Agitprop der Macht um Acht: Die Mär von Deutschlands humanitärer Außenpolitik

Erneut unterschlägt die Tagesschau in ihrer Berichterstattung wesentliche Fakten, um die Bundesregierung in einem guten Licht erscheinen zu lassen. Dieses Mal geht es um die Rückkehr von Kindern nach Deutschland, deren Eltern für den IS kämpften.
Agitprop der Macht um Acht: Die Mär von Deutschlands humanitärer AußenpolitikQuelle: www.globallookpress.com

von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Wir sind die Guten! Weiß doch jeder. Deutschland tritt weltweit für Frieden, Freiheit, Humanität und Rechtswahrung ein. Unser Außenminister Heiko Maas ist die menschgewordene Geradlinigkeit. Schaut, wie aufrecht er da steht und geht! Glaubt man dem regelmäßig in der Tagesschau nachgebeteten "DeutschlandTrend" der Umfrage-Fabrik Infratest dimap, dann führen Kanzlerin Merkel und ihr Minister Maas auf der Liste der beliebtesten deutschen Politiker mit Abstand. Entsprechend huldigt ihnen die Redaktion ARD-aktuell. Der Wahn ist nicht kurz, und von langer Reue kann keine Rede sein.

Die Tagesschau verleiht dem Maas seit Jahr und Tag die Aura des politisch Edelmütigen, betätigt sich beflissen als sein Mikrofonhalter und merkt es anscheinend nicht einmal, wenn sie sich dabei in einem Beitragsmix aus Studiotext und Filmreportage selbst widerlegt. So geschehen im Bericht über aus Syrien heimgeholte deutsche Kinder von IS-Dschihadisten. Macht doch nichts, das merkt ja niemand?

Irrtum. Kritischen Zuschauern – und deren Zahl wächst – ist es sehr wohl aufgefallen. Am 19. August meldete die Tagesschau unter dem Titel "Bemühungen der Bundesregierung: Kinder von IS-Anhängern in Syrien übergeben"es dürften nun drei Waisenkinder sowie ein weiteres schwerkrankes Kind endlich heimkehren. Es war eine dieser typischen Nachrichten im Ersten, zwar faktisch nicht falsch, jedoch dermaßen frisiert, dass es die Urteilsbildung der Zuschauer in die falsche Richtung lenkt.

Mit der Schlagzeile "Bemühungen der Bundesregierung ..." wird der Eindruck vermittelt, es sei dem warmherzigen Bestreben und intensiver Anstrengung des Kabinetts zu danken, dass nun wenigstens schon mal einige ("arme und wehrlose") Kinder aus unerträglichen kriegsbedingten Verhältnissen in einem kurdisch-syrischen Gefangenenlager ins vergleichsweise paradiesische Deutschland gerettet würden.

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Außenminister Heiko Maas darf die Verzerrung noch verstärken, indem ihn die Tagesschauer kritik- und distanzlos ins hingehaltene Mikrofon säuseln lassen:

Es ist sehr erfreulich, dass vier deutsche Kinder, die sich bisher in Nordsyrien in Gewahrsam befunden haben, heute das Land verlassen konnten. Wir werden uns dafür einsetzen, dass auch weitere Kinder Syrien verlassen können. (ebd.)

Dem schön kolorierten Bild von der guten Tat der deutschen Regierung widerspricht allerdings die zentrale Aussage des Films, der dem Beitrag beigefügt ist. In ungewöhnlich kritischer Tonlage wird darin gesagt, dass die Verhandlungen mit den Kurden "schwierig" und überhaupt erst auf "Druck der Großeltern aus Deutschland" vorangekommen seien. Ein weiteres Zitat:

Der Druck auf die deutsche Regierung steige, weitere Kinder aus Syrien zurückzunehmen. (ebd.)

Verhandlungen nur aufgrund gerichtlicher Schritte der Angehörigen und ihres "Drucks": Das klingt allerdings ganz anders als das Märchen von den löblichen Bemühungen der Bundesregierung, weitererzählt von der Hamburger Redaktion ARD-aktuell. Wir betrachten hier, auf Neudeutsch, Fake News, widerlegt in der eigenen Folgeberichterstattung. Das zarte Propagandagewebe hat eine kräftige Laufmasche.

Der Vorgang wirft zunächst die Frage auf, was denn eigentlich so schwierig daran ist, deutsche Kinder aus den kurdischen Gefangenenlagern heimzuholen, da doch die Kurden nichts lieber sähen, als die Verantwortung für sie und ihre Eltern loszuwerden. Wenn's also gar nicht die Kurden sind, die da Probleme machen, wer wohl dann?

Gleich kommen wir drauf. Zunächst eine Selbstverständlichkeit: Die Kinder können nichts dafür, dass sie Eltern haben, die dem IS angehörten. Es sind, so viel weiß man inzwischen, mindestens 117 Jungen und Mädchen. Das berichtete sogar die ARD-aktuell.

Bei der Suche nach weiteren Antworten stößt man auf Erstaunliches: Das Auswärtige Amt, geleitet von Heiko dem Großherzigen, "mauert" seit vielen Monaten. Er musste im Eilverfahren von einem niedersächsischen Richter dazu verdonnert werden, einer Mutter und ihren drei Kindern die Heimreise aus Syrien zu gestatten, ehe er endlich mal in die Gänge kam. Auch darüber informierte die ARD-aktuell. Allerdings nicht in ihrem Fernsehangebot, sondern nur verschämt in der unauffälligen Internet-Nische tagesschau.de:

In der Bundesregierung werden angesichts von zahlreichen weiteren Klagen von IS-Angehörigen und ihren Familien schon bald weitere Gerichtsentscheidungen erwartet. Trotz monatelanger (Hervorhebung d. V.) Diskussionen haben sich die beteiligten Ministerien bisher auf keine Linie einigen können, wie mit dieser Problematik umgegangen werden soll. (ebd.) 

Unter den "beteiligten Ministerien" sind mindestens das Innenministerium und das Außenministerium zu verstehen, auch das Justizministerium ist wohl tangiert. Mit "Problematik" ist gemeint, dass viele Kinder in den Lagern noch Eltern haben; mit deren Rückkehr jedoch haben die ministeriellen Bedenkenträger Schwierigkeiten. Sie fürchten den Reimport potenzieller Krimineller und hegen die Sorge, sich hierzulande mit Dschihadisten und Terroristen strafrechtlich aufwendig befassen zu müssen. Die "Linie" des Auswärtigen Amts im niedersächsischen Prozess war deshalb:

Die Kinder ja, die Mutter nein. (ebd.)

Jetzt haben wir's. Nicht die "Verhandlungen mit den Kurden" sind "schwierig", wie die Tagesschau behauptete, damit die Bundesregierung nicht gar zu schäbig dasteht. Sondern die regierungsinternen "monatelangen Diskussionen" werfen Probleme auf. Das hätte die Tagesschau zwar kühl und knapp so sagen müssen. Hat sie aber nicht. Erst der Einzelrichter machte dem Berliner Zoff ein Ende, wenn auch nur im konkreten Einzelfall: 

Gericht entscheidet heikle Grundsatzfrage nicht (ebd.)

steht da als holprig formulierter Zwischentitel im Text auf tagesschau.de. Als "heikle Grundsatzfrage" bezeichnen unsere regierungsfrommen Staatsfunker, was in dem Eilverfahren selbstverständlich nicht verhandelt worden war: dass nämlich einem deutschen Staatsbürger die Einreise nach Deutschland auch dann nicht verweigert werden darf, wenn er sich im Ausland strafbar gemacht hat. Unser Vorschlag an ARD-aktuell-Qualitätsschreiber:

Nachschlagen im Grundgesetzbuch hilft bei der Rechtsfindung und schützt euch vor heiklen Grundsatzfragen.

Wie ging das noch gleich in der hier besprochenen Fernseh-Tagesschau? O-Ton des Meisterdiplomaten Heiko Maas:

Es ist sehr erfreulich, dass vier deutsche Kinder (...) heute das Land verlassen konnten. Wir werden uns dafür einsetzen, dass auch weitere Kinder (...). (s. o.)

Im politischen Alltag mag Charakterlosigkeit als Norm gelten. Einen vor Eitelkeit platzenden Minister sich selbst darstellen zu lassen und ihn nicht auf die Unvereinbarkeit seiner großen Sprüche mit seiner politischen Praxis festzunageln, das zeigt: Normierte Charakterlosigkeit kennzeichnet mittlerweile auch den Tagesschau-Journalismus. 

Die Doppelbödigkeit der "Tagesschau"-Darstellung ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die Redaktion vermeiden wollte, den größten und beliebtesten Außenminister aller Zeiten und mit ihm die gesamte Bundesregierung in ungünstigem Licht erscheinen zu lassen. Das wäre der typische Reflex von glattgebügelten Konformisten, die sich für Journalisten halten, obwohl sie gar nicht anders können, als die herausgehobenen Subjekte in Parlament und Politik kritiklos in warmen Farben zu malen. Wenn sie im Zuge dieser Schönfärberei die Arbeit eigener kritischer Kollegen konterkarieren, die sich um korrekte Darstellung bemüht hatten: Macht doch nichts ... (s. o.).

Das Märchen – vulgo: Narrativ – von der guten und gerechten deutschen Außenpolitik wird mit Krampf immer wieder aufgesagt. Vieles, was an der deutschen Außenpolitik zu kritisieren und zu verurteilen wäre, wird verschleiert oder verschwindet in den Tagesschau-Kulissen:

Die Beteiligung der Bundeswehr am Abschlachten der Zivilbevölkerung im irakischen Mossul wird genauso verschwiegen wie die politische Unterstützung Berlins für den rechtsextrem-faschistoiden Bolsonaro und für die regierenden honduranischen und kolumbianischen Ultras. Über die Blutsäufer-Despotie Saudi-Arabien (Tagesschau-Jargon: "saudische Monarchie") wird zwar vermittelt, sie dürfe eigentlich keine Journalisten zu Tode foltern und zerstückeln, aber dass sie wieder deutsche Waffen bezieht, mit denen sie jemenitische Kinder massakriert, fällt unter den Tisch.

Israels Sicherheit ist bekanntlich deutsche Staatsräson; für die Tagesschau heißt das, Nachrichten über israelische Luftangriffe auf syrische und irakische Ziele immer wieder zu unterschlagen und ungezählte Völkerrechtsverletzungen Israels sowie die meisten seiner Verbrechen in den besetzten Teilen Palästinas einfach zu ignorieren.

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Neonazistische Banditen der Ukraine werden als Helden der Demokratie gefeiert, und gleichzeitig wird in Venezuela und Syrien mit menschenfeindlichen Sanktionen selbst Kindern und hilflosen Alten die Lebensgrundlage entzogen, ohne dass die Tagesschau es zum Dauerthema macht.

Umfassende Nachrichten über Waffenexporte an arabische Mörder-Regimes? Über Schmiergeld und politische Unterstützung für Weißhelmträger, die Kumpane von Dschihadisten? Über die Mittäterschaft der Bundesluftwaffe an dem US-Kriegsverbrechen im syrischen Deir ez-Zor? Über die Umtriebe deutscher Parteistiftungen in Lateinamerika? Pustekuchen.

Nicht zu reden von der Ignoranz, mit der die ARD-aktuell-Redaktion eine Politik kaschieren hilft, die Kanzlerin Merkel als "Fluchtursachen bekämpfen" ausgibt: Deutschlands Unterstützung für libysche Autokraten in Tripolis, damit sie die Flüchtlinge aus Schwarzafrika von Terrorkommandos abfangen lassen, sie in grausige, KZ-ähnliche Lager sperren und den Rest nach Ruanda abschieben – auf dass sie dort und nicht erst im Mittelmeer verrecken, was andauernd nur Ärger und Schlagzeilen macht.

Deutschlands Außenpolitik hat unleugbar eine mörderische Komponente. Wer diese Agenda vertreten kann, ohne sich davon anfressen zu lassen und einen Psychoknacks zu bekommen, der muss bis obenhin mit Selbstgerechtigkeit abgefüllt sein, sodass gar kein Platz mehr ist für normales Rechtsempfinden und Anstandsgefühl. Er braucht einen Moralkompass, der auf keinen Magnetpol mehr anspricht.

Die Liste deutscher außenpolitischer Widerwärtigkeiten ist ellenlang, und das journalistische Versagen angesichts der zahllosen Lumpereien scheint kein Ende zu finden. Unter dem Verlautbarungs-Deckel gehalten wird derzeit, dass bereits Planungen laufen, deutsches Militär als imperiale Schutztruppe wirtschaftlicher Interessen im Nahen Osten gegen den Iran aufzustellen. Es bleibt, wie so vieles, der Aufmerksamkeit der deutschen Bevölkerung vorenthalten.

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Ausführlich berichtet die Tagesschau hingegen über alles, was geeignet ist, deutsche Politik vor den Augen der eigenen Bevölkerung in ein güldenes Licht zu tauchen. Ökonomischer Erfolg (für Kapital und Konzerne) und globaler Humanitätsanspruch werden als Typik der guten deutschen Politik gefeiert.

Diese Praxis zeigt seit Jahrzehnten Wirkung. Die Außenminister zählen stets zu den beliebtesten Politikern. Das galt für den grünen Kriegshetzer und Lügner "Joschka" Fischer, den Ehrgeizling Steinmeier (der präsidiale Karriere machte trotz seiner fiesen Aktionen als Kanzleramtsminister und als Promoter der Hartz-Gesetze sowie der Zerstörung der gesetzlichen Rente) in gleichem Umfang, wie es für die großmäulige Fehlbesetzung Heiko Maas gilt.

Er rangiert sogar im "Politbarometer" des eher SPD-fernen ZDF-heute-journal derzeit auf Platz 3 der Beliebtheitsskala, obwohl gerade einmal die Hälfte der Bevölkerung "mit seiner Arbeit zufrieden" ist. Auf Platz 2 nach der Kanzlerin haben die fürs ZDF tätigen Demoskopen jetzt den Grünen Robert Habeck gesetzt. Es ist allerorten spürbar, wie erfolgreich die Fernsehnachrichten das deutsche Publikum davor bewahren, sich mutig des eigenen Verstandes zu bedienen.

Der journalistische Pfusch der ARD-aktuell zeigt sich auch an anderer Stelle der hier diskutierten Tagesschau (20 Uhr) vom 19. August 2019:   

Das räuberische Aufbringen und Entern des iranischen Tankers "Grace 1" am 4. Juli vor Gibraltar durch die britische Marine – London hatte sich dazu von den USA verleiten lassen – war tagelang Aufmacher in den Nachrichten weltweit. Kritisch wurde angemerkt, diese Missachtung aller internationalen Rechtsnormen sei dazu angetan, einen weiteren Krieg im Nahen Osten heraufzubeschwören.

Bei der Tagesschau begriff man das erst einmal nicht. Nach einer Woche kam die Redaktion dann zwar mit einer Story nieder. Aber darin ging es zunächst bloß um die Behauptung US-amerikanischer und britischer Militärs, die Iraner hätten ihrerseits einen britischen Tanker in der Straße von Hormus aggressiv behindert. Beweise dafür fehlten. Nur beiläufig und erst ganz am Schluss des Beitrages hörten die 10 Millionen deutschen Fernsehzuschauer, dass es eine Woche zuvor (!) in der Straße von Gibraltar den Vorfall mit der Grace 1 gegeben hatte.

Kritikwürdige, völkerrechtswidrige Politik des Westens marginalisieren und hinter einer deftigen Portion kritischer Scheininformation über angebliche Gegner verstecken: Das ist ein klassisches Propagandamodell ("Angriff ist die beste Verteidigung"). Die Tagesschau versuchte zwar, objektiv zu erscheinen, ihre gedrechselte, verkorkste Wortwahl und die Unterschlagung wichtiger Zusatzinformationen machten jedoch deutlich, dass der dreiste Akt der Piraterie gegen den Iran verharmlost werden sollte:

Im britischen Gibraltar wird der unter der Flagge Panamas fahrende Supertanker 'Grace 1' mit Öl aus dem Iran an die Kette gelegt.

Hunde legt man an die Kette. Schiffe hingegen, auch vermeintlich schuldhaft geführte, legen an und machen fest. Mit Leinen (Tauen), nicht Ketten. Klassisches Kommando: "Leinen los!" Klar doch, nur eine sprachliche Petitesse, aber signifikant: Die Hamburger Redaktion (räumlich wenige Kilometer entfernt von einem der größten Seehäfen Europas, stündlich legen dort Schiffe an) kupfert bloß mies formulierte Agenturtexte ab und denkt nicht selbst groß drüber nach.

Trotz der fraglos hohen geopolitischen Bedeutung kamen Freigabe und Weiterfahrt des Tankers am 19. August erst an letzter Stelle der Tagesschau-Nachrichten vor. War da überhaupt was gewesen? Journalistische Nebelwerferei:  

Der Tanker, der wochenlang vor der britischen Enklave Gibraltar festgehalten wurde, hat in der vergangenen Nacht wieder Fahrt aufgenommen. (...) Die Behörden Gibraltars hatten das Schiff Anfang Juli beschlagnahmt wegen des Verdachts auf illegale Öllieferungen an Syrien. 

Dargestellt wird damit nur der sichtbare Geschehensablauf. Auftragswidrig unterlässt es die Redaktion, einzuordnen, was hier Sache war: Entern und Aufbringen des Tankers sind demonstrative Rechtsbrüche, sowohl nach dem Völkerrecht als auch nach der Internationalen Seerechtskonvention, genauer: dem "Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen". Die Festnahme des Kapitäns und eines Offiziers des Tankers war auch strafrechtlich relevant: Freiheitsberaubung.

Gänzlich unterschlägt die Tagesschau, dass das Oberste Gericht der Kronkolonie Gibraltar und der Gouverneur des Ministaates die Courage hatten, sich gegen die imperialen Rechtsbrecher in Washington sowie deren ebenso kriminelle Vasallen in London und für die Geltung internationalen Rechts einzusetzen – für den Weltfrieden. Keine Selbstverständlichkeit! Wenn man ihren Mut mit dem Berliner Niveau vergleicht, kann das zum sofortigen Griff nach der Wodkaflasche verleiten.

Kritisch denken und vergleichen soll man eben nicht. Da sei die Tagesschau vor. Ihre wiederholte Behauptung, es habe der Verdacht einer "illegalen" Öllieferung an Syrien bestanden, pflanzte dem Zuschauer die Überzeugung ins Hirn, der Iran trage die Schuld an der kritischen Situation. Zur Herstellung dieses verqueren Urteils reicht es völlig aus, mehrmals von "Verdacht" zu reden, wo es allenfalls "Verdächtigung" heißen dürfte, oder "Bezichtigung". Ein feiner, aber entscheidender Unterschied: Der Verdacht basiert bekanntlich auf (mindestens) einem äußeren Anlass (sonst heißt er "haltloser Verdacht"), eine Verdächtigung hingegen kann man jederzeit völlig grundlos vom Stapel lassen. Haben wir es bei den Tagesschau-Redakteuren mit purer Unfähigkeit zu tun, sprachlich korrekt zu bleiben – oder mit der Absicht, per schräger Wortwahl unauffällig zu manipulieren?

Wäre es hilfreich, die Tagesschau-Redakteure und ihren Chef täglich vor der Arbeitsaufnahme 50 Kniebeugen machen und dazu jeweils den Satz aufsagen zu lassen: "Sprache ist der Schlüssel des Denkens"?

Die Sanktionspolitik der USA gegen den Iran und gegen Syrien ist imperialer Machtausdruck unter Bruch des Völkerrechts. Nichts anderes. Die Sanktionspolitik Deutschlands und der EU gegen Syrien ist nicht minder rechtswidrig, auch wenn die Propagandakompanie der Bundesregierung das vor der Presse bestreitet: Der mörderische Wirtschafts- und Finanzkrieg gegen Syrien ist weder durch Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats gedeckt, noch respektiert er die Prinzipien der UN-Charta. Es fehlt demnach jegliche Rechtsgrundlage, iranische Öllieferungen als "illegal", als ungesetzlich zu bezeichnen; gleichviel, ob das Öl nach Syrien oder zu einem anderen Empfänger gebracht werden soll.

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Was von Washington zum Gesetz gemacht werden kann, mag den Rest der Welt unter Druck setzen und eventuell einschüchtern, aber rechtlich bindend – "legal" – ist es außerhalb der USA nicht. Die schon per se völkerrechtswidrigen EU-Sanktionen gegen Syrien sind ebenfalls nicht einfach auf den Iran anwendbar. Dergestalt Drohpolitik zu betreiben heißt, die UN-Charta systematisch zu untergraben.

Daran hätte die Tagesschau erinnern müssen. Hat sie aber nicht.

Schädlich folgenreich ist ihr abwegiger Hinweis auf die angebliche Illegalität der Öllieferungen allemal: Je öfter man eine derartige Information hört oder liest, desto eher wird sie als "wahr" begriffen. Dieser Effekt ist so nachdrücklich, dass bestimmte Aussagen sogar dann als wahr im Gedächtnis bleiben, wenn sie nach einiger Zeit vom Urheber selbst als falsch deklariert worden waren. Der erste Eindruck ist entscheidend. Sollten ARD-aktuell-Journalisten das etwa nicht selbst ganz genau wissen?  

Die Vorstellung von einem illegalen Ölgeschäft wird auch mit der Folgeberichterstattung über den Tanker wach gehalten und verstärkt, nachdem der aus dem Hafen Gibraltar endlich wieder auslaufen konnte. ARD-aktuell meldet, dass das Schiff keinen griechischen Hafen ansteuern dürfe, dass sein Kurs überwacht und dass kontrolliert werde, ob es nicht doch einen syrischen Hafen anlaufe. Sie meldet nicht, dass dieses ebenfalls rechtswidrige Vorgehen gegen den Öltanker nur aufgrund kriminellen Drucks der USA vonstatten gehen kann.

Zu den schändlichen Versäumnissen der ARD-aktuell-Redaktion zählt, dass sie die Rechtswidrigkeit des Piratenakts vor Gibraltar konsequent ignorierte. Die Beschlagnahme der Grace 1 am 4. Juli durch ein britisches Marinekommando in der Straße von Gibraltar finde

keine Rechtsgrundlage im Seevölkerrecht,

heißt es in einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, das von der Fraktion "Die Linke" beantragt worden war. Spätestens darüber hätte berichtet werden müssen. Aber die Tagesschau verschwieg es. Wen wundert das noch? Die Qualitätsjournaille huldigt dem Rechtsnihilismus. Sie macht sich darin mit der Bundesregierung gemein. In schamloser Kumpanei ignorieren beide, Regierung und Tagesschau, das Rechtsgutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages. Die arrogante Art, wie der Sprecher des Außenministers in der Bundespressekonferenz nicht zum ersten Mal Fragen nach der Völkerrechtskonformität abzubügeln versucht, sagt alles.

Das passierte innerhalb der vergangenen elf Monate nun schon zum dritten Mal. Die Juristen des Bundestages bescheinigen der Bundesregierung völkerrechtswidriges Handeln (Syrien, Venezuela und nunmehr im Zusammenhang mit der Grace 1). Kanzlerin und Minister kümmert's nicht.

Und die ARD-aktuell? Ihre Bezugnahme auf das Völkerrecht findet ebenso wie die einseitige Nachrichtenauswahl und -gestaltung nach Schema F statt: Es wird nur dann ein Rechtsbruch reklamiert, wenn er den "Bösen" zugeschrieben werden kann, ob nun begründet oder nicht ("Annexion" der Krim!) Dass sich die "westliche Wertegemeinschaft" selbst einen Dreck um internationale Rechtsnormen schert (Jugoslawien, Irak, Venezuela, Syrien, Iran, Jemen, Libyen usw. usf.), und zwar gewohnheitsmäßig und Tag für Tag, ist dem Hamburger Qualitätsladen nicht mal ein müdes Schulterzucken wert.

Bitte gedanklich Schutzkleidung anlegen, liebe Leser, auch die Brille nicht vergessen: ARD-aktuell wird unweigerlich und schon in wenigen Tagen die nächste Meinungsumfrage abfeuern. Ein neuerlicher audiovisueller Angriff auf die geistige Integrität des Publikums steht bevor. Wir wollen uns vor Augen halten: Heiko Maas ist so beliebt (s. Anm. 1), weil ungezählte Befragungsopfer der Demoskopen keinen Dunst von ihm und seinen Aktivitäten haben.

Wir sind die Guten! Weiß doch jeder. Das ist die Hauptsache. Gelle?

RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Das Autoren-Team: 

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.  

Anmerkung der Autoren:

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