Meinung

Brexit: Die Spione Ihrer Majestät im Panikmodus (Teil 1)

Für die britischen Geheimdienste gleicht der Brexit einem Horrorszenario. Denn mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU verlieren diese einen wichtigen Einflusshebel, der in der jüngeren Vergangenheit vor allem dazu diente, die Gräben zu Russland zu vertiefen.
Brexit: Die Spione Ihrer Majestät im Panikmodus (Teil 1)Quelle: Reuters

von Jürgen Cain Külbel

(Teil 1 von 3)

Großbritanniens Geheimagenten-Bosse sind sauer und zwar auf ihren neuen und ungeliebten Premier, den Brexit-Durchpeitscher Boris Johnson. Als Zeichen, dass Johnson mit dem Brexit "ohne Wenn und Aber" am 31. Oktober 2019 ernst macht, will der in den nächsten Tagen schon mal britische Diplomaten aus diversen EU-Gremien abziehen. Rund 150 Londoner Beamte tummeln sich in Brüssel; darunter "sehr viele brillante", die, so der Premier, jetzt "Sitzung für Sitzung in Brüssel und Luxemburg feststecken", deren Talente, so glaubt Johnson, zu Hause allerdings besser aufgehoben wären. 

Auch das Talent des "Spezialisten" Sir Julian King, leitender Kommissar für die Sicherheitsunion der EU, steckt in Brüssel fest. Der Träger des Victoria-Ordens, ein gewiefter Bursche aus dem Stall des britischen Außenministeriums, Experte für NATO, UN-Sicherheitsrat, Außen- und Sicherheitspolitik der EU, hält dort (noch) alle Fäden in der Hand, die von größter Wichtigkeit für die britischen Dienste sind: Modernisierung der EU-weiten Datenbanken für Strafverfolgungszwecke, Bekämpfung von Desinformation und anderer Bedrohungen, Stärkung der Europäischen Grenz- und Küstenwache, Verbesserung des grenzübergreifenden Zugangs zu elektronischen Beweismitteln, Vorgehen gegen terroristische Inhalte im Internet, Fluggastdaten, Terrorismusbekämpfung, Cybersicherheit, Zugang zu Waffen, Geldwäsche ...

Der "Beamten"-Rückruf brachte Londons Spionagechefs dieser Tage vollends auf die Palme; schließlich stehen viele jener "Brillanten", die Johnson aus Brüssel abziehen will, längst auf ihren Gehaltslisten. Postwendend sah sich der britische Auslandsgeheimdienst MI6 gezwungen, zusätzliche Spione auf den Kontinent zu schicken, damit er seine Operationen in der EU aufrechterhalten kann. Denn: Die Stationen des Dienstes in Brüssel, Berlin und Paris sollen London einen Informations-Vorteil verschaffen in den Last-Minute-Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU; vor allem in Sachen Handelsabkommen. Eine Geheimdienstquelle echauffierte sich in der britischen Boulevardzeitung The Mail on Sunday über das Vorgehen des Dienstes:

Es war nicht hilfreich. Vielen meiner Kollegen wurde jetzt mitgeteilt, dass ihr Urlaub ab Anfang September abgesagt wird, um die Informationslücke zu schließen.

Die Auseinandersetzung zwischen den Geheimdiensten und Premier Johnson nahm vergangene Woche noch weiter an Schärfe zu, nachdem Tom Tugendhat, Vorsitzender des Commons Foreign Affairs Committee, einen Brief an Außenminister Dominic Raab veröffentlichte, in dem er sich gegen den Abzug der Londoner Diplomaten aussprach:

Diese (EU-) Treffen ermöglichen es uns, so weit wie möglich in das Denken der EU eingebunden zu sein und Entscheidungen zu beeinflussen. Diese (EU-) Gruppierungen können eine wertvolle Quelle der Unterstützung für das Vereinigte Königreich sein. Sie können Informationen liefern, die das Vereinigte Königreich zur Gestaltung der Ergebnisse verwenden kann.

Alain Winants, Chef des belgischen Geheimdienstes VSSE, gab dem EUobserver am 17. September 2012 eines seiner seltenen Interviews. Darin bezeichnete er Brüssel als "eine der großen Spionagehauptstädte der Welt". Durch den Sitz der NATO und der EU wurde die Stadt nicht nur zu einem bedeutenden Schauplatz der Weltpolitik, sondern auch zum Tummelplatz für Agenten aus aller Herren Länder, die dort nach militärischen, politischen und wirtschaftlichen Geheimnissen suchen. Winants schätzte die Anzahl der in Brüssel agierenden Spione auf "mehrere Hundert".

Die seien oftmals getarnt als Journalisten, Diplomaten, Studenten oder Lobbyisten, deren "Interesse" das gesamte politische Themenspektrum sowie die Energie-, Handels- bis hin zur Sicherheitspolitik "abdeckt". My two cents: Die Spione des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 spielen dieses Spiel nicht nur mit, sie treiben und führen es sogar an. Denn: Seziert man Tugendhats Brief an seinen Außenminister Raab, ergeben die verquasten Sätze des Vorsitzenden des Commons Foreign Affairs Committee und das zwischen den Zeilen Geschriebene den eigentlichen Sinn seiner Intervention: 

  • Insider berichten, dass die Zahl der besoldeten MI6-Mitarbeiter in den Behörden der Europäischen Union besonders hoch sei. Genaue Zahlen sind nicht bekannt – wie auch, schließlich handelt es sich um einen Geheimdienst –, doch weiß man, dass im Sommer 2005 allein in den Büros der EU-Kommission sechs MI6-Spione untergekommen waren.                                                                                              
  • Die Hauptaufgabe der Agenten, so berichteten MI6-Aussteiger, bestehe darin, Mitarbeiter der EU-Behörden zu bestechen, um britische Positionen innerhalb der Union durchsetzen zu können.

London als Spaltpilz in den Beziehungen zwischen Russland und der EU 

Genau das bestätigte im Juni 2008 ein russischer Sicherheitsexperte, der anonym bleiben wollte, auf Sputnik; er beteuerte, dass "die Briten nicht zufrieden sind mit der Tatsache, dass Russland einen konstruktiven Dialog mit den wichtigsten europäischen Hauptstädten unterhält, darunter Paris, Berlin und Rom".

Seiner Meinung nach hat London seit Langem versucht, seine Position in der Europäischen Union zu stärken, indem es britische Beamte in Schlüsselpositionen in die politischen Strukturen der EU versetzte und sich gleichzeitig den Hauptmechanismen der europäischen Integration widersetzte, einschließlich der gemeinsamen Währung, des freien Reisens und des Entwurfs einer europäischen Verfassung. Der Sicherheitsexperte sagte, London verfolge seine eigene politische Agenda und versuche, den europäischen Beamten ein System der Loyalitätskontrolle und ständigen Überwachung in den besten Traditionen des Kalten Krieges aufzuzwingen, um seine regionalen Interessen zu schützen und weitreichende Ambitionen zu fördern. 

Acht Jahre später, im Oktober 2016, ließ der ehemalige Chef des MI6, Sir John Sawers, die Katze aus dem Sack, als er der British Broadcasting Company (BBC) sagte, der Westen müsse erkennen, dass sich das Kräfteverhältnis in der Welt geändert hat, weil Russland und China mächtiger geworden seien als in der Vergangenheit.

Wir befinden uns in einer Ära, die genauso gefährlich, wenn nicht sogar gefährlicher ist als der Kalte Krieg, da wir uns nicht auf eine strategische Beziehung zwischen Moskau und Washington konzentrieren.

Im Jahr zuvor hatte der MI6 den russischen Staat bereits als einen "furchterregenden Gegner" definiert. Auch der britische Inlandsgeheimdienst MI5, der Aktivitäten feindlicher Staaten, Spionageabwehr etc. auf seiner Agenda hat, schob Russland in den letzten Jahren auf seiner Prioritätenliste weiter nach oben: "Sie arbeiten eindeutig an Risikoschwellen, die nicht mit denen des Westens vergleichbar sind."

Der Chef des MI5, Andrew Parker, lamentierte:

Seit dem (Brexit-) Referendum ist mein Leben schwieriger geworden, weil ich bei all unseren europäischen Partnern Zeit zur Beruhigung aufwenden muss, aber die Qualität dieser Beziehungen wird derzeit durch die Dunkelheit der Bedrohung und die damit verbundenen gemeinsamen Bedenken bestimmt. Die Hälfte Europas hat Angst vor Terrorismus und die andere Hälfte vor Russland, und beide Hälften möchten, dass wir ihnen helfen.

Als Katalysatoren für das Durchsetzen der antirussischen Position Londons in der EU dienen in der Gegenwart vor allem der von unbekannten Tätern verübte Giftanschlag auf den russischen MI6-Agenten Sergej Skripal, der von unbekannten Tätern verübte Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges MH17 über der Ukraine und die von unbekannten Tätern verübten vermeintlichen Chemiewaffenangriffe in Syrien, einem Verbündeten Moskaus. 

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Allen voran die Briten schieben diese Verbrechen mit politisch-medialem Radau Russland in die Schuhe. Entsprechende "Ermittlungen", die in den jeweiligen Fällen zum angeblichen "Täter" Russland führen, wurden von den britischen (und amerikanischen) Geheimdiensten clever ausgelagert – unqualifizierte Hilfswissenschaftler, in der forensischen Spiel- und Erlebniswelt Bellingcat organisiert, erledigen die Drecksarbeit, die der transatlantisch ausgerichtete (europäische) Mainstream gierig aufsaugt und brav rapportiert. Und fertig ist das Feindbild Russland! 

The Bryce-Report und Bellingcat 

Respekt muss man den Geheimdiensten schon zollen, denn billiger ist das kaum zu machen. Die Hilfswissenschaftler von Bellingcat – für den Autoren in der Tat Betrüger und Fälscher, die falsche Verdächtigungen aussprechen – werden hernach mit irgendwelchen Journalistenpreisen ausgezeichnet, die ihnen eine gewisse Bedeutung und Wertigkeit verleihen sollen, was sie letztendlich bereit zu weiteren "Aufgaben" macht. So einfach geht Geheimdienst. 

Und dabei sind die Briten überhaupt nicht mal erfinderisch, denn sie folgen einem uralten Konzept, dem "The Bryce Report on Alleged German Outrages", den das britische War Propaganda Bureau (WPB) 1915 veröffentlichte und der angebliche Gräueltaten der deutschen Armee im neutralen Belgien während des Ersten Weltkrieges schilderte. Selbstverständlich haben die Deutschen gewütet, doch der Bryce-Report, unter den seinerzeit namhafte Politiker, Historiker und Anwälte ihren Namen setzten, entbehrte jeder Grundlage. 

Behauptet wurde darin, dass die Deutschen in Belgien vorsätzlich und systematisch Massaker an der Zivilbevölkerung organisierten. Von der Tötung unschuldiger Zivilisten, von Vergewaltigungen, der Ermordung von Kindern, Plünderungen, Häuserverbrennungen und so weiter war die Rede; ergo: von einer exorbitanten Verletzung des Kriegsvölkerrechts durch Deutschland.

Der in 30 Sprachen übersetzte Bericht, der zu einem Preis von einem Penny unter die Leute gebracht wurde, enthält zudem reißerische "Fallbeispiele" wie die Vergewaltigung von 20 belgischen Mädchen durch deutsche Offiziere und Soldaten auf dem Marktplatz von Lüttich, das Aufspießen von Babys mittels Bajonett, das Herausschneiden von Augen oder das Abschneiden von Kinderhänden. Der Report subsumiert, die Misshandlung der Bevölkerung habe Höhen erreicht, die man nie zuvor in Kriegen zivilisierter Nationen sah. Doch all das war eine ungeheuerliche Fälschung – historische Untersuchungen fanden keinerlei Beweise für die Echtheit der Vorwürfe. In der Moderne wird der Bryce-Report der Propaganda zugeordnet. 

Das lässt uns daran erinnern, wie blitzschnell die "britische Position" in Sachen Skripal von den EU-Granden übernommen wurde: Im März 2018, wenige Tage nach dem Anschlag auf die Skripals in Salisbury, wiesen 15 EU-Staaten sowie die USA, Kanada und Australien Dutzende russische Diplomaten aus. Die Entscheidung sei "in enger Abstimmung innerhalb der Europäischen Union und mit NATO-Verbündeten gefallen".

Die EU-Staaten ließen keinen Zweifel daran, dass Russland für den Giftanschlag in Südengland verantwortlich sei, und verurteilten den Anschlag "in schärfster Weise". Der damalige britische Außenminister Boris Johnson kicherte sich einen über die "außergewöhnliche internationale Reaktion unserer Verbündeten", die zeige, dass Russland nicht straflos internationale Regeln brechen könne. Es handele sich um "die größte kollektive Ausweisung russischer Geheimdienstoffiziere, die jemals erfolgt ist". Londons "Brillante" in Brüssel hatten dort ganze Arbeit geleistet. 

Nachdem das britische Pseudoforensiker-Team Bellingcat dann auch noch die vermeintlichen russischen Täter präsentierte, schrieb der Spiegel: "Deutschland, Frankreich, Kanada und die USA haben sich hinter die jüngsten Erkenntnisse der britischen Ermittler (sic!) zum Giftanschlag auf den russischen Ex-Agenten Sergej Skripal gestellt. In einer gemeinsamen Erklärung der Staats- und Regierungschefs der vier Staaten sowie Großbritanniens hieß es, sie hätten 'volles Vertrauen in die britische Einschätzung', dass die beiden Tatverdächtigen Mitarbeiter des russischen Militärgeheimdienstes waren und 'dass diese Operation mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auf hoher Regierungsebene gebilligt wurde'."

Was wäre ein EU-Brüssel bloß ohne seine britischen "Brillanten"? 

Wie dem auch sei, Neil Basu, der Leiter der britischen Antiterroreinheit der Polizei, der für den Fall Skripal zuständig ist, distanzierte sich vor wenigen Wochen von all den Spekulationen und politischen Interessenlagen:

Wir sind Polizeibeamte, daher müssen wir Beweise suchen. Es gab eine riesige Menge an Spekulationen, wer verantwortlich ist, wer die Befehle gab, alles basierend auf dem Expertenwissen von Menschen über Russland. Ich brauche Beweise.

Mehr zum Thema - "Waren nur Spekulationen" - Scotland Yard findet keine Beweise für Putins Rolle im Fall Skripal 

Die britischen Geheimdienste samt ihrer Brüsseler "Brillanten" treibt nun die Angst um, dass ihnen nach erfolgtem Brexit und dem damit verbundenen Ausscheiden aus wichtigen Kommissionen der EU, vor allem durch den Verlust des Chefsessels in der Sicherheitsunion der EU, die schnelle Einflussnahme auf die europäische politische Meinungsbildung entgleitet. 

Noch mehr Sorgen machen sie sich jedoch um das von ihnen seit Jahrhunderten inständig gepflegte Feindbild Russland, das sie gerne gesamteuropäisch installiert gesehen hätten. Schließlich botdn die Wiederangliederung der Krim an Russland, der Abschuss des Passagierflugzeuges MH17, der Anschlag auf den russischen Ex-Spion Skripal sowie die Giftgasanschläge in Syrien genügend Zunder, den Russenhass künstlich anzuheizen und somit den Konflikt des NATO-Westens mit Russland weiter zu forcieren. Bisher waren es vor allem die Briten, die diesbezüglich in der EU die Kohlen nachlegten. Wenn dieses Feuer langsam erlischt, kühlt vielleicht auch so mancher hitzige Kopf wieder ab. 

Spiegel und Bellincgat basteln sich einen deutschen Fall Skripal

Vielleicht sind die britischen "Brillanten" aber auch gerade dabei, noch eine Schippe nachzulegen, um sich "unentbehrlich" zu machen: Am 23. August 2019 wurde der georgische Staatsbürger tschetschenischer Abstammung Selimchan Changoschwili im "Kleinen Tiergarten" in Berlin-Moabit durch Kopfschüsse exekutiert. "Sollte sich herausstellen, dass ein staatlicher Akteur wie Russland hinter der Tat steckt, haben wir einen zweiten Fall Skripal mit allen Konsequenzen", hieß es in Sicherheitskreisen, wie der Spiegel frohlockte. 

Das Hamburger Nachrichtenmagazin, das es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt (Relotius), "untersuchte" dann auch folgerichtig mit dem passenden "Partner", den Pseudo-Forensikern von Bellingcat, den Fall. Das Ergebnis war vorauszusehen: Ohne Scham verkündete der Spiegel am Freitag:

Im Fall des in Berlin ermordeten Georgiers Selimchan Changoschwili gibt es Hinweise auf eine mögliche Beteiligung russischer Geheimdienste. Wie Recherchen des Spiegel mit den Investigativnetzwerken Bellingcat und The Insider ergaben, reiste der Tatverdächtige vermutlich mit einer falschen Identität ein.

Die Spiegel-Schreiber und Bellingcat sind schneller als jede mir bekannte Mordkommission und liefern Täter wie beim Brezelbacken. Super. Wann klären Spiegel und Bellingcat den seit 131 Jahren ungelösten Fall "Jack the Ripper" auf? Ich schlage den kommenden Sonntag und einen russischen Täter im Auftrage von Putins Urgroßvater vor. 

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Teil 2 wird sich mit den Problemen befassen, die der Brexit den britischen Geheimdiensten MI5, MI6 und GCHQ bereitet.

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