Meinung

Deutschlands Skripal-Fall? Der Mord im Tiergarten und journalistische Schnellschüsse

Der Mord an einem Georgier in Berlin schlägt immer höhere Wellen. Manche Medien kennen bereits den Auftraggeber des Verbrechens: Moskau. Parallelen zum Skripal-Fall werden gezogen – doch dieser zeugt nicht von Moskaus Schuld, sondern von einem Mangel journalistischer Standards.
Deutschlands Skripal-Fall? Der Mord im Tiergarten und journalistische SchnellschüsseQuelle: www.globallookpress.com © Christian Ohde

von Sebastian Range

Spätestens mit der am Mittwochmittag erfolgten Ausweisung russischer Diplomaten hat sich der Mord an Selimchan Changoschwili zu einem internationalen Politikum entwickelt. Der 40 Jahre alte Tschetschene mit georgischer Staatsangehörigkeit wurde am 23. August im Kleinen Tiergarten in Berlin-Moabit erschossen. Changoschwili hatte im Tschetschenien-Krieg gegen Russland gekämpft und wurde hierzulande zeitweise als islamistischer Gefährder eingestuft. Kurz nach der Tat wurde der mutmaßliche Täter festgenommen, bei dem es sich laut russischem Reisepass um Vadim Sokolov handeln soll.

Doch das sei nur eine Scheinidentität, wie der Spiegel am Dienstag berichtete. Tatsächlich soll es sich um den "zuvor international gesuchten Mörder" Vadim Krasikov handeln, "der womöglich im Auftrag des Kreml handelte".

Was hier noch als Möglichkeit in Betracht gezogen wird, behandeln andere Medien bereits als erwiesene Tatsache. Während die Tagesschau noch fragt: "War es ein Auftragsmord aus dem kriminellen Milieu? Eine Fehde unter Kaukasiern? Oder gar ein Attentat im Auftrag des Kreml?", steht für den Tagesspiegel der Schuldige bereits fest, woran schon die Headline – "Der russische Staatsterror fordert Deutschland heraus" – keinen Zweifel lässt. Das Blatt schreibt:

Mit der brutalen Rache an Gegnern im Ausland nimmt Putin offenkundig diplomatische Verwerfungen in Kauf. Hauptsache, bei Überläufern und Oppositionellen kommt die Botschaft an: wir kriegen euch, auch in Deutschland. Das ist abenteuerliche Politik, sie zeugt von der Verachtung des Autokraten für den westlichen Rechtsstaat.

Deutschlands Skripal-Fall? Was das britische "Original" in Sachen rechtsstaatlicher Prinzipien lehrt

Die Bundesrepublik habe nun "offiziell einen Fall Skripal". Wenn der Tagesspiegel in diesem Zusammenhang von Rechtsstaat redet, dann entbehrt das nicht einer gewissen Ironie. Denn im Fall Skripal wurden rechtsstaatliche Prinzipien von vornherein missachtet, um Moskau beschuldigen zu können. Zu diesen zählen auch das Beweislastprinzip und die Unschuldsvermutung. Letztere haben übrigens auch und insbesondere Journalisten laut Pressekodex Ziffer 13 zu berücksichtigen.

Doch viele Mainstreammedien übernahmen kritiklos und ungeprüft die Anschuldigungen der britischen Regierung, so widersprüchlich sie auch waren. Für diese stand unmittelbar fest, dass der Kreml für den mutmaßlichen Anschlag mit der Chemiewaffe "Nowitschok" auf den ehemaligen russischen Doppelagenten Sergei Skripal und dessen Tochter Julia im März 2018 im englischen Salisbury verantwortlich war.

Der nun von Mainstreammedien wieder ins Spiel gebrachte Fall Skripal lässt sich geradezu als Paradebeispiel für eine tendenziöse, journalistischen Grundsätzen widersprechende Berichterstattung sogenannter Leitmedien anführen. Er zeugt auch davon, warum bei voreiligen Schuldzuweisungen Vorsicht geboten ist.

Grund genug, einige seiner wesentlichen Aspekte in Erinnerung zu rufen: London verzichtete seinerzeit – und bis heute – auf gängige Verfahrenswege, wie sie sich aus internationalem Recht und entsprechenden Abkommen ergeben. So hat die britische Regierung kein offizielles Verfahren gemäß dem Chemiewaffenübereinkommen eingeleitet und Russland damit Zugang zu den Ermittlungsergebnissen verwehrt. Moskau hingegen ist seinen Verpflichtungen aus dem Abkommen nachgekommen, seine Kooperationsbereitschaft wurde von London jedoch als "pervers" zurückgewiesen, wie die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages in einem Gutachten feststellten.

Im Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus dem Wiener Abkommen hat London der russischen Botschaft den konsularischen Zugang zu den beiden russischen Staatsbürgern Sergei und Julia Skripal verweigert.

Die britischen Strafverfolgungsbehörden haben auch keinen Auslieferungsantrag bezüglich der beiden von ihnen als Täter beschuldigten Russen gestellt und lehnen es ab, im Rahmen der Amtshilfe mit den russischen Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren. Diese können daher im Zusammenhang mit den Beschuldigten nicht tätig werden. Amtshilfeersuchen der russischen Generalsstaatsanwaltschaft im Fall Skripal gemäß der European Convention on Mutual Assistance in Criminal Matters von 1959 wurden von London abgewiesen.

Russland befindet sich somit in der Position eines Angeklagten, der aufgrund insgeheimer Ermittlungen – medial und politisch, nicht jedoch juristisch – verurteilt wird, ohne ihm Einsicht in die Ermittlungsakten zu gewähren.

Berlin macht mit: Schuldspruch ohne Beweise

Beweise blieb London nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit schuldig, sondern auch, so ein vom ARD-Geheimdienstexperten Michael Götschenberg verfasster Bericht der Tagesschau, gegenüber den eigenen Verbündeten, die Londons Beispiel gefolgt waren und russische Diplomaten en masse auswiesen.   

Demnach habe London der Bundesregierung "bis heute keine Beweise präsentiert, die belegen würden, dass Russland für den Giftanschlag auf den früheren Doppelagenten Sergei Skripal und seine Tochter verantwortlich ist. Darüber informierte die Bundesregierung gestern im geheim tagenden parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestages".

An anderer Stelle sagte Götschenberg:

Das Absurde an der ganzen Geschichte ist ja, dass die Briten, wenn sie nach Beweisen gefragt werden, mittlerweile sagen: 'Wenn 26 Staaten unserer Sicht auf die Dinge gefolgt sind, dann sind die Beweise doch wohl eindeutig.' Das heißt, es wird diese diplomatische Krise benutzt, um die fehlenden Beweise quasi wettzumachen. Und das ist schon ziemlich absurd.

Hinter "vorgehaltener Hand" bestätigten Bundestagsabgeordnete gegenüber RT Deutsch, dass London seinen Partnern keine Beweise offerierte. Während Berlin also "intern" von fehlenden Belegen sprach, beteiligte sich die Bundesregierung in der Öffentlichkeit dennoch weiter munter an der Beschuldigung Moskaus – schließlich gebe es ja "keine andere plausible Erklärung".

Zur selben Zeit, Anfang Juni 2018, als der nun von der Bundesregierung intern eingestandene Mangel an Beweisen an die Medien durchgesickert war, lautete die plakative Botschaft einer Spiegel-Titelstory: "Todesgrüße aus Moskau". Auch im Fall des erschossenen Georgiers war es das Hamburger Nachrichtenmagazin, das frühzeitig die Spur in den Kreml legte. Dass der Verdacht "schon kurz nach der Tat" auf Russland fiel, führt die Welt jetzt als Indiz "für eine Hinrichtung im Auftrag Moskaus" ins Feld. Ein logischer Zirkelschluss par excellence.

Skripal: Journalistische Sorgfaltspflicht über Bord geworfen

Auch was Skripal betrifft, fiel der Verdacht unverzüglich auf den Kreml. Doch vor dem Hintergrund, dass im Fall Skripal

  • rechtsstaatliche Prinzipien von London von Anbeginn missachtet wurden;  
  • aus britischen Ermittlerkreisen zahlreiche, einander widersprechende Tatversionen kolportiert wurden und auch die derzeit gültige Version zahlreiche Lücken und Widersprüche aufweist;
  • britische Regierungsvertreter die Öffentlichkeit in dieser Angelegenheit belogen haben – so behauptete der damalige Außenminister Boris Johnson, Chemiewaffenexperten hätten eine "russische Herkunft" des Giftes "absolut eindeutig" bestätigt;
  • die wichtigsten Zeugen – die Skripals – nicht zur Sache vernommen wurden beziehungsweise nichts dergleichen überliefert ist und diese auf unabsehbare Zeit "versteckt" werden;
  • die britische Regierung offenbar nicht gewillt ist, den Fall juristisch aufzuarbeiten; 

gebietet es die journalistische Sorgfaltspflicht, ein distanziertes Verhältnis zu den Aussagen Londons zu wahren. Doch dem war selten so.

Der Magnitski-Fall: Am Ende doch alles ganz anders

Ähnlich verhielt es sich im Fall des russischen Rechtsanwalts Sergei Magnitski, der angeblich 2009 in einem Moskauer Gefängnis zu Tode geprügelt wurde. Die Angelegenheit entwickelte sich zu einem internationalen Politikum: Im Jahr 2012 verabschiedete der US-Kongress den "Magnitsky Act", der Sanktionen gegen russische Beamte vorsieht – wegen der "Verletzung von Menschenrechten". Vier Jahre später folgte der "Global Magnitsky Act", der es der US-Regierung erlaubt, weltweit Personen wegen Menschenrechtsverletzungen zu sanktionieren. Der "Magnitsky Act" war der Auftakt und das Instrument der großen Welle antirussischer Sanktionen, die mit der Krimkrise 2014 einsetzte.

Der vermeintliche Mord an dem Juristen diente jahrelang der Dämonisierung Moskaus, offenbarte er doch "die Ruchlosigkeit des russischen Staates", weshalb er "einen Wendepunkt in den Beziehungen des Westens zum Kreml" markierte, so das im politischen und medialen Establishment gut vernetzte "Zentrum Liberale Moderne", das für antirussische Desinformation bekannt ist.

Doch im August stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass Magnitskis Verhaftung nicht willkürlich erfolgt und auch das Vorgehen der russischen Behörden nicht willkürlich gewesen sei. Der Gerichtshof sprach auch nicht von Folter oder Mord, wohl aber von schlechten Haftbedingungen und unzureichender medizinischer Versorgung, weshalb er Moskau zu einer Entschädigungszahlung an Magnitskis Angehörige verurteilte.

Es hätte aber nicht dieses Gerichtsurteils bedurft, um journalistische Vorsicht bei der Schuldzuweisung walten zu lassen. Denn die ganzen Anschuldigungen basierten auf den Aussagen eines einzigen Mannes, Bill Browder, den kürzlich der Spiegel als Scharlatan entlarvte.

Bevor das Hamburger Blatt an dieser Stelle mit Lob überschüttet wird, sei angemerkt, dass dieser Sachverhalt spätestens seit 2016 bekannt war. Damals hatte der russische Filmemacher Andrei Nekrassow in seinem Film "The Magnitsky Act. Behind the Scenes" die grundlegenden Widersprüche des Falls dargelegt. Ursprünglich wollte der Kremlkritiker in seinem Werk der Darstellung Browders folgen, doch er stieß bei der Recherche auf immer mehr Ungereimtheiten. Am Ende wurde aus seinem von Arte und dem ZDF koproduzierten Film eine gründliche Demontage des vorherrschenden Narrativs, das Russland an den Pranger stellte.

Doch die Doku wurde nicht ausgestrahlt, nachdem verschiedene Politiker intervenierten. Darunter die damalige Grünen-Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck, Mitbegründerin des "Zentrum Liberale Moderne". Der Fall Magnitski lehrt uns: Jahrelang Unwahrheiten zu verbreiten und Russland einen Mord auf völlig zweifelhafter Grundlage anzuhängen, ist für Mainstreammedien offenbar völlig unproblematisch. Wenn sich das aber alles als haltlos herausstellt, bricht dort das große Schweigen aus.  

Wer für den Mord an Changoschwili verantwortlich ist und was an den gegen Moskau erhobenen Vorwürfen dran ist, muss ermittelt werden. In einem Rechtsstaat werden Urteile aber erst nach Abschluss von Ermittlungen und dem Abwägen ihrer Ergebnisse in einem Gerichtsverfahren gefällt. Das sollten auch Journalisten beherzigen und auf politisch motivierte Schnell-Schuldsprüche verzichten, wie der Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt. 

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