Meinung

Putins Schachzüge in der Ukraine

Nach dem russischen Dekret über die erleichterte Einbürgerung der Menschen in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk wurden umgehend Vorwürfe der "schleichenden Annexion" der Region laut. Putins Schachzug zielt aber auf etwas ganz anderes ab.
Putins Schachzüge in der UkraineQuelle: Reuters © Anton Vaganov

von Zlatko Percinic

Der russische Präsident Wladimir Putin ist dafür bekannt, dass er langfristig denkt und seine Pläne entsprechend ausrichtet. Das steht im krassen Gegensatz zu den westlichen Ländern und ihren Regierungen, die sehr oft nur von Legislaturperiode zu Legislaturperiode planen. Entsprechend gibt es Unterschiede in der Wahrnehmung von Geschehnissen, bei denen das eigentliche Ziel nicht offensichtlich ist und der Zug nicht nachvollziehbar erscheint.

Es ist wie beim Schach: Es sind die unerwarteten und überraschenden Züge, die am Ende zum erhofften Ergebnis führen. Man kann sich zwar eine Strategie ausdenken, aber man muss genauso gut auf die Reaktionen reagieren können und darf das Ziel nie aus den Augen lassen.

Das jüngste Beispiel ist das neue russische Dekret, das den bereits existierenden Einbürgerungsprozess für Menschen aus den selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk erleichtern soll. Diese Forderung gibt es schon lange, und es wurde eigentlich erwartet, dass die russische Regierung diese Erleichterung schon früher verabschiedet. Dass das jetzt passiert ist, nur drei Tage nach der Wahl eines neuen Präsidenten in der Ukraine, ist kein Zufall.

Noch während die Wahl von Wladimir Selenskij als demokratisches Musterbeispiel gefeiert wird – nachdem man ihm zuvor noch misstraut und Deutschland sich offen hinter Poroschenko gestellt hatte –, erhöht Moskau mit diesem Dekret den Druck auf die Ukraine und ihre Unterstützer. Diese Maßnahme hat nichts mit einer "schleichenden Annexion" zu tun, wie manche Kommentatoren behaupten. Hätte Putin das gewollt – wie es sehr viele Menschen in den "Volksrepubliken" gefordert haben –, dann hätte er es schon längst getan.

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Stattdessen hat Russland bis zum heutigen Tag nicht einmal das aus Sicht Donezks und Lugansks "politische Minimum" getan und die "Volksrepubliken" anerkannt, wie es zum Beispiel mit Abchasien oder Südossetien der Fall war. Wäre diese Anerkennung erfolgt, hätte es den Menschen und den Regierenden viele Probleme (Zahlungsverkehr, Wirtschaft, Tourismus) erspart, die durch die totale ukrainische Blockade entstanden sind. Zudem wäre dieses Dekret vom 24. April nicht notwendig gewesen.

Was Putin mit dem Zeitpunkt und dem Dekret bezweckt, ist genau das Gegenteil dessen, was FDP-Bundestagsabgeordnete Renata Alt in ihrem Tweet behauptet:

Russland war und ist nach wie vor an einer Beendigung des Ukrainekrieges interessiert. Frau Alt hat allerdings recht damit, dass die Minsker Vereinbarungen "stillstehen". Das liegt aber nicht an Russland, sondern an der ukrainischen Regierung und deren Garantiemächten Deutschland, Frankreich und Polen. Sogar der schon nahezu aus dem Amt gejagte Präsident Poroschenko gab in seinem Gastkommentar in der FAZ vom 13. Oktober 2016 zu, dass Russland "auf eine politische Lösung und Lokalwahlen vor allen anderen Schritten dringt". Das ist genau das, was in dem 13-Punkte-Plan des sogenannten Minsk-II-Abkommens vom 12. Februar 2015 vereinbart wurde, nebst der bereits im Minsk-I-Abkommen vereinbarten ukrainischen Verfassungsänderung bis Ende 2015.

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Und es war wiederum Poroschenko, der im vergangenen Jahr sagte, dass es "kein Minsk gibt", nur um die Ultranationalisten zu besänftigen, die die Umsetzung der Minsker Abkommen als "Verrat" und allein schon deren Unterzeichnung als "Kriegsverbrechen" bezeichneten. Dabei soll es Bundeskanzlerin Angela Merkel höchstpersönlich gewesen sein, die den ersten Entwurf des Minsk-II-Abkommens geschrieben hatte, wie es der ehemalige französische Präsident François Hollande in seinen Memoiren schrieb.

Dennoch wurde und wird immer wieder Russland vorgeworfen, die Minsker Abkommen nicht zu würdigen oder nicht umzusetzen, was angesichts der ukrainischen Haltung völlig absurd ist.

Der russische Präsident hält nach wie vor an der Umsetzung fest. Das Dekret zur Erleichterung der Einbürgerung, ist als Zeichen an den frisch gewählten Präsidenten Selenskij und die Regierungen in Berlin, Paris und Warschau (und Washington) zu verstehen, diesen "stillstehenden" Minsker Prozess wieder in Gang zu bringen. Zumal Selenskij selbst angekündigt hatte, den Krieg mittels "Diplomatie, Wirschaftswachstum und der Stärkung der Armee" zu beenden und außerdem mit Poroschenkos Haltung zu brechen, die Milizen der Volksrepubliken als Terroristen zu bezeichnen. Er wolle sie stattdessen Rebellen nennen.

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Auch Wiktor Medwedtschuk, ein ukrainischer Geschäftsmann und Politiker mit engen Verbindungen nach Moskau, meinte in einem langen Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters kurz vor der Stichwahl, dass mit einem neuen ukrainischen Präsidenten eine Wiedereingliederung der abtrünnigen "Volksrepubliken" möglich ist. Voraussetzung sei allerdings eine Abschwächung der antirussischen Rhetorik vonseiten Selenskijs und die Wiederaufnahme von Gesprächen zwischen Kiew und Moskau. Im Gegenzug erwägt Wladimir Putin die Freilassung der 24 inhaftierten ukrainischen Marinesoldaten, die nach dem provozierten Zwischenfall in der Straße von Kertsch im November 2018 festgenommen wurden.

Im Grunde ist das Dekret Zuckerbrot und Peitsche zugleich. Eine Wiedereingliederung der "Volksrepubliken" in die nationale Souveränität der Ukraine – unter Gewährung von Autonomierechten, wie im Minsker Abkommen vorgesehen – liegt im nationalen Interesse Russlands, weil sich Moskau davon eine Normalisierung der Beziehungen zum Westen erhofft. Gleichzeitig haben bewaffnete Kämpfer, Behörden und "Regierungsvertreter" die Möglichkeit, mit einem russischen Pass einer allfälligen Strafverfolgung durch die ukrainische Regierung zu entkommen, sollte Kiew keine politische Amnestie im Wiedereingliederungsprozess für bestimmte Gruppen gewähren wollen.

Die Peitsche ist die implizite Sicherheitsgarantie für die Menschen in den "Volksrepubliken", da man in Russland mit Hunderttausenden Anträgen für das vereinfachte Einbürgerungsverfahren rechnet. Damit wären die Betreffenden russische Staatsbürger im Ausland, deren Schutz zur offiziellen Staatsräson der Russischen Föderation gehört. Falls Selenskij sich mit seinen erst vage geäußerten Vorstellungen zur Beendigung des Krieges nicht durchsetzen kann und stattdessen zu einer militärischen Offensive greift, wie es die Nationalisten und einige Militärs fordern, wäre Moskau verpflichtet, ihnen zu Hilfe zu eilen.

Der Druck auf Selenskij hat bereits erste Reaktionen hervorgerufen. Polens Ex-Präsident Aleksander Kwaśniewski sagte am Freitag, dass er sich eine Woche vor der Stichwahl zusammen mit Carl Bildt, Anders Fogh Rasmussen und Pat Cox – alles ehemalige ranghohe Minister und Unterstützer der "Maidanrevolution" – mit dem damals noch führenden Präsidentschaftskandidaten getroffen haben. Dabei soll Selenksij gesagt haben, dass er sich nicht allein mit dem "politischen Raubtier" Putin treffen, sondern nur gemeinsam mit Emmanuel Macron und Angela Merkel im Normandie-Format vor den russischen Präsidenten treten wolle. 

Am nächsten Tag reagierte Wladimir Putin am Rande der "Seidenstraßekonferenz" in Peking darauf und meinte, dass er ein Treffen mit dem frisch gewählten Präsidenten der Ukraine nicht ausschließe. Es müsse über den Friedensprozess in der Ostukraine gesprochen werden, und er würde gerne mit Selenskij über dessen Haltung zum Minsker Abkommen diskutieren. Angesichts der Verabschiedung des neuen Gesetzes "Über die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der ukrainischen Sprache als Staatssprache" durch das ukrainische Parlament, das auf die Verbannung der russischen Sprache – und allen anderen Sprachen – aus dem Alltag abzielt, meinte Putin in Peking, dass man die Möglichkeit überprüfe, die russische Staatsbürgerschaft auch allen anderen Menschen in der Ukraine anzubieten, die diese Möglichkeit gerne in Anspruch nehmen möchten. Selenskij wird auch in seinem Urlaub in der Türkei diese Nachricht verstanden haben, dass die Zeit gekommen ist, wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

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