzeit ist eine mögliche Antwort die Anhebung des Mindestlohns oder höhere Steuern auf US-Unternehmen, um all denen hierzulande, die durch die Risse einer der mörderischsten kapitalistischen Gesellschaften fallen, mehr Unterstützung zu geben.

Wenn die Mehrheit der US-Amerikaner weiterhin als Wirtschaftsflüchtlinge im eigenen Land behandelt wird, fällt es schwer, sich auszumalen, wie die Händler und Investoren an der Wall Street auch künftig ihre Erfolgspartys mit hohen Boni inmitten von Champagnerströmen feiern können. Ja, einen Wolf of Wall Street gibt es. Dieser Wolf heißt Ungleichheit. Wenn die Wall Street will, dass er sie nicht auffrisst und die guten Zeiten für sie weitergehen, dann muss sie ihn zur Strecke bringen.

Robert Bridge ist ein US-amerikanischer Schriftsteller und Journalist. Der ehemalige Chefredakteur der Moscow News ist Autor des 2013 veröffentlichten Buches "Midnight in the American Empire".

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