Russlands "Neue Bundesländer": Der Maidan und die Zeit danach aus der Sicht der Krim
von Paul Loewe
"Als die Ereignisse im Februar 2014 auf dem Maidan eskalierten, befand ich mich gerade in Kiew – und zwar in unmittelbarer Nähe des Kreschtschatik, der zum Maidan führt, weil ich in der deutschen Botschaft ein Visum beantragen wollte." Ich sitze mit Anna in einem Café in Simferopol, der Hauptstadt der Krim. Vor anderthalb Monaten hatte ich die junge, im Zentrum der Krim geborene und seit fünf Jahren in Deutschland verheiratete Russin während einer Zugfahrt durch Bayern kennengelernt.
"An diesem Tag arbeiteten dort nur noch die 'Locals', ihre deutschen Vorgesetzten hatten sich alle verzogen. Ich sah den Rauch und hörte die Schüsse. Ich fragte den Wächter vor der Botschaft, was los sei. Daraufhin wollte er von mir wissen, woher ich käme. Als er hörte, von der Krim, war seine Antwort, ich würde sowieso nichts verstehen! – Meine Mutter war gegen diese Reise gewesen. Erst danach erfuhren wir jedoch, wie gefährlich es war! Später kam es sogar vor, dass russische Krimbewohner in die Zentralukraine fuhren – und nicht mehr zurückkamen! Sie waren Opfer ukrainischer Nationalisten geworden. Und als diese dann in Zügen oder Bussen auf die Krim wollten, wurden sie an der Grenze von der lokalen Bevölkerung daran gehindert.
"Jetzt erst tun sie was für uns!"
Die berühmten 'höflichen grünen Männchen ohne Nationalitätenabzeichen' habe ich in Simferopol selbst gesehen. Sie standen hier, ausgestattet mit richtig großen Maschinengewehren auf der Ulitsa Karla Marxa. Mir machten sie keine Angst, fast alle hier wussten Bescheid und fühlten sich erleichtert. Ich sah sogar, wie eine Frau ein Foto von ihrem Kind neben einem 'höflichen grünen Männchen' machte. Und wenn wir damals vor etwas Angst hatten, dann garantiert nicht vor den Russen! Im Westen ist nur wenigen bewusst, wie schnell es hier zu einem Bürgerkrieg mit den Tataren hätte kommen können.Deren nationalistische Organisation 'Medschlis' wurde seit den neunziger Jahren von der Türkei unterstützt. Zu Zeiten des Maidan arbeitete sie mit Kiew zusammen. Die Tataren wollten die Situation nutzen, ihren alten Traum zu verwirklichen, die Krim wieder zu einer tatarischen Republik, zum unabhängigen 'Khanat der Krim' zu machen.Hier in Simferopol hatte es parallel zum Maidan bereits Demonstrationen gegeben, wo beide Seiten sich feindlich gegenüberstanden! Durch die Anwesenheit der 'höflichen grünen Männchen' – davon sind wir überzeugt – wurde hier auf der Krim ein Bürgerkrieg verhindert. Beim Referendum am 16. März war hier ganz Simferopol auf den Beinen, besonders die Babuschkas und Deduschkas, die noch die Zeiten in der Sowjetunion erlebt hatten, als die Krim noch zu Russland gehörte! Seit 20 Jahren hatten wir alle auf dieses Referendum gewartet."
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Grundsätzlich sieht Anna die Entwicklung seit dem Beitritt der Krim zur Russischen Föderation positiv. "Endlich geht es jetzt hier voran! Nun wird in die Infrastruktur investiert und es herrscht auch mehr Ordnung. Die Korruption beispielsweise wird jetzt schärfer bekämpft! Auch wird jetzt darauf geachtet, dass immer mehr Unternehmen und Geschäfte ihre Steuern zahlen. Das gefällt natürlich nicht allen – übrigens auch vielen Ärzten nicht! Die haben mit Korruption früher viel Geld verdient. Auch einige Händler sind unzufrieden, weil die Lizenz zum Alkoholverkauf in der Ukraine viel billiger war." Dennoch hat Anna zum Eingreifen Russlands eine ganz spezielle Meinung: "Jetzt erst, wo es ihnen geopolitisch in den Kram passt, tun sie was für uns! Vorher haben sie uns jahrzehntelang alleine gelassen!"
"Wir fühlen uns jetzt beschützt"
Am nächsten Tag sitze ich mit Anna und ihren Eltern, beide Rentner, in deren Mitsubishi. Wir sind auf dem Weg ins circa 70 Kilometer nordwestlich entfernte Jewpatoria am Schwarzen Meer. Am Stadtrand Simferopols viele neue hohe Gebäude, alle in den letzten Jahren erbaut. Ein besonders großes sticht ins Auge. "Das ist unser neues Krankenhaus mit 700 Betten für die gesamte Region", bemerkt Annas Vater stolz. "Innerhalb eines Jahres wurde es aus dem Boden gestampft!" Überhaupt, je länger wir durch die steppenartige Landschaft Richtung Meer fahren, desto stärker springen die Arbeiten an der Infrastruktur ins Auge: Fast überall Straßenerweiterungen oder Straßenneubau. Dies wird mich noch die gesamten zweieinhalb Wochen meines Aufenthaltes auf der Krim begleiten.
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Wir überqueren eine Brücke, unter der eine größere Rohrleitung verläuft. "Das war seit den siebziger Jahren die Wasserversorgung aus dem Dnjepr für unsere wasserarme Krim. Die Ukrainer blockieren nun diese Leitung", erläutert Annas Mutter. Mit gravierenden Folgen für die Krimbevölkerung. Im besonders niederschlagsarmen Spätsommer 2018 trocknete zum Beispiel im Nordwesten der Krim in der unmittelbar an der Grenze gelegenen Kleinstadt Armjansk ein 30 Millionen Kubikmeter fassender offener Säurespeicher aus, in den die örtliche Chemiefabrik "Krymskij Titan" seit Jahren giftige Abwässer eingeleitet hatte. Der Wind wehte Schwefeldioxydwolken in die Stadt. Schulen und Kindergärten mussten für zwei Wochen geschlossen werden, 4.000 Menschen wurden zeitweise evakuiert.
Wie es ihnen jetzt geht, fünf Jahre nach dem Beitritt der Krim zur Russischen Föderation, möchte ich von Annas Eltern wissen. Wir sitzen in einem gemütlichen tatarischen Café im Stadtzentrum von Jewpatoria bei türkischem Mokka und orientalischen Süßigkeiten, nachdem wir zuvor in einem unweit entfernten karäischen Restaurant – Karäer sind ein Turkvolk jüdischen Glaubens, das hauptsächlich auf der Krim lebt – zu Mittag gespeist hatten. "Wir fühlen uns nun beschützt", meint der Vater. "Die Renten werden jetzt von Russland ausgezahlt. Die Preise haben zwar angezogen, unser Lebensstandard ist trotzdem etwas höher, weil jetzt Teile der Gesundheitssystems wieder kostenlos sind." Auch er betont, dass es nun mehr Ordnung gebe. "Allerdings dürfen wir Krimbewohner nun mit unseren russischen Pässen nicht mehr in die EU einreisen! Im Gegensatz zu den Russen aus den anderen Regionen unseres großen Landes."
Inkonsistenzen westlicher Russlandpolitik
Das ist in der Tat so und verweist auf eine der vielen Inkonsistenzen westlicher Russlandpolitik, die so ins Auge springt, dass sie auch anderweitig schon mehrfach beschrieben wurde: Wenn die Krimbewohner – so die westliche Lesart – Opfer einer Annexion (also einer gewaltsamen Landnahme) durch Russland geworden sind, warum werden sie dann dafür auch noch bestraft? Auch Städtepartnerschaften, wie zum Beispiel die zwischen Simferopol und Heidelberg oder Baden-Baden und Jalta, oder Kontakte der Kriegsgräberfürsorge liegen nun auf Eis, weil die Krimbewohner offiziell nicht mehr nach Deutschland dürfen und die deutschen Honoratioren sich aus politischen Gründen nicht auf die Krim trauen.
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Allerdings: Es gibt bekanntlich keine Regelung, die sich nicht irgendwie umgehen ließe – so auch hier! Wer von den Krimbewohnern beispielsweise noch einen ukrainischen Pass besitzt, lässt sich in Kiew einen neuen biometrischen Reisepass ausstellen und kann dann über die Ukraine sogar ohne Visum bis zu drei Monaten in die EU reisen, weil hier seit Juni 2017 ein visafreier Grenzverkehr gilt. Oder man meldet mit einigen Tricks seinen ersten Wohnsitz in einer anderen Region Russlands an – außerhalb der Krim – und beantragt dort einen neuen Pass, nachdem man den alten 'verloren' hat. In Russland gibt es mittlerweile einen regelrechten Wirtschaftszweig, der den Krim-Bewohnern zur 'legalen' Einreise in den Schengen-Raum verhilft. – Irgendwie werden es auch Annas Eltern schaffen!
Nach Simferopol zurückgekehrt, stelle ich fest, dass natürlich auch andere Aspekte des Sanktionsregimes umgangen werden können. So gibt es zum Beispiel dort eine Renault-Repräsentanz, einen H&M-Laden und Ikea ist selbstverständlich ebenfalls vertreten. Das Prinzip ist ganz einfach: Die Waren werden vom russischen Festland auf die Halbinsel gebracht und dort verkauft. Oder man bestellt sie, wie die Produkte des schwedischen Möbelhauses, über einen Vermittler. Sie werden dann mit einem zehnprozentigen Aufpreis ins Haus geliefert.
Nach vier Tagen Hauptstadt der Krim will ich es endlich wissen: Ich möchte jetzt ins richtige Arkadien, zur berühmten Südostküste am Schwarzen Meer. Natürlich als erstes ins 80 Kilometer entfernte Jalta. Mit der längsten Trolleybuslinie der Welt.
(Fortsetzung folgt)
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