Meinung

Deutsch-russische Begegnungskultur und die "Leningrader" Sinfonie

Am 7. November gastiert im Großen Saal in der Stadthalle von Gütersloh erstmals das Philharmonische Orchester von Nowosibirsk auf Einladung des Forums Russische Kultur. Bereits am 4. November, am heutigen Montag, ist in Berlin der Film "Leningrader Sinfonie" zu sehen.
Deutsch-russische Begegnungskultur und die "Leningrader" SinfonieQuelle: Sputnik

von Felix Duček

Das Konzert in Gütersloh wird dirigiert von Thomas Sanderling, 77 Jahre alt, der selbst in Nowosibirsk geboren wurde, nämlich am 2. Oktober des Jahres 1942. Was hat das mit der "Leningrader" Sinfonie zu tun? Damals gab es dieses eigene Orchester in der Stadt nahe am Ostrand des Ural-Gebirges ja noch gar nicht. Jedoch war dorthin ein knappes Jahr zuvor – neben wichtigen Industriebetrieben – auch die Mehrzahl der Musiker des Leningrader Sinfonie-Orchesters evakuiert worden, vor der Belagerung Leningrads durch die Wehrmacht Hitlerdeutschlands gerettet. Auch sein Vater, Kurt Sanderling, war nun in Sicherheit. Und erstmals hörte Dmitri Schostakowitsch seine aus diesem Anlass entstandene, noch in Leningrad begonnene Sinfonie Nr. 7, die berühmte "Leningrader", unter der Leitung des erst 40-jährigen Chefdirigenten Jewgeni Alexandrowitsch Mrawinski.

Das war wenige Wochen vor der Geburt von Thomas Sanderling, am 9. Juli 1942. So kam zu dieser schweren Zeit in Nowosibirsk auch eine erste Begegnung zwischen Dmitri Schostakowitsch und Kurt Sanderling zustande, der seit kurzem – mit 29 Jahren – Co-Dirigent für Mrawinski beim nun evakuierten Leningrader Orchester geworden war. Damit begann in Nowosibirsk eine lebenslange Freundschaft zwischen Dmitri Schostakowitsch und Kurt Sanderling. Er hatte als exzellenter Korrepetitor in Berlin um 1930 Arbeit gefunden und musste 1935 in den Dolomiten als Jude von seiner Ausbürgerung aus Deutschland erfahren.

Daraufhin begann eine erste Irrfahrt zwischen Prag, Ostrau, Wien, St. Moritz, Genf, hin und her, um am Ende wenigstens noch lebend 1936 zu seinem Onkel nach Moskau reisen zu dürfen. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion und dem Beginn der deutschen Belagerung Leningrads war Kurt Sanderling nun mit seiner jungen Frau Nina Schey – allerdings erst nach nahezu aussichtslosen, entmutigenden Irrwegen – über Alma-Ata am Ende ebenfalls nach Nowosibirsk gekommen, wo dann Thomas als sein erster Sohn schließlich das Licht der Welt erblickte – in Sicherheit.

Nach dem siegreichen Ende der Belagerung und Blockade von Leningrad zog die Familie schon 1944 wieder nach Leningrad. Und Kurt Sanderling blieb dort, als inzwischen vom Orchester verehrter wie vom Chefdirigenten begehrter Co-Dirigent jener Leningrader Philharmoniker. Neben Jewgeni Alexandrowitsch Mrawinski wird er als Autodidakt im Dirigieren in der Sowjetunion zu einer legendären Dirigenten-Persönlichkeit, in dem großen Land vom Rang und Ruhm vergleichbar mit Furtwängler oder Karajan in Deutschland. Und sein Sohn Thomas wächst auf und begann seine Ausbildung mit der Violine an der Spezialschule des Leningrader Konservatoriums. Und dann nimmt Kurt Sanderling 1960 kurzerhand die Gelegenheit wahr und das Angebot der DDR an, nach Deutschland zurückkehren zu können, um Chefdirigent beim Berliner Sinfonie-Orchester in der Hauptstadt Berlin zu werden, sehr zum Leidwesen der Leningrader Philharmoniker.

Sein Sohn Thomas studiert nach seinem Abschluss an der Musikschule des Leningrader Konservatoriums weiter an der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" in Berlin, um ebenfalls Dirigent zu werden. Im Alter von 24 Jahren wird er musikalischer Leiter des Opernhauses Halle. Schon während dieser Zeit war er häufig Gast bei führenden Orchestern wie der Dresdner Staatskapelle und dem Leipziger Gewandhaus. Thomas Sanderling ist außerdem ein geschätzter Operndirigent. 1978 debütierte er an der Wiener Staatsoper, dann an der Bayerischen Staatsoper. Es folgte der Ruf als Ständiger Gastdirigent an die Deutsche Staatsoper Berlin von 1978 bis 1983, und er lässt sich 1983 in der Bundesrepublik Deutschland nieder. Thomas Sanderling war Assistent bei Herbert von Karajan und bei Leonard Bernstein. Seit 2009 hat er übrigens (wieder) die Russische Staatsbürgerschaft.

Damit verkörpern nur wenige Musikerfamilien die positiven Seiten der Geschichte deutsch-russischer Beziehungen so eindrücklich wie die Sanderlings. Und so ist es eine Gelegenheit mehr und ein gutes Zeichen in der heutigen Zeit, dass Thomas Sanderling nun in Deutschland – dank dem Forum Russische Kultur in Gütersloh – mit dem Konzert dazu beitragen kann, hoffentlich die zivilgesellschaftlichen Brücken zwischen Deutschen und Russen wieder sichtbarer, breiter und tragfähiger werden zu lassen. Seit 2002 ist er auch Gastdirigent des Sinfonieorchesters seiner Geburtsstadt und wurde 2017 dessen Chefdirigent.

Das Programm des Konzerts am 7. November wird unter seiner Leitung in Gütersloh ab 20 Uhr
- Ludwig van Beethoven: Ouvertüre zu "Coriolan" c-moll, op. 62,
- Felix Mendelssohn-Bartholdy: Violinkonzert e-moll, op. 64, mit der Solistin Lara Boschkor und
- Ludwig van Beethoven: 7. Symphonie A-Dur, op. 92
erklingen lassen.

Das heutige Philharmonische Orchester von Nowosibirsk wurde erst im Jahre 1956 von Arnold Katz gegründet, der es bis zu seinem Tode leitete. Er leistete somit eine beharrliche Aufbauarbeit, denn bereits ab 1970 unternahm auch dieses junge Orchester regelmäßig große Auslandstourneen, und die damalige Sowjetunion schickte nur das Beste vom Besten auf solche Reisen. Trotz zahlreicher Rufe – auch nach Moskau oder Leningrad – hatte Katz aber sein Orchester nie verlassen.

Zum Zeichen der großen Dankbarkeit wurde nach seinem Ableben 2007 der neu eröffnete Konzertsaal in Nowosibirsk 2013 nach ihm benannt. So hat sich das Orchester in den vielen Jahren seines Bestehens einen weltweiten Ruf als hervorragender russischer Klangkörper erspielt und steht heute auf einer Stufe mit den großen Orchestern von Moskau und dem heutigen Sankt Petersburg.

Eine weitere bemerkenswerte kulturelle Gelegenheit, sich der Deutsch-Russischen Geschichte und damit der so dringend nötigen besseren Verständigung zu nähern, gibt es heute Abend schon in Berlin.

Im "Montagskino" wird im КОНТАКТЫ-Domizil (Feurigstr. 68, unweit des S-Bahnhofs Julius-Leber-Brücke der S 1) am 4. November 2019 um 19 Uhr der Film "Leningrader Sinfonie" aus der UdSSR in deutscher Synchronisation zu sehen sein, der 1957 unter der Regie von Sachar Agranenko die Erstaufführung von Schostakowitschs berühmter 7. Sinfonie in Leningrad am 9. August 1942 nachempfinden lässt – fast ein Jahr nach dem Beginn der deutschen Belagerung am 8. September 1941. Der 95-minütige Schwarz-Weiß-Film war auf Deutsch erstmals in der DDR zum "Tag der Befreiung" am 8. Mai 1958 im Deutschen Fernsehfunk der DDR und am 23. November desselben Jahres in den Kinos gezeigt worden.

Der Spielfilm schildert die historischen Ereignisse bis zum Tag der Erstaufführung im belagerten Leningrad selbst. Dafür durchbricht im Sommer 1942 der Flieger Poljakow den deutschen Blockadering um Leningrad und bringt die Partitur von Schostakowitschs 7. Sinfonie ins Funkhaus. Das Radioorchester Leningrad hatte nur noch 16 Musiker, aber dennoch sollten die Menschen in Leningrad am 9. August unter dem Dirigenten Karl Eliasberg die Erstaufführung jener Sinfonie erleben können, die Dmitri Schostakowitsch schon auf dem Deckblatt der Partitur seiner Heimatstadt, und damit vor allem auch dem Heldenmut der Bewohner gewidmet hatte.

Die Uraufführung der Sinfonie hatte bereits fünf Monate früher als in Leningrad, nämlich am 5. März in Samara (im damaligen Kuibyschew), durch das dorthin evakuierte Moskauer Orchester des Bolschoi-Theaters unter der Leitung des Dirigenten Samuil Samosud stattgefunden. Die Erstaufführung in der sowjetischen Hauptstadt Moskau fand ebenfalls durch das dafür am 22. März aus Kuibyschew nach Moskau gefahrene Orchester des Bolschoi-Theaters unter Leitung von Samosud statt und wurde nun auch vom Rundfunk übertragen.

Am 29. März 1942 hatte Schostakowitsch selbst über diese Erstaufführung in Moskau auf Seite 3 in der Prawda berichtet und seine Ankündigung mit den Worten geendet:

Ich widme meine 7. Symphonie unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem unabwendbaren Sieg über den Feind, meiner Heimatstadt Leningrad.

Diese Moskauer Aufführung hatte unter ebenso lebensbedrohlichen Umständen stattgefunden wie die spätere in Leningrad, sie wurde auch während eines Fliegeralarms in Moskau nicht abgebrochen. Einen Monat vor der Aufführung in Leningrad, am 9. Juli 1942, hatte Jewgeni Mrawinski, im Beisein von Dmitri Schostakowitsch und ebenso von Kurt Sanderling als Co-Dirigent, die 7. Sinfonie mit dem Leningrader Sinfonieorchester erstmals in Nowosibirsk dirigiert. Übrigens war diese Darbietung unter der Leitung von Mrawinski eine seiner liebsten Interpretationen, wie der Komponist später bekundete.

Da hatte der Weltruhm des Werkes aber bereits begonnen, denn die Radioübertragungen in der Sowjetunion, die auch im Ausland empfangen werden konnten, hatten sehr bald den weltweiten Erfolg der "Leningrader" Sinfonie befördert. So kam es zu den Erstaufführungen durch Sir Henry Wood in London am 22. Juni 1942, genau ein Jahr nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, und auch zur ersten Aufführung in den Vereinigten Staaten von Amerika, die unter Leitung von Arturo Toscanini am 19. Juli 1942 mit dem NBC Symphony Orchestra in New York stattfand.

Die Rundfunkübertragung des Moskauer Konzerts hatte zufällig die sowjetische Botschafterin in Schweden, Alexandra Michailowna Kollontai, gehört, und sie hatte sofort aus Moskau die Partitur erbeten. Die gelangte auf Mikrofilm gebannt in den Iran und von dort weiter in die Welt hinaus. Allein in den USA bemühten sich fast ein Dutzend renommierte Dirigenten und Klangkörper händeringend mit Briefen an die sowjetische Botschaft und auf anderen Kanälen um das Recht zur Erstaufführung. Diese Ehre fiel zwar auf Arturo Toscanini in New York, aber es folgten allein in der Konzertsaison 1942/43 zweiundsechzig Aufführungen in Nordamerika.

Die Londoner Times hatte bereits am Tag nach der Uraufführung in Kuibyschew über das Werk berichtet. Auch die westlichen Verbündeten der Sowjetunion erachteten es offenbar als wichtig, im Sinne einer endlich zustande gekommenen Anti-Hitler-Koalition auch das Bild der "Bolschewiken" zu korrigieren, zu vermenschlichen. Man musste der Öffentlichkeit nun allmählich vermitteln, das gerade die Sowjetunion und die "Kommunisten" zusammen mit Amerikanern und Briten die hohen Werte der europäischen Kultur schätzten und gemeinsam in der Allianz vor dem deutschen Faschismus schützen wollten – und es auch konnten. Die westliche Arroganz hatte schließlich erst ermöglicht, dass dieser Weltkrieg solche Ausmaße erreichen konnte und hatte in der dortigen Boulevardpresse noch kürzlich den russischen  "Bolschewismus" als gottlosen Schurkenstaat verunglimpft.

Am Ende hatte wohl keine Sinfonie des 20. Jahrhunderts eine ähnliche Welle des Interesses bis zur Begeisterung weltweit hervorgerufen, wie die 7. Sinfonie von Schostakowitsch. "Eine Symphonie über die Menschen der Sowjetunion", "Schostakowitsch spricht nicht nur im Namen Großrusslands, sondern im Namen der ganzen Menschheit", "Sinfonie der Wut und des Kampfes", "Eroica unserer Tage" titelten damals begeisterte Kommentare in aller Welt.

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