Meinung

Ukraine: Warum es nach der Parlamentswahl keinen Bruch mit dem alten Machtsystem geben wird

Die Ukraine bekommt ein Parlament mit vielen neuen Gesichtern. Man redet sogar von einem Generationswechsel in der ukrainischen Politik. Das Erbe der Poroschenko-Regierung bleibt trotzdem unangetastet. Möglich ist das durch das System der "Verwaltung von außen".

von Wladislaw Sankin

Die Präsidentenpartei "Diener des Volkes" hat in der Ukraine die Wahlen zur Werchowna Rada (Oberster Rat), dem ukrainischen Parlament, klar gewonnen. Dank einer Vielzahl an Direktmandaten kann sie sogar ohne Koalitionspartner regieren. Da die Ukraine eine parlamentarisch-präsidiale Republik ist, waren vorgezogene Wahlen für den Präsidenten Wladimir Selenskij besonders wichtig. Er ist seit genau zwei Monaten offiziell im Amt.

Denn er will die Politik in seinem Land, wie es in den deutschen Medien heißt, "völlig umkrempeln" – zum Besseren, versteht sich: den Krieg in der Ostukraine beenden und vor allem korrupte Machtstrukturen von Grund auf erneuern. Nach wie vor liefert sich Selenskij einen verbalen Schlagabtausch mit seinem Vorgänger Petro Poroschenko, dessen eigenes Machtsystem sich derzeit in Auflösung befindet. Sogar in Russland gibt es unter den Politikern einige Optimisten, die glauben, dass Selenskijs Chancen auf eine grundlegende politische Wende in der Ukraine noch nicht verspielt sind.

Für Russland sind besonders die Fortschritte bei der friedlichen Lösung des Donbass-Konflikts und eine Verbesserung der Beziehungen zum Nachbarland wichtig. Die Lösung soll aber im Einklang mit den Minsker Abkommen unter Gewährung regionaler Sonderrechte für die Gebiete Donezk und Lugansk stehen. Auch die Rückabwicklung der bisherigen restriktiven Politik in humanitären Fragen zählt dazu. Die fortschreitende Zwangsukrainisierung sei keine innere ukrainische Angelegenheit, sagte der russische UN-Vertreter Wassili Nebensja bei einer Sitzung der UNO zum umstrittenen Sprachgesetz. 

Bevor wir uns die Frage stellen, ob diese Hoffnungen begründet sind, müssten wir zunächst betrachten, welche Parteien bzw. politische Kräfte überhaupt die besten Ergebnisse bei den Wahlen erzielt haben, und diese mit den Ergebnissen der vorherigen Parlamentswahlen vergleichen.

Im Jahr 2019 erzielten nach Auszählung von 90 Prozent der Stimmen die drei besten Ergebnisse die Partei des amtierenden Präsidenten "Diener des Volkes" mit 42,5 Prozent Stimmenanteil, die Oppositionsplattform "Für das Leben" von Juri Bojko und Wiktor Medwedtschuk mit knapp 13 Prozent und die Partei des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko "Europäische Solidarität" mit 8,6 Prozent.

Im Oktober 2014, als das Land nach dem Staatsstreich vorgezogene Wahlen abgehalten hatte, um die Früchte der "Revolution der Würde" zu festigen, bekamen die "Volksfront" des damaligen Premiers Arsenij Jazenjuk und der "Block Petro Poroschenko" jeweils rund 22 Prozent der Sitze, die Partei "Selbsthilfe" des Oberbürgermeisters von Lwow Andrej Sadowoj bekam elf Prozent.

Dabei existierten die jeweiligen Gewinnerparteien beide Male bei den vorherigen Wahlen in dieser Form noch gar nicht, außer die Partei von Petro Poroschenko. Aber auch diese Partei hatte an den Wahlen 2012 nicht teilgenommen, obwohl die vom Großunternehmer unter dem Namen "Solidarität" gegründete Partei bereits seit dem Jahr 2001 existierte. Im Zeitraum von 2004 bis 2013 ließ Poroschenko seine Partei allerdings ruhen. Kurz vor dem Staatsstreich entging sie nur knapp der Auflösung wegen zu langer Untätigkeit.

Auch Juri Bojko, der Vorsitzende der "Oppositionsplattform", führte im Jahr 2014 den "Oppositionsblock" an. Diesen gibt es noch, nur mittlerweile mit anderen bekannten Gesichtern der einstigen "Partei der Regionen" als Vorsitzenden. In den letzten Jahren schrumpfte sie zu einer Art Spoiler-Partei und einer Art "Franchise" des Milliardärs Rinat Achmetow. Sie hat diesmal mit 3,2 Prozent den Einzug in die Werchowna Rada verfehlt.

Derzeit gibt es in der Ukraine keine politischen Parteien im eigentlichen, gewohnten Sinne – also mit einer langen Geschichte, fester Ideologie und gewachsenen Strukturen. Es sind vielmehr für kurze Zeit zusammengeschmiedete Interessen- und Lobbygruppen um bekannte Personen – Unternehmer, Politiker, Beamter, Sportler, Sänger, Schauspieler und zuletzt mit der Scharij-Partei auch Blogger. In dieser Art einer brownschen Bewegung der Werchowna Rada sind Geld und Macht die eigentlichen Triebkräfte, die dem ganzen System Struktur und Festigkeit geben.

Was aber über Jahrzehnte bleibt, sind die Strukturen der Oligarchie und der sogenannten "Außenverwaltung". Während des Staatsstreiches im Jahr 2014 und danach traten diese Kontrollmechanismen nur deutlicher als sonst zutage. Es waren ausgerechnet etablierte Oligarchengruppen und westliche Akteure, die mit den Alleingängen des Präsidenten Wiktor Janukowitsch nicht mehr zufrieden waren. Bevor er verfassungswidrig mittels eines bewaffneten Aufstands aus dem Amt entfernt wurde, haben sie ihn mit ihren Medien und gut bezahlten "Aktivisten" in den Augen der Öffentlichkeit delegitimiert.

Nach Ansicht des ukrainischen Historikers und bekannten Politologen Konstantin Bondarenko haben ukrainische Eliten trotz der engen Anbindung der ukrainischen Wirtschaft an Russland und der Nutzung des Russischen als Geschäftssprache noch in den 1990er Jahren die strategische Entscheidung getroffen, die ukrainische Souveränität an den Westen zu verkaufen. Sie waren mit der Rolle der "Kolonialverwalter" recht zufrieden. Der antirussisch ausgerichtete Nationalismus war und ist dabei nur ein Mittel zum Zweck der Entfernung von Russland. Diese Rolle entpuppt sich allerdings langsam als Fluch, so der Experte.

Auch nach der Wahl Selenskijs wird die Entfremdung von Russland nicht in Frage gestellt. Die Ukraine habe mit Russland nur die Grenze gemeinsam, schrieb der neue Präsident einmal auf Facebook. Und es ist womöglich nur eine Illusion der russischsprachigen Wähler Selenskijs im Südosten, dass er das drakonische Sprachgesetz rückgängig machen könnte, das dem Ziel der Ausmerzung der russischen Sprache dient. Es wurde am Ende der Legislaturperiode Poroschenkos verabschiedet und ist in der Amtszeit Selenkskijs ohne jeglichen Widerstand seinerseits auch in Kraft getreten.

Seine erfolgreichen Comedy-Projekte "Stadtviertel 95" und "Diener des Volkes" haben dabei ausdrücklich russischsprachig funktioniert. Kein Wunder deshalb, dass sein Team untereinander größtenteils Russisch spricht und der Präsident selbst das Gesetz innerhalb weniger Tage mehrmals vor laufenden Kameras verletzt hat, indem er Lokalbeamte auf Russisch gerügt hat. Die Strafe für eine einmalige Verletzung des Gesetzes ist für einen Staatsbediensteten höher als ein monatlicher Mindestlohn.

Während der Dollarmillionär Selenskij diese Strafe regelmäßig zahlen könnte, kann es sich keine Lehrerin oder kein kleiner Beamter erlauben, dieses Gesetz zu verletzen – jeder Lehrer des Landes bekam vor Beginn des Schuljahres einen Merkzettel mit einer Auflistung der geahndeten Vergehen und der für sie angedrohten Strafen. Russisch ist demnach nicht nur in Pausenräumen und auf Schulfluren untersagt, sondern auch ganz allgemein im öffentlichen Raum.

Auch die Drohungen aus dem Selenskij-Umfeld gegen Poroschenko und seine Beamten, wirksame Strafverfahren gegen sie einzuleiten, sind deshalb vermutlich nur Rhetorik. Möglich ist höchstens eine symbolische Verhaftung Einzelner wegen Wirtschafts- oder Korruptionsdelikten. Ermittlungen und Gerichtverfahren zu solch schweren Verbrechen wie den Morden auf dem Maidan, dem Abschuss des malaysischen Flugzeugs MH17, dem Pogrom in Odessa, den Morden an Journalisten und Politikern, der Anwendung der Artillerie und der Luftwaffe gegen die Zivilbevölkerung im Donbass – all das wird auch unter Selenskij nicht stattfinden. Denn die Resultate solcher Verfahren würden zwangsläufig Fragen zur politischen Verantwortung größerer Teile der derzeitigen ukrainischen Eliten aufwerfen.

Und das ist auch nicht in US-amerikanischem Interesse. Die USA haben nicht vor, sich aus der Ukraine zurückzuziehen, unabhängig davon, wer in Washington oder in Kiew gerade regiert. Der US-Sondervertreter für die Ukraine Kurt Volker hat sich kurz vor den Präsidentschaftswahlen auch so geäußert.

Die USA sind langfristig hier, um die friedliche, starke, demokratische, blühende, sichere Ukraine zu unterstützen, die danach strebt, ihre Grenzen und ihr Territorium einschließlich der Krim völlig wiederhergestellt zu sehen", schrieb er auf Twitter.  

Derzeit befinden sich auf dem ukrainischen Territorium bis zu 1.000 US-Militärs und Berater, die mit dem Aufbau der Militärinfrastruktur für Zwecke der US- und NATO-Armeen betraut sind. Auch Präsident Selenskij und sein Team bleiben mit US-Diplomaten in ständigem Kontakt, um mit ihnen über "Reformen und die russische Aggression" zu sprechen. Und US-Senatoren oder Gäste wie US-General David Petraeus besuchen weiter regelmäßig das Land. Nicht nur das ukrainische Militär, auch die Medien und das Wahlsystem werden durch ein weitverzweigtes Netz aus gut finanzierten US-amerikanischen NGOs de facto kontrolliert.

Unter solchen Verhältnissen ist in der Ukraine nur eine Fassaden-Demokratie möglich, in der Oppositionsparteien ungefährlich bleiben. Im neuen Parlament sind alle Parteien – bis auf die Oppositionsplattform "Für das Leben" mit knapp 13 Prozent der Sitze – nicht nur prowestlich, sondern auch betont proamerikanisch. Der Beitritt der Ukraine zu NATO und EU ist vom scheidenden Parlament in der Verfassung festgeschrieben worden. Die ständigen Konsultationen mit den US-amerikanischen Kuratoren und Vertretern der Hochfinanz gelten in den ukrainischen Medien nicht als Zeichen der Abhängigkeit, sondern als "Unterstützung".

Dabei wird jeder Versuch der Oppositionsplattform, mit den Aufständischen im Donbass oder mit Russland in direkten Kontakt zu treten, mit dem Ziel, einen dauerhaften Frieden zu etablieren, nicht nur kritisiert und sabotiert, sondern auch durch Androhung von Gewalt unterbunden. Der Beschuss des Fernsehsenders 112 Ukraine mit einem Granatwerfer wegen der geplanten Ausstrahlung des von Oliver Stone produzierten Dokumentarfilms "Ukraine aufgedeckt" sowie die Belagerung des TV-Kanals NewsOne durch Nationalsiten wegen einer Live-Schaltung nach Russland sind die jüngsten Beispiele dafür, wie das System der Einschüchterung funktioniert.

Beide Fernsehprojekte mussten von den jeweiligen Direktoren abgesagt werden. Präsident Selenskij verlor über diese beiden Zwischenfälle kein einziges Wort. Damit agieren die nationalistischen Korps, die Anführer der ultrarechten Parteien und die sogenannte "patriotische Öffentlichkeit", die in sozialen Medien mit Hasskommentaren den Ton angibt, wie ein inoffizielles "Kontollgremium", das im Land darüber entscheidet, was richtig und was falsch ist. 

Nichtsdestotrotz gehen immer mehr Experten in der Ukraine davon aus, dass Selenskijs Regierung mittelfristig die Demontage des derzeitigen Systems einleiten könnte, indem sie es ad absurdum führt. Der Nachfolger Selenskijs wird laut dem Politologen und Moderatoren des Internet-Kanals Perschy Kasazky Sergej Semaschko der Totengräber des Systems sein. 

Bei aller Begrenztheit ihres derzeitigen Einflusses, der sich auf die Abgabe ihrer Stimme in der Wahlkabine beschränkt, wird für die ukrainischen Bürger immer offensichtlicher, dass der offizielle "patriotische" Diskurs mit ultranationalistischem Beigeschmack und einer einseitigen und weder geschichtlich noch wirtschaftlich plausibel begründeten transatlantischen Ausrichtung nichts außer Konflikten und Zerstörung bringt.

Die Rückkehr des umtriebigen und – trotz aller Angriffe gegen seine Person – einflussreichen Politikers und Unternehmens Wiktor Medwedtschuk mit seinem Projekt Oppositionsplattform in die Werchowna Rada ist ein Zeichen dafür. Er wird dabei nicht nur von russischen Politikern und Medien hofiert. Auch im Westen erregt Medwedtschuk mit seiner politischen Kraft immer mehr Aufmerksamkeit – Interviews in führenden westlichen Mainstreammedien und Hintergrundgespräche mit dem Mann, dessen Vetter der russische Präsident Wladimir Putin ist, sind ein Anzeichen dafür.

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