Meinung

Politischer Vatermord: Mit "Entkommunisierung" verliert Ukraine wichtigste historische Grundlage

Der Kommunismus ist in der Ukraine dem Nazismus gleichgestellt. Sowjetische Ortsnamen sind getilgt, Tausende Denkmäler vernichtet. Die Kampagne bedeutet nicht nur den Verzicht auf die Errungenschaften der Sowjetzeit. Sie stellt die Geschichte des Landes auf den Kopf.
Politischer Vatermord: Mit "Entkommunisierung" verliert Ukraine wichtigste historische GrundlageQuelle: Sputnik

von Wladislaw Sankin

Am 10. März 1921 sagte ein wichtiger Parteifunktionär auf dem X. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) in Moskau:

Und noch vor Kurzem wurde behauptet, die ukrainische Republik und die ukrainische Nation seien eine Erfindung der Deutschen. Indessen ist es klar, dass die ukrainische Nation existiert, und es ist die Pflicht der Kommunisten, deren Kultur zu entwickeln. Man kann nicht gegen die Geschichte anrennen. Es ist klar: Wenn auch in den Städten der Ukraine bis jetzt noch die russischen Elemente überwiegen, so werden doch diese Städte im Laufe der Zeit unvermeidlich ukrainisiert werden.

Jener Parteifunktionär war Josef Stalin, der damals in Sowjetrussland Volkskommissar für Nationalitätenpolitik war. Im folgenden Jahr, im Dezember 1922, gründeten die Bolschewiki die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (kurz UkrSSR) als Bestandteil der Sowjetunion. Die Politik der Ukrainisierung nahm ihren Lauf.

In der offiziellen ukrainischen Geschichtsschreibung gilt nun Stalin als Bösewicht Nummer eins, als angeblicher Schlächter des ukrainischen Volkes, der es mit Hungersnöten und Repressionen überzog, um die Ukrainer als Nation auszurotten. Auch wird der gesamte Sowjetkommunismus Stalin gleichgesetzt. Jegliche symbolische Hinterlassenschaft der "Sowjetherrschaft" wurde in den Jahren nach dem Staatsstreich im Februar 2014 auf das Penibelste entfernt – außer Sowjetbauten wie jenen auf dem Kiewer Prachtboulevard Kreschtschatik oder Industrie- und Infrastrukturobjekten wie dem berühmten Wasserkraftwerk DnjeproGES oder der Kiewer Metro.

Die gesetzliche Grundlage dafür, das Entkommunisierungsgesetz [analog zum Begriff "Entnazifizierung" ist mit die "Entkommunisierung" die Abschaffung der Überreste des Kommunismus in den postsowjetischen Staaten gemeint, Anm. d. Red.], wurde im Juli 2019 vom Verfassungsgericht für gültig erklärt – vier Jahre nach dessen Unterzeichnung durch den damaligen Präsidenten Petro Poroschenko. Die Bilderstürmer haben aber nicht so lange gewartet – bereits im Mai 2018 berichtete das Institut für nationales Gedenken über die verrichtete Arbeit: 987 bewohnte Orte und 52.000 andere Benennungen mit Sowjetbezug wurden umbenannt und 2.500 Denkmäler gestürzt oder demontiert, darunter alle im Land noch verbliebenen 1.500 Lenin-Denkmäler.

Dabei werden die ukrainischen Gesetzgeber selbst unmittelbar an ihrem Arbeitsplatz täglich mit der kommunistischen Vergangenheit konfrontiert: Das Prachtgebäude des ukrainischen Obersten Rates (Werchowna Rada) wurde im Jahr 1939, also mitten in der Stalin-Zeit errichtet. Nun werden viele Dekorelemente im Inneren verdeckt. So wurde das Riesengemälde "Die blühende sozialistische Ukraine" mit Spanndecken verdeckt. Die Vorschläge, das ganze Gebäude abzureißen, kamen bislang allerdings nur von den radikalsten Abgeordneten.

Das Tragen sowjetischer Symbolik ist trotz Ausnahmeregelungen de facto auch an Feiertagen wie dem Tag des Sieges am 9. Mai untersagt. Mit dieser neuen Realität haben sich Hunderte Teilnehmer der Feierlichkeiten in den ukrainischen Städten bereits vertraut gemacht, als sie von der Polizei  festgehalten oder von Nationalistengruppen angepöbelt wurden, weil sie sowjetische historische Militärunformen oder einfach nur rote Fahnen trugen.

Allerdings erscheint diese ganze Kampagne als böser Witz der Geschichte, wenn man bedenkt, dass es ausgerechnet Sowjetkommunisten der ersten Stunde waren, die das ukrainische Volk in den 1920er- und 30er-Jahren mit enormem administrativem Aufwand neben dem weißrussischen aus der Großnation der Russen herausgebrochen haben.

Sie verboten praktisch die Anwendung der traditionellen Selbstbezeichnung der künftigen Ukrainer als Kleinrussen (Malorossy) und setzten nationalistische Historiker und Philologen auf hohen wissenschaftlichen Posten ein, um die alternative Geschichte der Ukraine zu etablieren und Ukrainisch aus einem ländlich geprägten Dialekt in eine geformte Schriftsprache zu verwandeln. Auch eine neue ukrainische Identität sollte gestärkt werden – bei der Passvergabe sollten sich die Einwohner der Republik als "Ukrainer" und nicht als "Russen" eintragen lassen.

Die Dokumente aus der zweiten Hälfte der 1920er – der Hochphase der Ukrainisierung – lesen sich wie Rapporte von der nur wenige Jahren später erfolgenden Industrialisierung. Nur statt der Pläne für die vorzeitige Erfüllung der Produktionsvorgaben gab es Pläne für das Erlernen des Ukrainischen durch Staatsbeamte oder die Anzahl auf Ukrainisch gedruckter Bücher und Zeitungen. Beamte, die innerhalb weniger Monaten noch kein Ukrainisch sprechen konnten, wurden administrativ verfolgt.

Durch diese Turbo-Ukrainisierung wurden schnell Fakten geschaffen: Für Millionen Analphabeten wurde Ukrainisch und nicht Russisch zur ersten Schriftsprache, die sie beherrschten – und das trotz des Widerstandes weiter Teile der Bevölkerung, die nicht begreifen konnten, warum nun die russische Sprache und das Russischsein verpönt sein sollen. Eine staatlich subventionierte Hochkultur wurde geschaffen – ukrainisches Theater, ukrainische Oper und Literatur. "Es waren die Bolschewiki, die die ukrainische Kultur schufen", stellen heute ukrainische Historiker wie Konstantin Bondarenko fest.

Diese Ukrainisierung war kein Zufall und kein Missverständnis der Geschichte, sondern eine politisch gewollte und konsequent umgesetzte Maßnahme der Sowjetregierung, die im Rahmen der sogenannten Einwurzelung in allen Randgebieten des ehemaligen Russischen Reiches durchgesetzt wurde. Man wollte damit unter anderem den sogenannten großrussischen Chauvinismus bekämpfen, denn darin sahen die Bolschewiki die größte Gefahr. Deshalb galt es auch, das dreieinige Volk der Russen als Überbleibsel des Monarchismus in Russen (früher Großrussen genannt), Ukrainer (früher Kleinrussen) und Weißrussen aufzuteilen.

Einer der Apologeten der Ukrainisierung, Nikolaj Skripnik, der in den Jahren 1921–1927 abwechselnd Volkskommissar für Inneres und Justiz sowie Generalstaatsanwalt der Sowjetukraine und in den Jahren 1927–1933 Volkskomissar für Bildung war, betonte angesichts des Widerstandes gegen die Ukrainisierung immer wieder aufs Neue:

Die Ukrainisierung wurde und wird mit den entschiedensten Methoden durchgeführt. (…) Derjenige, der dies nicht versteht oder nicht verstehen will, kann von der Regierung nur als Konterrevolutionär oder als bewusster oder unbewusster Feind der Sowejtmacht betrachtet werden.

Der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko, der infolge der sogenannten Orangenen Revolution an die Macht gekommen war, huldigte dem Kommunisten im Jahr 2005 auf einem Lehrer-Forum wegen seiner Verdienste um die ukrainische Nation und reihte ihn in die Liste der größten "Vorfahren unseres Volkes" ein. Für Juschtscheko war die ukrainische Schule der direkteste Weg zur Errichtung der ukrainischen Nation.

Zehn Jahre später wurde auch Skripnik per Gesetz zum Diener jenes "verbrecherischen Regimes" erklärt. Die Gesetzmäßigkeit dieser Metamorphose hat noch im Jahr 1918 die deutsche Revolutionärin Rosa Luxemburg erkannt, als sie die Bolschewiki für ihre Nationalitätenpolitik kritisierte. Diese sei ein "trojanisches Pferd" der Konterrevolution gewesen. 

Sie haben durch diese Förderung des Nationalismus (…) den eigenen Feinden das Messer in die Hand gedrückt, das sie der russischen Revolution ins Herz stoßen sollten", schrieb sie in ihrer Schrift 'Zur russischen Revolution'.

Inwieweit und vor allem wie lange heutige ukrainische Nationalisten, die im Land zurzeit von der Außenpolitik über Gesetzgebung und Bildung bis zu den Sicherheitsorganen alle Bereiche dominieren, sich selbst und die Welt jedoch noch über die Grundlagen ihres Staates täuschen können, ist ungewiss. Denn wenn die Ideologie und das Wirken des Sowjetregimes so verbrecherisch sein sollten wie behauptet, warum sollten dann auch das Werk dieses "Regimes" – die Ukraine und der ukrainische Staat in seinen heutigen Grenzen – Bestand haben?

In der logischen Konsequenz geht die Gleichstellung des Sowjetkommunismus mit dem Nazismus so weit, dass sie die gesamte Grundlage des ukrainischen Staates inklusive mehrfacher Gebietserweiterungen nach Westen und Süden – die Krim eingeschlossen – juristisch nichtig macht; und davor warnen sogar einzelne Stimmen unten den Nationalisten selbst. 

Das "Tausendjährige Reich" wurde im Laufe seiner kurzen Geschichte kurzfristig größer, nach seiner Zerschlagung schrumpfte Deutschland auf die Grenzen der beiden Nachfolgestaaten. Als Entschädigung jener Länder, die unter der Besatzung der Nazis zu leiden hatten, verlor Deutschland einige Gebiete. Diese Grenzverschiebungen machte die damalige internationale Gemeinschaft der Sieger möglich. Was soll dann den ukrainischen Staat erwarten, wenn er eines Tages die internationale Gemeinschaft von der "Richtigkeit" seiner Entkommunisierungsgesetze überzeugt – mit allen daraus folgenden juristischen Konsequenzen bezüglich der historischen Ansprüche der Nachbarstaaten?

RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln. 

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.