Der Fall Magnitski – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte fällt bahnbrechendes Urteil
von Gert Ewen Ungar
Vorgeschichte
Sergei Magnitski war ein begabter russischer Rechtsanwalt, der für den britischen Investor William Browder arbeitete. Browder war in Russland aktiv, diente daher mit seinen Investitionen der russischen Wirtschaft. Magnitski entdeckte bei seiner Arbeit einen groß angelegten Korruptionsfall, in den auch staatliche Organe involviert waren.
Als ehrlicher, dem Gesetz und seinem Arbeitgeber loyal verpflichteter Mann brachte er den Fall zur Anzeige. Daraufhin wurde er selbst verhaftet, denn Russland ist ein zutiefst korruptes Land. Die Haftbedingungen waren unzulänglich. In der Haft wurde er gefoltert, und ihm wurde die medizinische Behandlung versagt. Nach knapp einem Jahr als politischer Gefangener verstarb Magnitski, da ihm die medizinische Versorgung verwehrt wurde. Das ist in groben Umrissen die Version, die Magnitskis ehemaliger Arbeitgeber William Browder nicht müde wird zu erzählen.
Seine Erzählung hatte weitreichende Konsequenzen, denn aus Sorge um die Menschenrechte und die Freiheit der russischen Bürger wurde unter der Regierung Obama der "Magnitsky Act" erlassen, mit dem die aus Sicht der US-Behörden am Fall Magnitski beteiligten Personen sanktioniert wurden. Der Magnitsky Act wurde ebenfalls unter Obama noch einmal verschärft und erlaubt es jetzt den USA, Verstöße gegen die Menschenrechte weltweit zu sanktionieren und den aus Sicht der US-Behörden daran Schuldigen die Einreise in die USA zu verweigern und deren Vermögen einzufrieren. Ein Schuldspruch, ein Gerichtsurteil und eine tatsächliche Beweisfindung sind dazu nicht notwendig.
Der Magnitsky Act ist damit so etwas wie die Preisgabe des Rechtsstaatsprinzips, eingesetzt auf Betreiben eines Finanzinvestors, was gleichsam die aktuellen Werte des Westens in prägnanter Weise versinnbildlicht. Wer Geld hat und über Einfluss verfügt, kann den Gesetzgebungsprozess in seinem Sinne steuern. Willkommen in der Willkür der Oligarchie.
Denn an der Geschichte von Browder ist nach rechtsstaatlichen Maßstäben nichts dran, wie jetzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit seinem Urteil gezeigt hat.
Hauptsache
Die Hinterbliebenen von Sergei Magnitski klagten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Anklage umfasste zahlreiche Punkte, die sich auch um die Haftbedingungen sowie die medizinische Versorgung während der Haft, um die Aufklärung der Todesumstände, vor allem aber um den Haftgrund selbst drehten.
Das Gericht gab den Klägern in zahlreichen Punkten recht. Die Haftbedingungen waren schlecht, die medizinische Versorgung unzureichend. Das Gericht hebt zwar hervor, dass die Untersuchung der Todesumstände durch die russischen Behörden sofort eingeleitet wurden, erkennt jedoch Mängel in der Durchführung.
In der Hauptsache allerdings gibt das Gericht in seinem Urteil den Klägern nicht recht. Die Inhaftierung Magnitskis folgte rechtsstaatlichen Prinzipien, denn es bestand der dringende Tatverdacht der Korruption, der Beihilfe zur Steuerhinterziehung und der Fluchtgefahr, da sich Magnitski kurz zuvor ein Visum und ein Flugticket besorgt hatte. Zudem war Magnitski entgegen der Darstellung Browders auch kein Rechtsanwalt, sondern ein einfacher Steuerberater. Den Hinterbliebenen wird dementsprechend auch nur die Summe von 34.000 Euro für entstandenen immateriellen Schaden zugesprochen.
Die Folgen
Der Fall Magnitski hatte weitreichende Folgen. Von den Sanktionen, die in diesem Zusammenhang gegen Russland erlassen wurden, wurde eingangs schon gesprochen. Für die einen, vor allem für die transatlantischen Hardliner, steht der Fall Magnitski emblematisch für das russische "Regime", für Korruption, staatliche Willkür und Unterdrückung. Als Referenz und einzige Quelle dient noch immer die Geschichte Browders. Diese bedient tatsächlich alle Negativ-Klischees, die es über Russland und sein politisches System gibt. Kratzt man allerdings etwas an der Oberfläche, wird man an der Geschichte zweifeln.
So erging es auch dem Regisseur Andrei Nekrassow, dessen Blick auf den Fall sich während der Dreharbeiten zu einem Film über die Vorgänge um Magnitski radikal änderte. Angetreten war der Putinkritiker Nekrassow mit der Absicht, den Fall Magnitski in einem Dokumentarfilm zu verarbeiten. Doch während Recherchen, welche die Dreharbeiten begleiteten, tauchten Fragen auf, die zu weiteren Fragen führten, die plötzlich den Blick auf eine ganz andere Geschichte freigaben. Browder war darin der korrupte Steuerhinterzieher, Magnitski sein Helfershelfer. Die russischen Behörden waren den beiden auf die Spur gekommen.
Browder entschloss sich zum Angriff als beste Form der Verteidigung überzugehen, drehte die Geschichte um, stilisierte sich und seinen Mitarbeiter zum Opfer russischer behördlicher Willkür. Er gründete zu diesem Zweck sogar eine Menschenrechtsorganisation. Die westlichen Entscheider in der Politik folgten der Geschichte Browders, ohne sie weiter infrage zu stellen oder gar zu überprüfen.
Jetzt liegt das Gerichtsurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vor.
Was als Nachricht dann im Mainstream völlig untergegangen ist: Das Gericht folgt im Hauptpunkt nicht den Argumenten der Kläger! Magnitski wurde von den russischen Behörden zu Recht festgehalten. Das Gericht moniert Dauer und Haftumstände, aber in der Hauptsache weist das Gericht die Anklage zurück. Die Geschichte, die zu Sanktionen gegen Russland und russische Bürger geführt hat, ist in ihrem Kern falsch. Doch werden die Sanktionen jetzt rückgängig gemacht?
Durch das Urteil sieht sich der Filmemacher Andrei Nekrassow gestärkt, der mit seinem Film "Magnitsky Act - Behind the Scenes" die Geschichte Browders infrage stellt. Mit seinem Urteil bestätigt das Gericht praktisch die Anklage gegen Browder, denn Magnitski und Browder wurden zusammen der Steuerhinterziehung angeklagt, teilt Andrei Nekrassow auf Anfrage mit.
Auf die Frage, warum der Mainstream zu diesem Urteil schweigt, verweist er auf den Umgang mit seinem Film. Man müsse frei von Vorurteilen und Angst sein, denn es gefährdet die Karriere, sich mit den Implikationen des Urteils auseinanderzusetzen, meint Nekrassow.
Niemand weiß das besser als er selbst. Sein Film, von ARTE und ZDF aus GEZ-Geldern mitfinanziert, unterliegt einer strengen Zensur, denn die Geschichte des Films stützt nicht Browders Version, die der Westen kritiklos übernommen hat. Die Anwälte Browders verhindern jede Veröffentlichung. Aber auch aus der Politik bekommt Browder Unterstützung. Es war die Grünen-Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck, die sich dafür eingesetzt hat, dass Nekrassows Film nicht gezeigt wird. Sie hat aktiv seine Premiere verhindert.
Marieluise Beck hat mit ihrem Mann Ralf Fücks inzwischen einen Thinktank gegründet, der sich mit Desinformationskampagnen explizit gegen Russland und jede deutsch-russische Verständigung richtet. Beck, die vor rigorosen Zensurmaßnahmen offenkundig nicht zurückschreckt, sieht in Russland unter anderem die Meinungs- und Pressefreiheit bedroht, obwohl die Presselandschaft dort viel breiter angelegt ist als in Deutschland. So viel Schizophrenie muss man sich außerhalb einer psychiatrischen Einrichtung erstmal leisten können.
Was allerdings keine Folge des Urteils sein wird, ist, dass die Sanktionen zurückgenommen werden. Das Urteil wird vom Mainstream nicht besprochen, wird auch von der Politik nicht aufgenommen. Mit anderen Worten: Rechtsprechung ist im Westen nicht mehr in der Lage, Fehlentwicklungen und Fehlentscheidungen zu korrigieren. Auch wenn die Behauptungen Browders keineswegs gerichtsfest sind, werden westliche Länder trotzdem an dem daraus resultierenden Sanktionsregime festhalten. Die Erzählung, das Narrativ, ist inzwischen wichtiger als alle Fakten. So lässt sich am Fall Magnitski auch ablesen, wie weit sich der Westen von seinen eigenen Werten entfernt hat.
Vielleicht sei noch ein Nachsatz zu den Haftbedingungen Magnitskis erlaubt. Magnitski wurde im Jahr 2008 inhaftiert und starb 2009 in Haft. Die Geschichte spielt gerade mal zehn Jahre nach dem Staatsbankrott der Russischen Föderation. Der Internationale Währungsfonds hatte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seine Kredite an Russland an Auflagen geknüpft, deren Umsetzung mit zum Bankrott beitrugen: Privatisierungen, Kürzung bei sozialen Programmen, Rückbau des Sozialstaates, Einschnitte in den Staatshaushalt, Einsparungen usw. usf.
Das, was der IWF in seiner ideologischen Stumpfheit eben so von seinen kreditnehmenden Ländern fordert. Der IWF trägt also definitiv eine Mitschuld an den Zuständen staatlicher Einrichtungen in Russland zu dieser Zeit. Gefängnisse sind staatliche Einrichtungen. Man kann ironisch anmerken: Hätte Russland beim IWF um einen Kredit nachgefragt, um die Haftbedingungen in russischen Gefängnissen zu verbessern, hätte der sicherlich eingewilligt, wenn im Gegenzug der Strafvollzug privatisiert würde. Dadurch wären die Haftbedingungen nicht besser geworden, es hätten damit aber Investoren wie Browder Geld verdienen können.
Mit anderen Worten: Die Haftbedingungen Magnitskis waren schlecht. Das ist den Umständen geschuldet, der Tatsache, dass Russland noch immer unter der neoliberalen Schocktherapie Jelzins und den damit verbundenen Machenschaften des IWF zu leiden hat. Nicht aber der angeblichen Tatsache, dass Russland seine Inhaftierten oder seine Oppositionellen per se einer unmenschlichen Behandlung aussetzt.
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