Meinung

Das "perverse" Urteil gegen die Führer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung

Das Urteil des Obersten Gerichtshofes im Prozess gegen die Führer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung wirft grundlegende Fragen zum Zustand der spanischen Demokratie und Justiz auf. Verfahren und Urteil verletzen elementare demokratische und juristische Standards.
Das "perverse" Urteil gegen die Führer der katalanischen UnabhängigkeitsbewegungQuelle: Reuters

von Luis Gonzalo Segura

Schließlich haben sich die vor der Urteilsverkündung durchgesickerten Informationen bestätigt: Aufruhr – und keine Rebellion. Der Oberste Gerichtshof Spaniens (Tribunal Supremo) verurteilt die Führer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung wegen Aufruhrs, statt Rebellion – entgegen der jahrelangen Aufrechterhaltung dieser These durch die Staatsanwaltschaft. Doch die Strafen für Aufruhr sind ebenfalls alles andere als unbedeutend. Die Spanne variiert zwischen zwölf und 13 Jahren für diejenigen, die ebenfalls der Unterschlagung für schuldig befunden wurden – 13 Jahre für Oriol Junqueras sowie zwölf Jahre für Raül Romeva, Jordi Turull und Dolors Bassa – und neun und elf Jahre für diejenigen ohne diese zusätzliche Verurteilung – elf Jahre und sechs Monate für Carme Forcadell, zehn Jahre und sechs Monate für Josep Rull und Joaquim Forn und neun Jahre für Jordi Sànchez und Jordi Cuixart. Santi Vila, Meritxell Borràs und Carles Mundó wurden fast "freigesprochen", verurteilt wegen "Verletzung der Gehorsamspflicht im Amt", zu einem Jahr und acht Monaten des Verbots, öffentliche Ämter bekleiden zu können.

Darüber hinaus kommt der Oberste Gerichtshof dem Antrag des Generalstaatsanwalts nicht nach, den Verurteilten den Zugang zum offenen Strafvollzug erst nach Verbüßen der Hälfte des Strafmaßes zu gewähren.

Ein "perverses" Urteil, das demokratischen Werten widerspricht

Das Urteil steht im Widerspruch zu demokratischen Werten. Es ist undemokratisch, weil sie diejenigen, die friedlich Ungehorsam leisteten, wegen Aufruhrs verurteilt, was Spanien einmal mehr zu einem modernen autoritären Regime macht. Friedlicher Ungehorsam ist ein demokratisches Mittel und ein Land, in dem demokratische Mittel nicht eingesetzt werden können, kann schwerlich als Demokratie gelten.

Die Entscheidung ist auch deshalb pervers, weil sie zwar "nur" wegen Aufruhr verurteilt, doch der Prozess von Anfang an klar auf ein Urteil wegen Rebellion hin ausgerichtet war – mit allem, was diese "Ausrichtung" an Üblem beinhaltet (etwa die ungewöhnliche und verschärfte Untersuchungshaft bis zum Maximum von zwei Jahren). Weshalb diese Wendung? Weil es ein "salomonisches Urteil" ist, das enorme Vorteile bietet.

Die Vorteile des "salomonischen Urteils"

Erstens bietet es den falschen Eindruck einer Unparteilichkeit. Eine Art salomonische Entscheidung, denn sie liegt "auf halbem Weg" zwischen dem, was die reaktionärsten Stimmen gefordert hatten (Rebellion) und dem, was für einen Demokraten akzeptabel gewesen wäre (Ungehorsam). Nur ist dieser Mittelweg zwischen einem Reaktionären – der Mehrheit des "echten Spaniens" – und einem Demokraten – all den Spaniern, die die Kriterien der deutschen Justiz im "Fall Puigdemont" teilen (siehe unten) – bereits eine deutlich ungerechte Lösung aus offensichtlichen Gründen:

  • Der Mittelweg zwischen beiden liegt in jedem Falle außerhalb demokratischer Standards.
  • Diese Lösung stellt ultrarechte Reaktionäre und Demokraten auf die gleiche Stufe.

Es genügt jedoch, dass die Mehrheit der Spanier – die mehr als 15 Millionen Wähler der Sozialisten (PSOE), Konservativen (PP) und Rechtsliberalen (Cs) – mehr oder weniger zufrieden ist. Selbst unter den Anhängern der Letzteren, dem Produkt einer orchestrierten Kampagne politischen Marketings zu ihrer landesweiten Verbreitung [Cs war ursprünglich als regionale Partei beschränkt auf Katalonien, gegründet gegen den dortigen Nationalismus – Anm. Red.], wird es eine Stimmung geben, die je nach politischer Sensibilität zwischen Lauheit oder Gleichgültigkeit schwankt.

Zweitens bietet eine Verurteilung wegen Aufruhr dem spanischen Staat die Gelegenheit, das Bild einer Demokratie zu vermitteln, das bei Verurteilungen wegen Rebellion völlig unmöglich gewesen wäre. Niemand bei gesundem Menschenverstand hätte eine Verurteilung wegen Rebellion akzeptieren können. Tatsächlich hat die PSOE ein Video mit mehreren Persönlichkeiten – Vizepräsidentin Carmen Calvo und mehreren Ministern wie Pedro Duque, Nadia Calviño oder Josep Borrell – in mehreren Sprachen – Russisch, Englisch, Deutsch oder Französisch – veröffentlicht. Die Regierung und die Eliten Spaniens sind sich des realen Bildes des Landes in weiten Teilen der Welt durchaus bewusst. Sie hatten dieses Video geplant, um die Auswirkungen der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes auf den Rest der Welt abzufedern, wo ihre Medien nicht über die Einflussmöglichkeiten wie daheim verfügen.

Ein widersprüchliches Urteil

Das Urteil ist nicht nur unsinnig, illegal und unverhältnismäßig, es ist auch widersprüchlich. Es ist ein Widerspruch, den die spanischen Medien beharrlich ignoriert haben. Als sich die deutsche Justiz im Juli 2018 weigerte, Carles Puigdemont aufgrund einer Anklage wegen Rebellion auszuliefern, organisierten die spanischen Medien eine breite Kampagne, um das Offensichtliche und Lächerliche der Situation zu vertuschen: Es gab weder Rebellion noch Aufruhr. Nicht einmal Ungehorsam. Veruntreuung, und dies zur Genüge.

Das Ganze wurde dann à la española abgewickelt: Der internationale Haftbefehl wurde zurückgezogen, um nicht den Rest der Gefangenen nach den vom deutschen Gericht gesetzten Maßstäben zu behandeln. Fall erledigt. Was eine offensichtlich ungerechte Entschließung für die in Spanien Inhaftierten und eine klare Verletzung ihrer Rechte ist. Die allerdings auch nicht allzu viel Aufmerksamkeit erregt hatte, weil sich der Prozess nie als faires Gerichtsverfahren als solches, sondern als ein Gerichtsverfahren des Staates präsentiert hat.

Ein Gerichtsverfahren des Staates, das die spanische Justiz entblößt

Dieses Gerichtsverfahren des Staates ist ein Beleg für den Mangel an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der spanischen Justiz, Elemente, die – nicht zu vergessen – in jedem Rechtssystem eines demokratischen Landes unerlässlich sind. Spanien ist kein solches Land.

Der Prozess begann – wir erinnern uns – in der "Audiencia Nacional" [spanisches Sondergericht für die Verfolgung schwerer Straftaten – Anm. Red.]. Einer spanischen Eigentümlichkeit, die die Fortsetzung des "Gerichtshofs für öffentliche Ordnung" des Franco-Regimes darstellt und die Spanien nicht wirklich rechtfertigen konnte, als es mit der Aufnahme in die Europäische Union in den 1980er Jahren die spanische Justiz an die europäischen Standards anpassen musste. In Europa weiß man jedoch seit Jahrzehnten, dass Spanien keine vollständige Demokratie ist. Gleichwohl hatte diese Frage nie wirklich jemanden beschäftigt. Kommt es doch in dieser neoliberalen Welt auf das Geschäft an – und auf den Anschein. Und da es Spanien schließlich gelang, diesem Frankenstein der franquistischen Justiz einen gewissen demokratischen Anstrich zu verpassen, schluckte Europa die Kröte.

Wie und warum das Verfahren gegen den "Prozess der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung" [als "el procés catalán" bezeichnen die Separatisten den Weg bzw. Prozess zur Erlangung der Unabhängigkeit – Anm. Red.], beim Nationalen Sondergerichtshof [Audiencia Nacional] landete und von dort an den Obersten Gerichtshof übergeben wurde, ist eine weitere der Fragen, die kaum zu erklären sind, ohne zu verstehen, dass Spanien ein modernes autoritäres Regime ist. Die Frage der fehlenden gerichtlichen Zuständigkeit ist alles andere als unbedeutend. Sie stellt vielmehr eine weitere schwere Rechtsverletzung dar. Und diese Liste lässt sich beliebig fortführen.

Teil dieser Auflistung ist dann auch der Richter Manuel Marchena, Präsident der Zweiten Kammer des Obersten Gerichtshofs und vorsitzender Richter des Prozesses gegen den "procés". Er hätte von dem Verfahren abberufen und aus der Justizlaufbahn ausgeschlossen werden müssen. Allein weil er den elementaren Rechtsgrundsatz "Audiatur et altera pars"  ("Gehört werde auch der andere Teil") verletzt hatte, indem er zwar die Zeugenaussagen von Polizei und Zivilschutz zuließ, nicht jedoch entsprechende Videoaufnahmen, die während des am 1. Oktober 2017 organisierten Referendums gemacht wurden.

Die juristische Fragwürdigkeit dieses Vorgehens war derart offensichtlich, dass die Internationale Liga für Menschenrechte (FIDH) und das Menschenrechtsnetzwerk Europa-Mittelmeer (EuroMed Rights) einen Bericht vorgelegt haben, in dem sie das Verletzen des elementaren Rechtsprinzips der Anhörung der anderen Seite anprangern. Der Bericht betont auch, dass das Vorgehen der Unabhängigkeitsbefürworter friedlich war. Spannungen konnte man auf jeden Fall erkennen, aber keineswegs eine allgemein vorhandene Gewalt. Und als ob das nicht schon genug wäre, verurteilt der Bericht die Prozessführung "im militärischen Stil" ("organización de tipo militar") durch den vorsitzenden Richter, die gleichfalls eine "Verletzung der Rechte der Verteidigung" bedeutet.

Viele Spanier, deren Meinungsbildung von den vorherrschenden Medien verseucht ist, werden es zwar anders sehen, doch das Urteil offenbart in aller Deutlichkeit die gegenwärtige Realität in Spanien: Spanien ist ein modernes autoritäres Regime, dessen größte Anstrengung darin besteht, vorzugeben, eine Demokratie zu sein. Wenn es Schottland oder Kanada wäre, hätte es einem Referendum zugestimmt. Und wenn es Deutschland wäre, ginge es hier um kein anderes Verbrechen als Veruntreuung und Verletzung der Gehorsamspflicht von Amtsträgern.

Luis Gonzalo Segura ist Ex-Leutnant des spanischen Heeres. Er hatte Korruption, Amtsmissbrauch und anachronistische Privilegien in den Reihen der Streitkräfte angezeigt, was zu seiner Entlassung aus dem Militärdienst führte. Er ist Autor des Essays "El libro negro del Ejército español" (2017) sowie der Erzählungen "Un paso al frente" (2014) und "Código rojo" (2015).

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