Meinung

Der amifizierte Deutsche und Thanksgiving als Verherrlichung eines Völkermordes

Auch in Deutschland wird mit Thanksgiving zunehmend ein Fest gefeiert, von dem die wenigsten wissen, dass es einen millionenfachen Völkermord an Indigenen in den USA verherrlicht. Noam Chomsky nannte dies einst "die imperiale Mentalität westlicher Kultur".
Der amifizierte Deutsche und Thanksgiving als Verherrlichung eines VölkermordesQuelle: Reuters

von Timo Al-Farooq

Der vierte Donnerstag eines jeden Novembers ist kein guter Zeitpunkt, ein Truthahn zu sein: Vor allem nicht in den USA, aber zunehmend auch nicht in Deutschland. Denn dann ist wieder Thanksgiving: ein US-amerikanisches Fest, das Völkermord an den eigentlichen Amerikanern, den sogenannten "Native Americans", feiert, und das sich beim zweimaligen Völkermörder (bezieht sich auf den bis vor allzu langer Zeit komplett totgeschwiegenen deutschen Genozid an den Herero und Nama und den bekannteren an den Juden) aus Europa immer größerer Beliebtheit erfreut. Auch in meinem persönlichen deutschen Bekanntenkreis ist Thanksgiving urplötzlich zu einem ernst zu nehmendem Datum im inoffiziellen Feiertagskalender aufgestiegen.

Warum? Weil die meisten Leute hierzulande den eigentlichen Hintergrund dieses "Volksfestes" nicht kennen. Und natürlich wegen der insbesondere westdeutschen Abart, sich allem US-Amerikanischen kopfüber zu unterwerfen, sei es in der Politik oder eben im Esszimmer an einem in den USA gesetzlichen Feiertag, der keiner sein sollte. Dass die US-Amerikaner Völkermord zelebrieren, zeugt nicht nur von einem höchst ignoranten Geschichtsverständnis, sondern ist gleichzeitig Ausdruck dessen, was Noam Chomsky in einem anderen Zusammenhang als die "imperiale Mentalität westlicher Kultur" bezeichnete.

Die Bereitschaft, hierzulande Thanksgiving zu feiern, ist keine Anomalie, sondern Teil eines verstörenden Trends, Feieranlässe zu importieren, mit denen man kulturell nicht das Geringste zu tun hat und die "zufälligerweise" alle aus den USA stammen: Valentinstag, Halloween, santa-clausisierte Weihnachten und mittlerweile auch Thanksgiving, das so viel mit dem deutschen Erntedankfest zu tun hat wie alkoholfreies Bier mit einem Kater.

Vorbei scheinen die Zeiten, als man noch gegen Uncle Sams illegale und unmoralische Wüstenkriege zu Hunderttausenden demonstrierte, a cappella "Ami Go Home" und "No blood for oil" brüllte und dies auf Transparente und Häuserwände sprühte. Heute haben wir vor unseren eigenen postdemokratischen Dämonen kapituliert, die in 14 Jahren Merkelismus unsere Fähigkeit zum kritischen Denken und Handeln gänzlich abgetötet haben und machen anno 2019 wieder den Kotau vor den USA, unserem Befreier auf Lebenszeit. Auch in Form des Ärgernisses, dessen Schlüsselfeiertage zu feiern.

Weihnachten, sponsored by Coca-Cola

Ein wesentliches Merkmal dieser importierten US-Feiertage ist ja das Überschatten ihrer historischen Kernbedeutung durch Konsum und Kommerz. Somit werden traditionelle Festivitäten von "Hallmark holidays" abgelöst (benannt nach der US-amerikanischen Grußkartenfirma), an denen Big Business gigantische Umsätze macht und blinde Konsumenten tun, was der Kapitalismus und seine inhärente neoliberale Markt-und Wachstumslogik ihnen hervorragend beigebracht haben: unhinterfragt Geld auszugeben.

Somit wurde der Tag, der Sankt Valentin von Terni gedenkt, von allem kitschisiert, was auch nur annähernd nach einem Herzsymbol anmutet oder ostentative Romantik suggeriert, wie etwa Blumensträuße und belgische Schokolade (die eigentlich ivorische oder ghanaische Schokolade heißen sollte: der Kakao stammt schließlich nicht aus Wallonien, sondern aus Westafrika. Da ist sie wieder, Chomskys "imperiale Mentalität").

Die Wiederauferstehung Jesu wird bekanntlich mit massenproduzierten Schokihasen und bemalten Ostereiern gewürdigt. Halloween, eine ursprünglich keltische Tradition, ist heute der Heilige Gral der Süßwarenindustrie. Die strategische Nachnutzung Thanksgivings am darauffolgenden Black Friday, dem höchsten Feiertag im Kapitalismuskalender (sehr treffend benannt, werden doch an jenem Tag die dunkelsten Untiefen des Homo Oeconomicus freigelegt, wenn er sich frühmorgens mit Gleichgesinnten zu kaufrünstigen Mobs zusammenrauft und die Shopping Malls und Apple Stores stürmt), ist ein Geschenk des Himmels für den Einzelhandel.

Und last, but not least, dürfen wir die Geburt Jesu nicht vergessen, wo heute das Weihnachtskrippenspiel gefühlt von Coca-Cola-Lkw-Konvois plattgefahren wird, gesteuert von überzuckerten, fettbäuchigen grinsenden Santa Clauses. Von allen Dingen, die einem als "weihnachtlich" verkauft werden, ist ein koffeinhaltiges Brausegetränk mit einem Gehalt von neun Stücken Würfelzucker auf 0,25 Liter (Quelle: Coca-Cola Deutschland) wohl so ziemlich das Letzte, was man in Verbindung mit religiöser Besinnlichkeit bringen könnte. Aber in einer globalen Konsumgesellschaft sind die Grenzen des Absurden wohl niemals endgültig demarkiert.

Deutsch-amerikanisches Stockholm-Syndrom

Dass ein Volk wie die US-Amerikaner, welches sich kulturell von der Wiege bis zur Bahre vom Materialismus ernährt (und diese fragwürdige Errungenschaft auch noch erfolgreich in die große weite Welt exportiert hat), diese Feiertage und -anlässe auf diese Art begeht, ist nachvollziehbar, werden die Bürger des selbsternannten "Leader of the Free World" doch von plutokratischen Wirtschaftseliten und deren politischen Erfüllungsgehilfen in Washington handzahm regiert, die gemeinsam Ersteren die Ignoranz blinden Massenkonsums auch noch als "American Way of Life" verkaufen.

Wenn in Deutschland hingegen diesen kulturellen Modeerscheinungen nachgeeifert wird, ist dies lediglich bemitleidenswert. Doch hat unsere endlose Dankbarkeit und der (typisch deutsche?) Kadavergehorsam gegenüber den heute alles andere als Vereinigten Staaten, die uns in heutiger Darstellung beinahe im Alleingang vom Faschismus befreit haben sollen, dazu geführt, dass "Americana" mittlerweile unwiderruflich in unsere kulturelle und psychologische DNA hineinkodiert worden ist. Dabei sprechen schon die reinen Zahlen dagegen: Der sowjetische Anteil an der Niederschlagung der Nazis war weitaus größer: Zirka elf Millionen (!) sowjetische Soldaten verloren ihr Leben im Kampf gegen die deutschen Invasoren im Zweiten Weltkrieg, während die Zahl der gestorbenen US-Soldaten bei unter einer halben Million liegt. Einer von der Washington Post angeführten Schätzung nach kommen auf jeden im Kampf gegen das Deutsche Reich gefallenen US-Soldaten 80 sowjetische. 

Auch ist die freiwillige deutsche Unterwürfigkeit gegenüber US-amerikanischem Kulturimperialismus, egal in welcher albernen Form er sich manifestiert, ein trauriges Statement über unsere eigene Position innerhalb der Hierarchie einer globalistischen und multipolaren Weltordnung. Und diese ist, machen wir uns da nichts vor, eigentlich noch immer eine halbwegs intakte US-amerikanisch geprägte Weltordnung. Wir sind nichts weiter als "captive minds", ein Begriff aus der Postkolonialen Theorie, das Äquivalent zum indischen "brown sahib" oder zum schwarzen "Onkel Tom" aus den Südstaaten: Nützliche Idioten eines Hegemons, die ihre untergeordnete Stellung und ihren imperialen Kerkermeister lieben gelernt haben. Stockholm-Syndrom eben.

Dabei muss man kein Sozialromantiker sein, der Deutschlands "Platz an der Sonne" fordert: Schließlich müsste für den zweimaligen Völkermörder und zweimaligen Weltkriegsverzettler zwischen nationalistischer Großmannssucht und einem transatlantischen Schoßhündchendasein doch irgendwo ein gesundes und vor allem für den Weltfrieden ungefährliches geopolitisches Mittelmaß existieren?

Genozid ist geil

Was hat all das nun mit Thanksgiving und Völkermord zu tun? Viel. Denn während etwa die Begehung Halloweens unter humanistischen Gesichtspunkten harmlos ist, ist das Zelebrieren von Thanksgiving geradezu sadistisch. Denn es macht nichts anderes, als die Vertreibung von und den organisierten Massenmord an Native Americans zu verherrlichen. Im oft diskursrückständigen Deutschland, dessen Bild von indigenen Völkern Nordamerikas fast ausschließlich vom Orientalismus eines Karl May und der billigen kolonialrassistischen "Komik" von Kinofilmen à la "Der Schuh des Manitu" geprägt ist, werden die Indigenen ganz dem kolonialen Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts verpflichtet, nach wie vor als "Indianer" bezeichnet.  

Alli Joseph, Mitglied des Stammes der Shinnecock Indian Nation in Long Island, New York, führt zu Thanksgiving aus:

Thanksgiving erinnert uns an den Völkermord an Millionen unserer Brüder und Schwestern, an die Abschaffung unserer Kultur und Traditionen und an den Diebstahl unserer unberührten Länder.

Eine Anklage, die Amy Goodman, Mitbegründerin des Nachrichtenformats Democracy Now erweitert: Thanksgiving ist laut ihr nichts anderes als "eine großflächige Schönfärberei des kolonialen Völkermords an der indigenen Bevölkerung Nordamerikas."

Dass man überhaupt so ein schändliches Ereignis wie den Völkermord an der indigenen Bevölkerung Nordamerikas zelebrieren möchte, nicht etwa mahnend, sondern glorifizierend, hat mit etwas zu tun, was der Psychologe Yaacov Trope "psychologische Distanz" nennt: Je größer der Abstand zu einem Ereignis, ganz gleich ob geographisch oder zeitlich, desto abstrakter dessen geistiges Bild im menschlichen Hirn. 

Die Dalits Nordamerikas

Dass nun die US-Amerikaner diesen kolonialen Feiertag begehen, ist nicht verwunderlich: Schließlich sind die USA ein Land, in dem schwarze Menschen trotz Abschaffung der Sklaverei und Erlangung von Bürgerrechten nach wie vor oft als Freiwild für rassistische Polizisten und ein rassistisches Justizsystem sind und indigene Ureinwohner innerhalb des US-amerikanischen Kastensystems noch unter den untersten (Afroamerikanern und Muslimen) rangieren. Sie sind die Dalits (niedrigste Stufe innerhalb des indischen Kastensystems) Nordamerikas, systematisch entrechtet und entmenschlicht, auch symbolisch: Während das fiese N-Wort mittlerweile tabu ist und afroamerikanische Geschichte einmal im Jahr jeweils mit Black History Month und Martin Luther King Day gewürdigt wird, ist Columbus Day, zu Ehren eines der größten Völkermörder der Weltgeschichte, immer noch ein Bundesfeiertag und trägt ein bekanntes Team der National Football League noch immer den Namen "Washington Redskins" (Washingtoner Rothäute).

Wenn von den USA verblendete Deutsche jedoch anfangen, in ihrer scheinbaren Werkseinstellung freiwilliger Unterwürfigkeit im Rahmen einer nominellen transatlantischen Partnerschaft, die in Wirklichkeit nichts weiter als ein hierarchisches Machtverhältnis zwischen Kaiser und Knecht ist, mit Thanksgiving einen Drittstaatenvölkermord zu zelebrieren, dann ist das einfach nur peinlich.

Nach der Frage nach dem Warum werde ich folgenden Verdacht nicht los: Dass der von historischer Schuld gebeutelte Deutsche, Überbösewicht des 20. Jahrhunderts mit seinen zwei Völkermorden und zwei Weltkriegen eine Art überkompensierende Entlastung empfindet, nicht das alleinige Monopol auf die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte zu haben und auch mal einen Völkermord feiern zu können, den man selbst nicht begangen hat. Auch die Armenien-Resolution des deutschen Bundestages lässt sich auch vor diesem "Entlastungs-Hintergrund" deuten.

Und wenn ich Spaßbremse dann ankomme und dem auf dem US-amerikanischen Auge zumeist blinden Deutschen sein Thanksgiving madig mache, dann kann er mit erhobenen Händen und unschuldiger Miene verkünden: "Das waren wir doch gar nicht, das waren die Amerikaner! Wenn die das feiern dürfen, wieso nicht auch wir?" Nach dem Motto: Wenn sogar jemand mit dem Namen Hamed Abdel Samad findet, der Islam sei scheiße, dann muss ja was Wahres dran sein.

Wer nach dem Lesen dieser Zeilen immer noch meint, er müsse aus Anbiederung an eine militaristische und demokratiefeindliche Weltmacht – man betrachte beispielhaft die US-Interventionen in Guatemala, Chile und im Iran, wo demokratisch gewählte Regierungen vom selbsternannten Weltpolizisten gestürzt wurden – am US-amerikanischen Thanksgiving Day die durch "illegale Einwanderer" aus Europa initiierte blutige Geschichte und bittere Gegenwart von indigenen Amerikanern mit einem Festtagstruthahn verhöhnen, der soll sich eines fragen: Würde er die Vernichtung der europäischen Juden auch mit einem Spanferkel zelebrieren?

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